Stationen

Dienstag, 25. Dezember 2018

Helmut Schmidt 1992 (viel zu spät)

In einem 1992 der Frankfurter Rundschau gewährten Interview stellte der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt treffend fest: "Ich glaube, daß es ein Fehler war, daß wir zu Zeiten von Ludwig Erhard mit Fleiß und allen möglichen Instrumenten ausländische Arbeitnehmer in die Bundesrepublik hineingesogen haben... die Vorstellung, daß eine moderne Gesellschaft in der Lage sein müßte, sich als multikulturelle Gesellschaft zu etablieren, mit möglichst vielen kulturellen Gruppen, halte ich für abwegig. MAN KANN AUS DEUTSCHLAND MIT IMMERHIN EINER TAUSENDJÄHRIGEN GESCHICHTE SEIT OTTO I. NICHT NACHTRÄGLICH EINEN SCHMELZTIEGEL MACHEN... WEDER AUS FRANKREICH, NOCH AUS ENGLAND, NOCH AUS DEUTSCHLAND DÜRFEN SIE EINWANDERUNGSLÄNDER MACHEN. DAS ERTRAGEN DIE GESELLSCHAFTEN NICHT. Dann entartet die Gesellschaft: Wenn es irgendwo Ärger gibt zum Beispiel über de facto vierzig Prozent Arbeitslosigkeit in den östlichen Bundesländern, bricht sich die Frustration irgendwo Bahn und endet in Gewalt... Es hat alles seine Grenzen. Die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft mag ethisch begründbar sein: praktisch ist sie in einer Demokratie, wo jeder Bürger tun und lassen kann, was er will, kaum zu verwirklichen. ...die Vorstellung, wie sie etwa Heiner Geißler jahrelang verbreitet hat, daß wir mehrere Kulturen nebeneinander haben könnten, habe ich immer für absurd gehalten. Sie ist idealistisch, aber völlig jenseits dessen, was die Gesellschaft bereit ist zu akzeptieren. Da wir in einer Demokratie leben, müssen wir uns auch ein bißchen, bitte sehr, nach dem richten, was die Gesellschaft will, und nicht nur nach dem, was sich Professoren ausgedacht haben.
[...]
Schau´n Sie sich die Lage in diesen beiden Kunststaaten an, die in den Pariser Vorortverträgen 1919 geschaffen worden sind. Der eine heißt Tschechoslowakei und der andere Jugoslawien. In dem Augenblick, in dem die Machtklammer nicht mehr hält, bricht dieser jugoslawische Staat auseinander, weil die Bosniaken und die Serben sich nicht miteinander vertragen wollen. Weswegen bricht heute der Staat Tschechoslowakei auseinander? Weil die Slowaken glauben, sie werden von den Tschechen benachteiligt. Sie sagen nicht: der Kapitalismus, der Kommunismus, die Diktatur, der Faschismus. Sie sagen: Die Tschechen benachteiligen uns, wir wollen davon los. Das sind tief verwurzelte Instinkte!
(...)
AUS DEUTSCHLAND EIN EINWANDERERLAND ZU MACHEN, IST ABSURD. Es kann dazu kommen, daß wir überschwemmt werden. Am Anfang dieses Jahrhunderts bestand die Menschheit aus 1,6 Milliarden Menschen, heute sind es 5,6. Am Ende dieses Jahrzehnts werden es über 6 Milliarden Menschen sein. Das heißt eine Vervierfachung der Menschheit innerhalb eines einzigen Jahrhunderts. Vorher haben wir zigtausend von Jahren gebraucht, um die Menschheit auf 1,6 Milliarden zu bringen. Jetzt verdoppelt sich die Menschheit alle 43 Jahre. Jedes Jahr wächst die Menschheit um etwas mehr als die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, um mehr als 80 Millionen. Diese Explosion findet zu weit mehr als 90 % im Süden statt, in den Entwicklungsländern und in den Least Develloped Countries. Die Menschen finden dort weder genug zu essen, noch finden sie genug Wasser, noch genug Luft und Jobs. Sie wollen nach Nordamerika, nach Mitteleuropa.
[...]
Der Prozeß dieser Bevölkerungsexplosion muß weltweit gestoppt werden, sonst gibt es Katastrophen... Das sind die dicken Probleme, die kommen. Wenn wir, die Menschheit, dieses Problem nicht bewältigen, brauchen wir in dreißig Jahren nicht mehr über Deutschland als Einwanderungsland zu streiten. Wir werden de facto überschwemmt und sind darauf nicht vorbereitet. Wenn wir heute versuchen würden, uns darauf vorzubereiten, haben Sie alle zwei Jahre einen Regierungswechsel. Dann geht die Stabilität der Demokratie verloren.
[...]
Es muß mich doch überhaupt nicht hindern, für die Asylbewerber Lager zu bauen mit fließendem Wasser und Toilette und anständiger Versorgung, um sie dort erst mal unterzubringen, bis der Antrag geprüft worden ist. Weswegen müssen die über das ganze Land verteilt werden, auf Schulhöfen in der Großstadt? WAS SIND DAS FÜR ABSURDE AUSWIRKUNGEN!
[...]
Es ist jedenfalls besser das zu tun (sie in Lager unterzubringen), als sie den Familien in die Wohnung zu setzen. Das kommt doch übermorgen, wenn es so weitergeht. Es hindert niemand die Bundesregierung oder die Landesregierungen, Lager zu bauen. Es werden ja auch Kasernen gebaut. Es muß derjenige, der aus Bosnien oder aus Rumänien kommt, wissen: Er kommt ins Lager, möglicherweise so lange, bis sein Fall entschieden ist. Aber wenn sein Fall negativ entschieden worden ist, dann muß der Mann auch abgeschoben werden. Aber den Willen dazu sehe ich auch nicht."
(Interview mit Helmut Schmidt in der Frankfurter Rundschau, 12. 9. 1992, Seite 8)



Schade, dass Schmidt so spät eingesehen hat, dass Dregger - der diese Dinge schon 20 Jahre vorher sagte - recht hatte. 




A
m 23. Dezember 1918 wurde Helmut Schmidt geboren, der vorletzte sozialdemokratische Kanzler Deutschlands. Wer sich über die Feiertage sowohl mit Gegenwart als auch Geschichte beschäftigen möchte, der kann den 100. Geburtstag von Helmut Schmidt und das 3. Ausschlussverfahren der SPD gegen Thilo Sarrazin zum Anlass nehmen, beider Aussagen speziell zur Migration zu vergleichen.
Eine abschließende Bewertung Schmidts durch Kevin Kühnert steht noch aus.
Auf Facebook ehrte die derzeitige Parteivorsitzende Andrea Nahles den Altkanzler, indem sie einiges wegließ, zum Beispiel dessen Aussagen zur Migration, und anderes etwas ausschmückte, kurzum, ihn etwas nachbearbeitete wie eine Spiegel-Reportagereise durch eine entlegene Gegend:
„Am 23.12. wäre Helmut Schmidt 100 Jahre alt geworden. Er gilt zurecht als einer der bedeutendsten Politiker, Staatsmänner und Sozialdemokraten der Nachkriegszeit, berühmt für seine nüchterne hanseatische Art.
Schmidt bleibt der Sozialdemokratie als ein Vordenker mit scharfem Blick in Erinnerung. Er prangerte noch vor der großen Finanzkrise die Gefahr des Raubtierkapitalismus an, betonte stets die Wichtigkeit der sozialen Gerechtigkeit und unterstrich immer eines: Europa. Europa. Europa.“
Da es zu den Feiertagen nicht nur historisch-schwerkritisch zugehen soll, gibt es als Zugabe dieses Wochenrpückblicks ein apokryphes Gespräch des ehemaligen Kanzlers mit Giovanni di Lorenzo, seinerzeit veröffentlicht in dem Buch „Auf ein Gläschen mit Helmut Schmidt“. Drei Autoren – Gideon Böss, Silvia Meixner und Alexander Wendt – schrieben damals die ZEIT-Gespräche fort, der Interviewer erhielt den diskreten Tarnnahmen Lorenzo di Arrabiata.
Das Buch muss nicht mehr unbedingt verbreitet werden. Zumindest der letztgenannte Autor war damals jünger und brauchte das Honorar. Aber zu den noch verwendungsfähigen Passagen gehört das von mir beigesteuerte Gespräch zur Vorbereitung des Schmidt-Geburtstags*, das hier noch einmal als Fußnote erscheinen soll.

*Skol! Geburtstag mit Willy
Helmut Schmidt bereitet zusammen mit Lorenzo di Arrabiata seinen Ehrentag vor, erinnert sich an seinen Beitrag zum Sechstagekrieg, kann aber beim besten Willen nicht mehr sagen, wo sein weißer Elefant abgeblieben ist
Lieber Herr Schmidt, ein großes Ereignis steht bevor: Ihr Geburtstag. Wie sollten wir ihn begehen?
Was heißt wir? Sind Sie eingeladen?
Ich versehe die Aufgabe des Organisators, wenn ich Sie erinnern darf. Ich sorge für die richtige Atmosphäre, schenke Wein nach…
Richtig, Sie sind der Butler. Das hatte ich kurzzeitig verdrängt. Die Frage, wie mein Geburtstag gefeiert werden sollte, liegt doch auf der Hand: Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr.
Ich dachte mir fast, dass Sie das sagen würden. Und ich soll wie immer die Geburtstagsgäste spielen?
Wie gesagt: dieselbe Prozedur. Ich finde, es spart viel Kosten und Mühe, wenn beim Feiern nur einer am Tisch sitzt. Überhaupt stehe ich dem ganzen Brimborium kritisch gegenüber. Aber als Jubilar kann ich mich meiner Verantwortung ja schlecht entziehen. Geschenke kommen zum Glück mit der Post.
Wollen wir dann kurz die Gästeliste durchgehen? Zunächst hätten wir Giscard d’Estaing. Ich verknote mir immer die Zunge, wenn ich diesen französischen Akzent nachmachen muss.
Das gehört nun mal zu Ihren Aufgaben. In der Tat, Ihr nasaler Akzent könnte besser ein. Aber um Gräfin Dönhoff zu zitieren: Es ist nicht leicht, gutes Personal zu finden.
Wenn ich d’Estaing spiele, muss ich dann auch wieder über Ihren Standardwitz lachen: Warum haben französische Panzer vier Rückwärtsgänge und ein Vorwärtsgang?
Den kenne ich gar nicht. Wieso einen Vorwärtsgang?
Falls der Feind von hinten kommt. Sie erzählen den jedes Mal.
Nee? Das sind eben die Freuden des Alters – man vergisst auch das eine oder andere. Aber zu Ihrer Frage: Fühlen Sie sich ganz frei. Schmunzeln, Lachen – das müssen Sie für sich entscheiden, aber immer mit Blick auf Ihre Position.
Ich werde mein Bestes tun. Als nächstes hätten wir Norbert Blüm. Ich werde also wieder in die Hocke gehen und rufen: ‚Ein fröhliches neues Jahr, Herr Schmidt!’
Das gehört unabdingbar dazu. Ich finde, diese Figur verkörpern Sie immer besonders gut.
Freut mich, wenn ich zu Ihrer Erheiterung beitragen darf. Allerdings, wenn ich Willy Brandt spiele, muss ich dann wirklich wieder die Hacken zusammenschlagen und Skol rufen?
Lorenzo, tun Sie es mir zuliebe.
Aber warum?
Für einen Halbskandinavier wie Willy passt Skol doch ausgezeichnet.
Ich meine das Hackenschlagen. Das tut meinen Knochen nämlich weh.
Das macht Ihre Darstellung ja so authentisch. Willy verstand nämlich nichts vom Militär. Als der ägyptische Präsident Nasser ihn im Sechstagekrieg um Rat gefragt hatte, wusste er überhaupt nicht, was er ihm sagen sollte. Also schickte er Nasser zu mir.
Und wozu hatten Sie ihm geraten?
Zur russischen Strategie: Sich tief ins Land zurückziehen und auf den Winter warten. In der konkreten Umsetzung hatten die Ägypter allerdings gepfuscht.
Zum Glück hatten die wenigstens beim Pyramidenbau auf Sie gehört.
Wie bitte?
Kleiner Scherz. Gut, dann wäre die Liste komplett. Und als Geburtstagsspeisefolge wieder Kartoffelsuppe, Labskaus, Pekingente und zwei Schachteln Mentholstäbchen?
Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr, Lorenzo.
Heißt das, ich muß auch wieder über das Eisbärenfell mit der Kohl-Maske stolpern?
Natürlich. Das beherrschen Sie doch jedes Mal besser.
Erwarten sie auch wieder so viele Geschenke aus aller Welt wie zur letzten Feier?
Sie wissen doch, dass ich nichts mehr brauche. Jedes Jahr schicken die Leute mir neue Staubfänger: Lapislazulitruhen für meine Zigaretten, Ascher aus Obsidian. Eine Dunstabzugshaube aus Rauchquarz. Außerdem ein Schachspiel aus Elfenbein von diesem Sozialdemokraten. Was soll ich damit?
Ein Sozialdemokrat?
Sparen Sie sich die Polemik.
Neinnein, verstehen Sie mich nicht falsch: Sie meinen mit Sicherheit Peer Steinbrück. Bekanntlich kam er zu Ihnen nach Hause, und Sie hatten ihn gewissermaßen im Alleingang zum Kanzlerkandidaten der Sozialdemokratischen Partei ausgerufen.
Umgekehrt ging’s nicht mehr.
Bedauerlich. Aber wollen Sie diesen historischen Moment für unsere Leser nicht genauer schildern?
Eigentlich war das ein ganz netter junger Mann, so weit ich mich erinnere. Allerdings erzählte er unentwegt, er würde Klartext reden. Erst einmal wollte er, dass wir ein schönes Erinnerungsfoto mit meinem Schachbrett machen. Und dann legt er mit seinem Klartext los: Bei mir sei die Luft genau so stickig wie in der Parteizentrale, ich sollte mal richtig durchlüften, und Zigaretten ohne Steuerbanderole, wie sie für mich im Freihafen vom Laster fallen, das könnte er sich in seiner Position gar nicht leisten. Dann sagte er, versteh ich aber auch, Ihre Sparsamkeit, schließlich mussten Sie jahrelang mit dieser mittelmäßigen Bezahlung zurandekommen. Ihm würde schon der Titel für sein nächstes Buch vorschweben, gleich nach dem Wahlkampf: „Karrierefalle Kanzleramt.“ Jedenfalls, er redete und redete. Irgendwann hatte ich die Hörgeräte rausgenommen und ein bisschen geraucht.
Faszinierend. Wie ging der Austausch zwischen ihnen weiter?
Zwei Tage später hatte ich seine Rechnung im Briefkasten: Einmal Klartext: fünfzehntausend Euro plus Mehrwertsteuer. Das fand ich dann doch etwas impertinent. Er reagierte dann allerdings sofort auf meinen Anruf: ‚Natürlich bin ich umsonst bei Ihnen gewesen, Herr Schmidt.’ Als Wiedergutmachung kam dann das Elfenbeinschachspiel zum Vierundneunzigsten. Wie gesagt, netter junger Mann.
An welchem Ihrer Geburtstage hatten Sie eigentlich die meisten Geschenke erhalten?
Das Gesamtgeschenkgewicht an meinem Achtzigsten lag bei 42,9 Tonnen, das war mein persönlicher Rekord und noch ein Tick mehr, als Willy zu seinem Fünfundsiebzigsten bekommen hatte.
Zweiundvierzig Tonnen!
Komma neun.
Klingt nach einer gewaltigen Menge. Was hatte denn damals so viel gewogen?
Ein weißer Elefant. Das war ein Geschenk des indischen Premierministers. Der Mann musste immer so tun, als wäre ich der Kaiser von China.
Parbleu! Was ist dann mit dem Tier passiert?
Mit diesem Detail bin ich wirklich überfragt. Mir ist ein anderer Punkt wichtig, wenn ich hier schon über Lapislazulikästen, Elefanten und Elfenbeinzeugs spreche: Prunk und Aufwand befremden mich. Wahrscheinlich hatte ich das noch nie erwähnt, aber die Eigenschaft, die ich an mir selbst am meisten schätze, ist Bescheidenheit. Wenn ich anderen eine Aufmerksamkeit erweise, dann tue ich das auf dezente Weise. Ich verschenke seit über 50 Jahren handsignierte Exemplare meines Buches ‚Abschreckung oder Vergeltung’ von 1961.
Wem sagen Sie das? Ich besitze elf Stück.
Sehen Sie! Demnächst haben Sie das Dutzend voll. Das erinnert mich übrigens daran, dass ich einen Nachdruck in Auftrag geben sollte. Langsam werden die Mängelexemplare von damals knapp.   Wendt

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