Die „arabische Seele“ ist schlecht auf die Verunsicherungen der
modernen Welt eingestellt. Starke religiöse Prägung verhindert einen
offenen und distanzierten Blick auf verschiedene Lebenswirklichkeiten.
Viele Muslime sind gefangen in aus westlicher Sicht überkommenen
Familien- und Geschlechterbildern und haben bei Konflikten kaum
Lösungsstrategien, sondern reagieren mit Angst. Dies ist die Sichtweise
des Psychotherapeuten und Autors Dr. Burkhard Hofmann – eine Sichtweise,
die er im Buch „Und Gott schuf die Angst“ ausführlich darstellt.
Frage: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Dr. Burkhard Hofmann: Ich behandle seit zehn Jahren regelmäßig
Patienten in den Golfstaaten und fliege regelmäßig für Therapiesitzungen
dorthin. Dass Angst bei den Therapiesitzungen ein so
überdurchschnittlich oft wiederkehrendes Thema war, hat mich überrascht.
Vieles war insgesamt verstörend. Um mich, quasi in einem Akt der
Selbsthygiene, von dieser Verstörung lösen zu können, habe ich das, was
ich erfahren habe, in Form von Sitzungsprotokollen aufgeschrieben.
Daraus ist dann ein Buch geworden.
Worin besteht die arabische Angst?
Hofmann: Angst haben alle Menschen – und die größte Angst ist die vor
dem Tod. Alle Religionen, ob der Islam oder das Christentum oder das
Judentum, versuchen ja letztlich, diesem Trauma etwas entgegenzusetzen.
Durch Tröstung, Sinnstiftung. Und natürlich durch eine
Jenseitsverheißung. Jetzt entsteht aber dadurch, dass Religion
Vorschriften macht und durchaus auch mit schrecklichen Strafen beim
Nichtbefolgen droht – Stichwort: Hölle – neue Angst. Also ist bei
Religion der Ausgangspunkt die Angst und auf dem Rückweg entsteht wieder
Angst. Ich habe beobachtet, dass gerade bei meinen arabischen Patienten
die Angst vor der Hölle sehr stark ist.
In der Gedankenwelt eines gläubigen Muslims spielt offenbar der
Umstand, dass jede Mutter die Macht hat, ihren Kindern das Himmelreich
zu verwehren, eine große Rolle. Können Sie das erklären?
Hofmann: Es ist bei Muslimen kulturfremd, Bindungen zur Familie zu
lösen, aus dem System Familie auszubrechen. Es gibt einen Hadith, der
besagt, das Paradies liege zu Füßen der Mutter. Ich selbst bin
sicherlich kein Koranexperte, kann aber sagen: Meine Patienten verstehen
diesen Satz dahingehend, dass die eigene Mutter dem Gläubigen den
Zugang zum Himmel verwehren kann – selbst wenn Allah den Gläubigen
aufnehmen würde.
Die Araber, mit denen Sie gesprochen haben, fürchten also, dass
sie in dem Moment, wo sie sich von der Mutter lossagen oder nur lösen,
das ewige Leben verspielen?
Hofmann: So wurde es mir vermittelt. Bei uns im Westen ist die
Loslösung von der Herkunftsfamilie etwas Wichtiges, was im Zuge des
Erwachsenwerdens passieren sollte. Im Mittleren Osten ist die Loslösung
von der Familie, die Emanzipation von dem, was Familie erwartet, kaum
möglich. Weshalb Muslime oft in Familienverbänden unterwegs sind und
einzelne Mitglieder der Familien oft sehr unselbstständig bleiben, auch
im Erwachsenenalter. Arabische Familien sind zusammen und bleiben häufig
zusammen. Das ist einerseits etwas Wunderbares: Man ist nie allein; hat
Unterstützung bei Krankheit, Leiden und Tod. Gleichzeitig ist dieser
Zwang zum Zusammensein aber auch bedrückend, weil man nie zu sich kommt,
nie in Loslösung von der Familie reifen kann.
Das sogenannte Separationsverbot oder auch Trennungsverbot ist
also eine Ursache der Angst, weil die Notwendigkeit, sich mit der
Familie und gerade mit der Mutter gut zu stellen, eine Vorbedingung fürs
Paradies ist. Und schafft man das nicht, kommt Angst auf.
Hofmann: Nahezu jeder Patient, der durch die Tür kam bei mir, kam mit
einer Angst-Symptomatik. Viele berichteten von Psychopharmaka, die sie
gegen die Angst nahmen; berichteten von Abhängigkeit von Suchtstoffen.
Wenn ich die Mutter nicht klar und schonungslos in den Blick nehmen
darf, dann habe ich Mühe, in mir ein Mutterbild zu schaffen, das
zutreffend ist. Dabei ist es aus westlicher Sicht wichtig, für den
Reifeprozess, realistische Bilder beider Elternteile zu entwickeln. Auch
hier in unserem Kulturkreis ist diese Aufgabe nicht einfach; denn um
zur inneren Wahrheit zu gelangen, bedarf es einer gewissen inneren
Schonungslosigkeit. Es bedarf der Distanzierung. Aber für einen Menschen
aus dem arabischen Kulturkreis ist es ungleich härter und
angstbesetzter, diese Auseinandersetzungsprozesse durchzustehen.
Sie stellen bei arabischen Männern einen „Mangel an Struktur“
fest, der oft zu einem gesteigerten Risiko-Verhalten wie Drogen,
Alkohol, Wettfahrten führt. Wie kommt das?
Hofmann: Zu distanzierte Elternliebe führt oft dazu, dass im
Erwachsenenleben ein gutes Selbstbild fehlt. Eine liebevolle und
bergende Elternliebe dagegen erzeugt im Kind Selbstliebe und
Selbstverankerung. Und diese Verankerung in sich selbst ist ja letztlich
das wichtigste Werkzeug eines jeden Menschen gegen die Angst im Leben.
Es ist in der Mittel- und Oberschicht üblich, Kinder rund um die Uhr
durch eine asiatische Nanny betreuen zu lassen, die dem Kind dienen, es
aber nicht lieben. Sie verwöhnen letztlich die Kinder – und verwöhnte,
strukturarme Kinder halten dann im Erwachsenenalter wenig aus. Weshalb
sie schnell anfangen, ihre Verunsicherung, ihre Ängste zu betäuben mit
Drogen etwa oder bei Wettfahrten oder anderen Risikoaktivitäten. Männer
haben zu Letzterem mehr Gelegenheit als Frauen.
Sie sagen, der Glaube führt dazu, dass arabische Seele schlecht auf Globalisierung vorbereitet ist.
Hofmann: Viele Patienten befinden sich in einer zum Teil mit großer
Anstrengung aufrechterhaltenen Glaubensgewissheit. Aber der Verlust
droht; davor haben sie Angst. Im Westen haben wir viele
Glaubensüberzeugungen losgelassen, viele von uns leben in einer
postreligiösen Zeit. Das färbt uns eher depressiv. Vor dem Verlust habe
ich Angst, nach dem Verlust die Trauer. Hierzulande lebt jeder mit einem
Stück Unglauben; das macht geistig beweglich. Und diese Beweglichkeit
ist etwas, was wir brauchen.
Im Umkehrschluss würde das heißen, dass der strenggläubige Islam eine gewisse Unbeweglichkeit im Denken fördert.
Hofmann: Im Islam darf die Religion als Ganzes nicht infrage gestellt
werden, das ist verpönt. Ich erlebe schon eine Unbeweglichkeit im
Denken durch das Fehlen einer offenen Diskussionskultur, durch viele
Tabuthemen. An dieser Stelle muss man zum Verständnis sagen, dass durch
politische Strukturen und fehlende Pressefreiheit Informationsströme und
damit die Diskussionskultur sehr geregelt werden.
Sie sagen, man dürfe sich keine Illusion über Machbarkeit von
Integration von strenggläubigen Muslimen machen. Muss man das verstehen
als Absage an die in großen Teilen Deutschlands gelebte
Willkommenskultur?
Hofmann: Ich glaube, Integration entscheidet sich an der Fähigkeit
der Ankömmlinge, ein Stück Selbstdistanz haben zu können. Selbstdistanz,
aus der heraus sie Integration überhaupt erst betreiben können. Wenn
sie das Leben ihres Herkunftslandes unverändert weiterleben wollen,
können sie nur scheitern. Wir als Bürger des Gastlands brauchen diese
Selbstdistanz aber auch; das ist unsere Pflicht.
Unter Selbstdistanz verstehen Sie, dass man auf sich und seine Motive wie von außen gucken kann.
Hofmann: Selbstdistanz bedeutet, dass man sich etwas anderes als die
eigene Lebensweise wenigstens vorstellen kann. Ich muss also imstande
sein, meine Position zu relativieren und nicht absolut zu setzen.
Strenggläubige Muslime tendieren nun weniger dazu, aufgrund der Prägung
durch Religion und Kultur, diese Selbstdistanz zu üben. Ich habe bei
meinen Sitzungen strenggläubige Muslime erlebt, die allein bei der
Aufforderung, ihr Gottesbild zu hinterfragen, eine Panikattacke bekamen.
Sie haben, als Psychotherapeut, Ihre Probleme mit der Vollverschleierung von Frauen.
Hofmann: Wichtig für Kinder ist es doch zu sehen, wie ihre Mutter
agiert. Was sie fühlt. Und Emotionen spiegeln sich im Gesicht. Dass
Kinder in arabischen Ländern ihre Mütter oft vollverschleiert erleben
müssen, hilft ihnen nicht, Gefühle und Kommunikation zu entschlüsseln.
Haben Sie Angst, als Islamgegner wahrgenommen zu werden?
Hofmann: Es gibt immer Leute, die einen in eine gewisse Schublade
stecken wollen; davor fürchte ich mich schon. Aber ich denke, es ist
wichtig die Menschen, die zu uns kommen, zu verstehen.
Frage: Lassen sich Ihre Erfahrungen mit Menschen aus den reichen Golfstaaten auf Muslime anderer Länder übertragen?
Hofmann: Ich glaube, mit gewissen Einschränkungen, ja. Main-Post
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