Stationen

Donnerstag, 28. Dezember 2023

Immer noch aktuell

Von Rachmaninoff zu Schostakowitsch

 Solschenizyn, Konrad Lorenz, Carl Friedrich von Weizsäcker und Ludwig Hohl waren die einzigen Leitbilder, die ich als Heranwachsender fand. Die Medien boten damals wenig. Gute Literatur war im Burgweg nicht zu finden. Irgendwann kaufte ich mir Goethes "Faust". Aber ich erschrak, weil die beiden Vorspiele und der Anfang bis zum Osterspaziergang so sehr meinen eigenen damaligen Phantasien und Überlegungen ähnelten, dass ich Angst bekam, größenwahnsinnig zu werden und mich viele Jahre nicht traute weiterzulesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass den großen Goethe tatsächlich dieselben Fragen bewegten wie mich. Diese Nähe verwirrte mich so sehr, dass ich meinen Sinnen nicht traute; und somit ängstigte sie mich. Zu dieser Angst wäre es jedoch nie gekommen, wenn ich nicht so einsam gewesen wäre in einem Umfeld der Normopathie. Sogar als der "Faust" im Deutschunterricht durchgenommen wurde, las ich keine einzige Zeile. Erst 20 Jahre später fand ich den Mut, den ganzen "Faust" zu lesen, und es machte mich glücklich. Reifen muss langsam erfolgen, "wie in Italien". Nur dass es keine einzige wirklich gute Übersetzung des "Faust" ins Italienische gibt (ich besitze drei von den über zwanzig...) und auch nicht geben kann, betrübte mich. Die englische von David Luke ist übrigens hervorragend. Auch die russische von Pasternak hat einen sehr guten Ruf.

Solschenizyn jedenfalls sollte uns immer noch eine Lehre sein!

Die Auseinandersetzung mit Russland wurde mir erleichtert, weil ich das Glück hatte, Andrei Volkonsky über ein Jahr als Nachbarn zu haben (mehr über ihn hier) und wir gute Freunde wurden. Der einzige wahre Freund, den ich in meinem Leben gefunden habe, war im Grunde Andrei Volkonsky. Und besonders schön: Als er in Aix-en-Provence lebte, kam er nur zwei mal wieder nach Florenz. Und b e i d e Male trafen wir uns zufällig, ohne Verabredung.


Während eines Abendessens bei einem Bekannten, der Professor für Slawistik an der Universität von Florenz war, wurde darüber gesprochen, wie es dazu kommen konnte, dass das sowjetische Regime entstand. Ich sagte damals, der Kommunismus sei eine Religion. Volkonsky korrigierte mich sofort, nicht eine Religion, sondern eine Idolatrie! Aber wieso konnte eine Idolatrie an die Stelle der Religion treten? Weil die ewige Gültigkeit der Religion für schlichte Seelen nicht mehr einsichtig ist und unzeitgemäß wirkt. Dass die Idolatrie hingegen zeitgemäß ist und ewige Gültigkeit mit Habhaftwerdung für sich beansprucht, ist auch der schlichtesten Seele einleuchtend. Die Religionen sind wie alte würdevolle Schiffe, die an allen Ecken und Enden lecken, weil Teredo navalis an ihnen nagt. Deswegen hat Ernst Jünger bei Gioachino da Fiores drei Zeitaltern anknüpfend darüber nachgedacht, dass in einem Äon des Geistes, nach dem des Vaters und dem des Sohnes ein Drittes Testament von Nöten wäre, weil auch das Neue Testament inzwischen ziemlich alt ist.

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.