Es gibt eine neue mediale Wendung für Angriffe
auf Personen, die ersatzweise dann greift, wenn der jeweiligen Person
keine Vorwürfe zu machen sind. Beziehungsweise, wie es in diesem
Neusprech heißt, keine direkten Vorwürfe. Oder wenn Recht verweigert
wird. Ganz allgemein: wenn Moral Rechtsnormen ersetzen soll.
Wegen
seiner Abschiedsrede am 18. Oktober 2018 durfte der langjährige
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen nicht
wie vorgesehen ins Bundesinnenministerium wechseln, sondern wurde von
Horst Seehofer in den einstweiligen Ruhestand versetzt. In der Rede, um
die es geht, hatte Maaßen gesagt, es habe eine Kampagne gegen ihn
gegeben; Medien und linke Politiker, die von „Hetzjagden“ in Chemnitz
geschrieben, gesendet und geredet hatten, hätten sich „ertappt“ gefühlt,
als er, Maaßen, darauf hingewiesen habe, dass für die
Hetzjagd-Behauptungen jeder Beleg fehlte. Wegen dieser und anderer
Aussagen in seiner letzten Rede forderten Politiker ein
Disziplinarverfahren gegen ihn. Vor wenigen Tagen teilte das
Bundesinnenministerium mit, es werde kein Disziplinarverfahren gegen den
ehemaligen Präsidenten geben, es gebe keine Anhaltspunkte, dass ihm
dienstrechtlich etwas vorzuwerfen sei.
Genau so hätten es die Medien auch melden können. Taten sie aber nicht. Stattdessen hieß es etwa bei Spiegel Online, im Handelsblatt und anderswo: „Maaßen entgeht Disziplinarverfahren wegen umstrittener Abschiedsrede.“
Entgeht – das suggeriert, er habe sich dem Verfahren irgendwie
entzogen, oder sein Dienstherr habe eine eigentlich nicht
gerechtfertigte Gnade walten lassen.
Noch besser ist: Entging einem
Disziplinarverfahren wegen seiner Rede. Die Verknüpfung wegen hätte nur
Sinn ergeben, wenn ein Verfahren eröffnet worden wäre. Wenn kein
Verfahren stattfindet, gibt es auch keinen Verstoß, es sei denn, Medien
und generell Ankläger führen gerade das Delikt im Konjunktiv ein. Darum
scheint es gerade zu gehen. Von den Überschriften bleibt die Suggestion
übrig: Maaßen hätte wegen seiner Rede eigentlich bestraft gehört, konnte
aber gerade noch entwischen.
Noch eine Umdrehung perfider
handhabt die ehemalige Beauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne
Birthler diese Technik. Birthler wurde von dem Stiftungsrat der
Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen als so genannte Vertrauensperson
eingesetzt, offenbar, um die Entlassung des früheren
Gedenkstätten-Direktors Hubertus Knabe mit einem eilig geschriebenen
Gutachten zu flankieren. Birthler ist Knabe noch aus früheren Zeiten in
Abneigung verbunden. Die Vorwürfe gegen Knabe bestehen in der vagen
Behauptung, er habe sexuelle Belästigungen in der Gedenkstätte geduldet.
In einem – journalistisch tadellos geführten – Spiegel-Interview
(Spiegel 50/2018) sagte Birthler:
„Gegen Herrn Knabe gab es keinen direkten Vorwurf sexueller Belästigung, das stimmt“.
Nun gilt in einem Rechtsstaat das Prinzip: entweder gibt es Vorwürfe,
oder es gibt sie nicht. Wenn es sie gibt, sind sie per Definition
direkt. Birthler bekräftigt in dem Interview ihr nicht direkt, indem sie
suggeriert, Knabe habe sexuelle Grenzüberschreitungen seines ehemaligen
Stellvertreters „geduldet“, ohne diesen Vorwurf näher zu begründen.
Tatsächlich hatte Knabe diesen Stellvertreter wegen der Vorwürfe
beurlaubt. Bis jetzt gibt es allerdings keine Anklage gegen ihn,
natürlich auch kein Urteil. Geklärt ist noch nicht einmal, ob die
Vorwürfe gegen Knabes Stellvertreter überhaupt die juristische
Relevanzschwelle überschritten hatten. In der Gedenkstätten-Affäre
spielt sich also der bisher präzedenzlose Fall ab, dass ein Direktor
wegen unbewiesener Vorwürfe gegen seinen Untergebenen gefeuert wurde,
und das, obwohl er Schritte gegen diesen Untergebenen unternommen hatte. Das alles erwähnt Birthler nicht. Stattdessen bringt sie den Namen Knabe und die Formulierung „Vorwurf sexueller Belästigung“ in einem Satz unter, garniert mit nicht direkt, also irgendwie doch.
Gegen
Birthler gibt es übrigens nicht direkt Vorwürfe der Geldunterschlagung
in ihrem ehemaligen Amt. Deshalb entging sie auch einem Strafverfahren.
Eine
Rhetorik, die bisher geltende Standards beiseiteschiebt oder vielmehr
zersetzt, blüht auch auf einem anderen Gebiet, das mit Recht zu tun hat.
Am Donnerstag dieser Woche ließen die Mehrheitsfraktionen im Bundestag
die AfD-Abgeordnete Mariana Harder-Kühnel zum zweiten Mal der Wahl zur
stellvertretenden Bundestagspräsidentin durchfallen. Vorher hatte eine
Mehrheit der Abgeordneten schon den AfD-Kandidaten Albrecht Glaser
dreimal scheitern lassen. Gegen ihn hatte es von den anderen Fraktionen
Vorwürfe wegen dessen Äußerungen zum Islam gegeben. Gegen Harder-Kühnel,
die zum gemäßigten AfD-Flügel zählt, äußerte bisher niemand einen
konkreten Vorbehalt. Trotzdem verweigerte ihr eine Mehrheit den Posten.
Die
rechtliche Lage ist eindeutig: jeder Fraktion steht ein Posten des
stellvertretenden Parlamentspräsidenten beziehungsweise der –Präsidentin zu.
Schon nach dem ersten Wahlgang Harder-Kühnels wählte eine ganze Reihe
von Medien trotzdem eine bemerkenswerte Formulierung: der Posten stehe der AfD „eigentlich“ zu.
Das kleine Wörtchen, das sich dazwischenschiebt, suggeriert, es gebe
zwar einen Anspruch der AfD auf den Posten, aber eben nur eigentlich.
Man könne die Sache auch anders sehen. Wie, das schrieb die taz:
„Die
Wahl einer AfD-Politikerin könnte als Anerkennung der Rechtspopulisten
als ganz normale demokratische Partei missverstanden werden. Das ist ein
Problem.“
Jemand, gegen den nichts vorliegt, entgeht einem
Verfahren, jemand, gegen den es keine Belästigungsvorwürfe gibt, ist
eben nur nicht mit direkten Vorwürfen konfrontiert, ein Recht besteht,
wenn es um eine bestimmte Fraktion geht, nur eigentlich, und nicht seine
Verweigerung, sondern seine Erfüllung stellt ein Problem dar.
Jedenfalls dann, wenn es um ganz bestimmte Personen und um diese eine
Fraktion geht.
Dass die Parlamentsmehrheit einer Fraktion auch
nach mehr als einem Viertel der Legislaturperiode den Weg zu einem ihr
zustehenden herausragenden Posten versperrt, ist offene Rechtsbeugung.
Der Begriff kommt allerdings in praktisch keinem Kommentar und keinem
Bericht der meisten Medien vor.
Diese Wendung muss man sich schließlich aufsparen für den Fall, dass in Ungarn oder Polen etwas Ähnliches passiert. Wendt
In Deutschland herrschen die Halunken.
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