Also sprach die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt
auf dem Parteitag der Grünen im November 2015, wenige Monate nach der
Grenzöffnung: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich
freue mich drauf!“ Statt sich mit der Legitimation, Bedeutung und Folgen
einer Politik auseinanderzusetzen, die nicht weniger als die
ethnisch-kulturelle Umwälzung Deutschlands zur Folge hat, rechtfertigte
sie sie mit dem persönlichen Lustgewinn.
So ein kindlicher Narzißmus wirkt bei Vierjährigen
drollig, bei einer Politikerin jenseits der Fünfziger ist er ein
sicheres Indiz fehlender Reife in Geist und Charakter. Trotzdem wäre sie
2017 fast Ministerin, womöglich Außenministerin geworden, und fast alle
großen Medien fanden es schade, daß sie es am Ende doch nicht wurde.
Göring-Eckardt ist, wie Raymond Unger in
seinem Buch darlegt, repräsentativ für die Alterskohorte, die heute in
Politik und Medien die Führung innehat. Der Autor spürt den Gründen für
die „moralistische Infantilisierung“ der Generation nach, der er – 1963
geboren – gleichfalls angehört. Seine Perspektive ist die eines
„liberalen, humanistischen Freidenkers und freien, bildenden Künstlers“,
der seine mühsam erkämpfte Freiheit im Denken und im praktischen Leben
durch die Politik- und Medieneliten aufs Spiel gesetzt sieht.
Es handelt sich um die Generation der
Babyboomer, die ungefähr von 1957 bis 1967 reicht, um die Kriegsenkel,
die in der Literatur auch als „Nebelkinder“ bezeichnet werden, weil sie
ein nebulöses, stets präsentes Schuldgefühl in sich tragen. Einerseits
fanden sie – soweit im Westen lebend – Aufstiegschancen und materiellen
Wohlstand vor, vermißten allerdings die emotionale Sicherheit. Sie sind
die Söhne und Töchter von Kriegskindern, deren frühe Jahre von
Bombennächten, Vertreibung, Entbehrung geprägt und deren Väter entweder
im Krieg geblieben oder aus ihm beschädigt zurückgekehrt waren.
Unger arbeitet mit dem Instrumentarium
der Psychoanalyse und Psychotherapie. Das fehlende Vorbild des Vaters
wirkt neben den anderen transgenerationellen Traumata so einschneidend,
weil die Väter die Brücke zur Erwachsenenwelt bilden. Zudem ist die
Armee als ein Ort der Initiation, wo junge Männer sich von der
Mutterbindung lösen, ausgefallen. Unger gibt damit eine Antwort auf die
Frage: „Was sind das also für Männer, die eine kinderlose Frau zur
‘Mutti’ der Nation stilisierten – eine regressiv, kollektive Projektion
sondergleichen?“
Auf diese Psychologie traf die Flüchtlingskrise
Ich-Schwäche, Schuldkomplexe, die
Unfähigkeit zur Abgrenzung, das Schwanken zwischen manischer Depression
und auftrumpfendem Optimismus lassen ein erwachsenes, abgeklärtes
Verhältnis zur Außenwelt nicht zu und bereiten das Feld für
Helfersyndrome und für die Hypermoral. Zudem verhindert die verbreitete
Kinderlosigkeit die Entlastung und blockiert ein Abflauen der Konflikte
in der generativen Abfolge.
Die Betroffenen befinden sich in der
„genetischen Sackgasse“, in der die toxischen Beimischungen der
Familiengeschichte kulminieren und die „persönliche Selbstablehnung im
politischen Handeln kollektiviert wird“. Es gibt heute unter den
etablierten Politikern und Journalisten kaum einen, der ein positives
Verhältnis zum eigenen Land hat.
Auf diese Kollektivpsychologie traf 2015
die Flüchtlingskrise. Es schlug die Stunde der „Wiedergutmacher“, die
ihr angeknackstes Selbstwertgefühl reparierten, indem sie tätige Reue
für „deutsche Schuld“ leisteten und sich von „Ausländerfeinden“, von den
„Abgehängten“ und „hinterwäldlerischen Ossis“ demonstrativ abhoben.
Doch in Wahrheit, so Unger, achtet dieser Typus sehr genau auf die
Wahrung seiner Besitzstände. Unger nennt unter anderem die sogenannten
Flüchtlingsbürgen, die sich anboten, die Kosten für Zuwanderer mit
ungeklärtem Status zu übernehmen und dafür moralischen Mehrwert und
soziale Reputation einstrichen.
Pharisäertum gepaart mit erschreckender Infantilität
Wie groß war ihr Erstaunen, als das
Sozialamt ihnen tatsächlich die Rechnung ins Haus schickte. Diese
Gutsituierten mit hohen Bildungsabschlüssen hatten nicht gelernt, was
zum Erwachsenwerden gehört: die Konsequenzen des eigenen Handelns zu
tragen. Weltrettungsattitüde, Pharisäertum und Infantilität gehen bei
diesen vermeintlich mündigen Bundesbürgern Hand in Hand.
Exemplarisch ist die Niederlage von
Innenminister Horst Seehofer, der nichts anderes wollte, als dem Gesetz
wieder Respekt und Geltung zu verschaffen und an der Übermacht der
Medien, die sich umgehend mit der Kanzlerin verbündeten, scheiterte.
Auch aus der Union erhielt er wenig Unterstützung. Seehofers Degradation
ist mehr als eine persönliche Schlappe. Sie markiert die endgültige
Ablösung der alten weißen Männer in der deutschen Politik durch die
Infantilisierten der Göring-Eckardt-Generation.
Das Buch besticht durch seine Einheit aus Abstraktion,
lebendiger Anschauung und erzählerischer Kraft. Unger belegt die
psychologischen Modelle und gesellschaftspolitischen Rückschlüsse durch
Beispiele und Schilderungen, die oft aus eigener Erfahrung stammen.
Wohnhaft in Berlin-Neukölln, hat er über die Jahre die negativen
Veränderungen im Kiez mitverfolgt.
Fokus auf die mentale Konditionierung der Deutschen
Der Autor hat sich bewußt auf die mentale Konditionierung
der Deutschen durch den Krieg und die Kriegsfolgen fokussiert. Die
Rahmenbedingungen nach 1945 – die beschränkte Souveränität, die
Umsetzung alliierter Umerziehungskonzepte, die Teilung des Landes –
werden sekundär behandelt. Das ist kein Manko, vielmehr ein
Anknüpfungspunkt und eine Aufgabe für weitere Untersuchungen.
An einigen Stellen möchte man widersprechen, etwa
anläßlich der undifferenzierten Abwertung der Proteste gegen die
Stationierung von Mittelstreckenraketen Anfang der 1980er Jahre. Gewiß
wurde der Widerstand vorwiegend emotional vorgetragen, doch er ließ
immerhin einen politischen Restinstinkt erkennen im Angesicht der
Tatsache, daß im Ernstfall fremde Mächte über die physische Existenz das
eigenen Landes verfügen durften. Dieser Restinstinkt, lautet die
bittere Schlußfolgerung aus Ungers Buch, ist erstorben. Hinz
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