In Deutschland heißt die Zeit zwischen den Lockdowns Sommer. So, wie der Sommer hier eine Übergangszeit zwischen zwei ähnlichen Zuständen markiert, liegt Deutschland seinerseits zwischen Ländern, die sich mit Covid-19 und allen seine Mutanten irgendwie arrangieren.
Also zwischen Italien einerseits, wo kein Restaurantbetreiber den Impfausweis sehen will, und Dänemark andererseits, das gerade alle Restriktionen für das öffentliche Leben abschafft. Hören Sie einfach weg, wenn Markus Söder sagt: Es wird keinen Lockdown mehr geben. „Mit dem Wissen von heute“, meinte ein Bundesminister vor einiger Zeit, „würden wir keinen Lockdown machen, bei dem Friseure und kleine Läden schließen müssen.“ Bei dem Bundesminister handelte es sich um Jens Spahn, seine Aussage fiel irgendwann im Sommer 2020, also vor dem kurzen Wellenbrecherlockdown vor Weihnachten, der sich dann etwas hinzog und zu wochenlangen Ausgangssperren steigerte, in deren Verlauf Polizisten einen Jugendlichen durch einen Park in Hamburg jagten, und Bürger auf Straßen und Plätzen in der Ausgangszeit zum Maskentragen angehalten wurden, obwohl der führende Experte für Aerosole (follow the science!) diese Maßnahme als sinnlos, albern, wirkungslos und söderesk bezeichnet hatte.
Irgendetwas wird also im Herbst kommen, wenn die Zahlen wieder steigen: Einschränkungen, Verbote, Maßnahmen, die für manche Betroffene einem Lockdown sehr ähnlich sehen. Wenn der Lockdown wiederkommt, um einen bekannten Satz abzuwandeln, dann wird er nicht sagen: ‚ich bin der Lockdown’, sondern: ’Ich bin G2’, ’bezahle den obligatorischen Test selbst’, oder irgendetwas anderes.
Ob diese Maßnahmen irgendeinen praktischen Nutzen entfalten und die Zahl der Covid-Opfer pro Million Einwohner im Vergleich zu den anderen unvernünftigeren Ländern, die Deutschland einrahmen, niedrig halten: Danach dürfen Sie nie fragen. Jedenfalls nicht in einem Land, in dem öffentlich repräsentierte Meinungen nach Ansicht eines TV-Haltungskunstschaffenden einer strengen gesellschaftlichen Qualitätskontrolle unterliegen müssen.
In Deutschland verschwinden gerade einige Auslaufmodelljobs, etwa KfZ-Mechatroniker und Facharbeiter für Kraftwerktechnik, dafür entstehen aber neue, beispielsweise Meinungsqualitätskontrolleur. Dafür sind freilich nur wenige geeignet. Im Gegenzug erhält der Meinungsqualitätskontrolleur aber auch eine Vergütung, die dem Gehalt von 50 KfZ-Mechatronikern entspricht.
Warum, fragen Sie sich vielleicht, werden sehr viele Deutsche auch die nächsten Maßnahmen hinnehmen, so, wie sie ja auch die letzten Maßnahmen schluckten, die es nach ausdrücklicher ministerieller Versicherung nie hätte geben sollen?
Praktisch alle Deutschen, so lautet die übliche Formel in Politik und Medien, würden den Corona-Ausnahmezustand am liebsten sofort beenden, wenn es nur möglich wäre. Der am häufigsten dazu ausgesprochene, geschriebene und gesendete Satz lautet: „Ja meinen Sie denn uns macht das Spaß?“
Ich will die Pointe dieses Textes schon ein bisschen verraten. Längst nicht für alle, aber für etliche Leute in diesem Land lautet die Antwort: Unbedingt ja. Das macht uns Spaß. Das schafft Sinn und Bedeutung. Auch für diejenigen, die Hannah Arendts Begriff der abgeleiteten Macht gar nicht kennen.
Ich möchte heute erzählen, worüber ich in meinen bisherigen DDR-Schnurren aus gutem Grund nie berichtet habe. Schlicht und einfach, weil es mir peinlich ist. 1986 war ich als 16-Jähriger für ein paar Monate Mitglied in der sogenannten Ordnungsgruppe der FDJ, einer Art Sicherheitsdienst der ‘Freien Deutschen Jugend’, des kommunistischen Jugendverbandes in der DDR. Diese ‘Ordnungsgruppe der FDJ’ wurde offiziell kurz nach dem Bau der Berliner Mauer als eine Art Sicherheitsdienst für öffentliche Veranstaltungen und als jugendliche Hilfstruppe für die Volkspolizei gegründet. Sie zeichnete sich schon nach kurzer Zeit durch einen ersten großen Erfolg aus. Beispielsweise durch den Sturm – vor allem im Bezirk Leipzig – auf die „Ochsenköpfe“. Das Wort „Ochsenköpfe“ war hierbei SED-Slang für die Fernsehantennen (bzw. deren Benutzer), die auf die Sendeanlage des Klassenfeindes ausgerichtet waren, auf den Ochsenkopf im bayerischen Fichtelgebirge. Von dort her drangen damals Meinungen in das östliche Sondergebiet, die dort bei der strengen gesellschaftlichen Qualitätskontrolle durchfielen. Pardon wurde nicht gegeben.
Die Antennen wurden durch die Ordnungsgruppen entweder auf Ostsender gedreht oder zerstört. Die neuen Ordnungsgruppen verschafften sich dabei nicht nur Zugang auf die Dächer, sondern auch in die Privatwohnungen, wo sie manchmal diejenigen Kanalstreifen an den Fernsehgeräten zerstörten, die den Westempfang möglich machten. Bis auf einige wenige ließen die Leute es mit Murren und Knurren über sich ergehen – und bei den völlig Unbelehrbaren und Ewiggestrigen, die sich wehrten, wurden eben andere Saiten aufgezogen:
Beispielsweise Plakate mit Namen und Foto vor ihren Betrieben aufgehängt oder sogar die abgesägte Antenne mitsamt Bild des Täters im öffentlichen Raum zur Schau gestellt. Ein Mordsaufwand, der damalige Kampf gegen Fakenews, Hetze und öffentliche Delegitimierung der staatlichen Organe, nicht wahr?
Allerdings gab es schon vor der offiziellen Gründung der „Ordnungsgruppen der FDJ“ sogenannte wilde FDJ-Gruppen, die sich zum Beispiel bei der Verstaatlichungskampagne der DDR dadurch nützlich machten, dass sie zahlreich vor den Häusern der verkaufsunwilligen Bauern oder Kleinfirmenbesitzer auftauchten, um lautstarke Sprechchöre zu initiieren oder die Leute auf andere Art und Weise unter Druck zu setzen. Wie Sie sehen, sind ‘wokeness’ und ‘cancel-culture’ genausowenig ein neues Phänomen wie das berühmte ‘Haltung zeigen’. Es hieß nur damals anders. Nämlich: ‘der richtige Klassenstandpunkt’.
Natürlich hatte ich von all dem nicht die geringste Ahnung. Mein Interesse wurde dadurch geweckt, dass ein paar große Jungs aus der Parallelklasse Mitglied in der Ordnungsgruppe Leipzig-Süd waren. Da sich darunter auch der Sohn des ABV befand, konnten sie die Schulleitung dazu überreden, auch bei unseren Schuldiscos am Connewitzer Kreuz Türsteher spielen zu dürfen. Was soll ich sagen: Es war nicht zu übersehen, wie sehr die rote Armbinde bei einigen Mädchen aus der 8. Klasse, die ich total schau und fetzig fand, Eindruck schinden konnte, und wie sehr die normalen Jungs den Schwanz einzogen, wenn sie von Armbindenträgern angeraunzt wurden. Ein irrer Effekt, den dieses klein Stück roten Stoffs bewirkte, auf dem ‘Ordnungsgruppe der FDJ’ stand.
Natürlich war es völlig lächerlich, bei einer Schuldisco halbstarke Möchtegern-Rausschmeißer an die Tür zu stellen. Es war eh nur ein schäbiger Kellerraum, der sonst als Speisesaal diente und grauenhaft nach altem Kohl und chemisch geschälten Schweinekartoffeln müffelte. Für uns gab es absolut keine der üblichen Türsteher-Tätigkeiten zu verrichten. Es wurde kein Eintritt kassiert und niemand beim Wiederbetreten des Speisesaals kontrolliert. Niemand wurde wie heute wegen grauenhafter Klamotten oder Frisuren an der Tür abgewiesen. Vermutlich, weil wir alle gleichermaßen schauderhaft frisiert und angezogen waren. Außerdem waren genügend aufsichtführende Lehrer anwesend, und an Alkohol oder Schlägereien dachte noch niemand von uns Viertelstarken. Unsere Schuldiscos sahen so aus, dass wir Limo tranken, die Mädels zu Musik vom Kassettenrekorder tanzten, die Jungs möglichst cool mitwippten, und die wenigen Pärchen, die sich trauten, beim letzten Lied, traditionell ein Schmusesong, ‘langsam miteinander zu tanzen’, sorgten noch Tage später für Klatsch und Tratsch in der Klasse („Habt ihr gesehen, Doreen und André haben gestern langsam getanzt“).
Zu jener Zeit war ich regelrecht verzweifelt, da ich meinem großen, alles überragenden schulischem Ziel – endlich meine Jungfräulichkeit zu verlieren – seit Monaten keinen Millimeter näher gekommen war. Ich hatte zwar keine Ahnung, vor wem oder was uns diese Ordnungsgruppe der FDJ beschützen sollte, aber mir sagte mein Instinkt, dass mir diese rote Armbinde bei der Realisierung meines Projektes entscheidend weiterhelfen könnte. Nach langem Drängeln, Betteln und Hinternküssen ließ mich dann mein Schulfreund Swen im Dienstzimmer seines Vaters im damaligen Polizeirevier Leipzig-Süd (das heute ein schickes Bionadeszene-Wohnhaus am Fuße des Fockebergs ist) der Ordnungsgruppe beitreten. Schon sehr bald durfte ich mir die rote Armbinde überstreifen, die mich magischerweise von einem pickligen Niemand in einen Jemand, in eine quasi offizielle Autoritätsperson, verwandelte. Meine Unschuld verlor ich zwar leider auch für die folgenden zwei Jahre nicht, denn die Magie der Ordnungsgruppen-Armbinde gegenüber der weiblichen Welt schien nur auf Schuldiscos zu wirken (und selbst da höchstens bis Klassenstufe 8). Ich hatte plötzlich ganz andere Aufgaben, nämlich Großveranstaltungen abzusichern.
Aber hey, scheiß doch auf die Weiber, wenn die nicht selbst erkennen können, was ihnen entgeht. Ich entdeckte plötzlich etwas, das ich noch viel schärfer fand als Sex. Ich konnte als großes Kind plötzlich Leute herumkommandieren, die meine Eltern oder Großeltern hätten sein können.
„MACHEN SIE BITTE DIE ZIGARETTE AUS, HIER IST RAUCHVERBOT!“
„ICH WÜRDE GERNE NOCHMAL EINEN BLICK AUF IHRE EINTRITTSKARTE WERFEN!“
„STOP, SPERRBEREICH! KEINEN SCHRITT WEITER!“
Das war einfach ein so unfassbar starkes Gefühl. Du konntest mit dieser Armbinde plötzlich Typen blöd anquatschen, die dich in freier Wildbahn unangespitzt in den Boden gerammt hätten. Die im richtigen Leben zehn Meter über dir schwebten. Und sie konnten nichts, absolut nichts dagegen tun, ohne Ärger zu riskieren. Na gut, einmal haben wir den Bogen überspannt, als mein ein Jahr älterer Kumpel Uwe auf dem Heimweg vom Tischtennistraining plötzlich merkte, dass er seine Armbinde noch einstecken hat und auf die glorreiche Idee kam, als Mutprobe die Männergruppe am heutigen „Glashaus“, einer beliebten Gaststätte im Clara-Zetkin-Park hochzunehmen, die dort regelmäßig um kleinere Geldbeträge Karten spielte, um wenigstens ein kleines bißchen Thrill in ihren grauen, langweiligen DDR-Alltag zu bringen.
An diesem dunklen Abend im Park hatten wir tatsächlich sehr viel Glück, dass unsere forsche Ansage: „Ordnungsgruppe der FDJ. Das Glücksspiel hier wird SOFORT eingestellt!“ nicht mit der verdienten Tracht Prügel endete und wir mit unseren Fahrrädern unbeschadet flüchten konnten. Aber ansonsten war das ein oberwichtiges Tunichtgut-Dummschwätzerleben, und das einzige, was ich zu meiner Entschuldigung sagen kann, ist: Ich war 16 und lebte in einem Staat, der solch asoziales Verhalten der linientreuen Youngsters ermutigte und nach Kräften förderte.
Zum Glück lernte ich kurz darauf in der beginnenden Lehre als Maschinen- und Anlagenmonteur die wirklich coolen Leute kennen, die mir insgeheim klar machten, in was für eine erbärmliche Witzfigur ich mich zu verwandeln drohte. Dies waren die interessanten Typen der im entstehen begriffenen Leipziger Metal- und Punkszene. Quasi die legitimen Nachfolger der verbotenen DDR-Rock’n’Roll-Bewegung der 50er und der offiziell bekämpften Beatbewegung der 60er. Aber diese Geschichte erzähle ich ein anderes Mal.
Warum ich Ihnen ausgerechnet diese, für mich eher unrühmliche Geschichte erzähle, werden Sie fragen? Nun, ein Facebookfreund von mir, gestandener Buchdrucker mit eigenem Betrieb, erregte sich vor kurzem darüber, dass er im Zug saß und plötzlich irgendwelche Hänflinge, Typ grüne Jugend, von vorne nach hinten durch den Zug patrouillierten und die Leute auf den korrekten Sitz ihrer Maske ansprachen. Er meinte, dass es seit der Nazizeit noch nicht wieder diese Situation gegeben habe, dass eine Regierung ein Klima schafft, in dem linientreue Teenager sich ungestraft und ohne jedes Bewusstsein eines persönlichen Fehlverhaltens solcherart dreiste Anmaßungen gegenüber Leuten herausnehmen, die ihre Lehrer, Ärzte, Eltern oder Großeltern sein könnten.
„Das trifft vielleicht auf euch Westdeutsche zu“, möchte ich ihm hiermit zurufen.
Bei uns gab es das nämlich bis Ende 1989.
Es nannte sich „Ordnungsgruppe der FDJ“.
Wolfram Ackner, 51, nahm 1989 an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil, lebte einige Zeit als Punk und baute sich später eine Radikalexistenz als Schweißer, Familienvater und Hausbesitzer in Leipzig auf. Ackner schreibt auch für www.achgut.com.
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