Stationen

Samstag, 12. Dezember 2020

Bettina Gruber

Lektüreempfehlung: Bettina Gruber, "Leben unterm Regenbogen. Das neue Geschlechterregime und seine Folgen" (Manuscriptum, 2020) und Sophie Liebnitz, "Antiordnung" (Antaios, 2020), wobei anzumerken ist, dass es sich um ein- und dieselbe Autorin handelt, Sophie Liebnitz ist ein Pseudonym. Beide Texte korrespondieren miteinander, denn das neue Geschlechterregime ist ein integraler Bestanteil der "Antiordnung". Wie aber könnte ausgerechnet ein Regime etwas Ordnungsfeindliches verkörpern? Ist "Regime" nicht synonym mit "Ordnung"? Darin liegt die Pointe der Betrachtung: Aus der Antiordnung wächst eine Anti-Ordnung, eine Gegen-Ordnung. Die westlichen Gesellschaften werden durch die strukturfeindlichen Ideen des Postmodernismus bzw. Poststrukturalismus nicht etwa befreit, sondern lediglich in ein neues Zwangssystem geführt. Als dessen künftiger Träger bietet sich der "ideokratische" Überwachungsstaat an, wenn es ihm gelungen ist, seine Systemideologie – in unserem Fall: Klimarettung, Antirassismus, Diversität, Weltgesellschaft; andernorts: die Stärkung Chinas – nahezu jedem einzelnen in seinem Machtbereich Siedelnden oder auch Herumschwirrenden als Überzeugung einzupflanzen; der Rest muss desto schärfer überwacht und kontrolliert werden. Am Ende der Auflösung aller Strukturen und Bindungen stünde eine neue "absolute Ordnung" (Liebnitz).

Ich erinnere in diesem Kontext an das Gleichnis der Autorin Eva Rex: Das Ziel der globalistischen Eliten sei es, "die Menschen zu Plastikgranulat zu zerreiben, damit aus ihnen, bei Bedarf, eine neue PET-Flasche geformt werden kann. ... Und dafür braucht es die Homogenisierung – das Zerreiben der Menschen zu ethisierten, ökologisierten, pazifizierten, feminisierten und durchgegenderten Bestandteilen des humanitären Universalismus" (Acta vom 26. Oktober).

Beiseite gesprochen: Frau Gruber (alias Liebnitz), übrigens Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, Dr. phil. habil., hält in unseren alternativlos staatsfrommen Zeiten gemeinsam mit Gott und R. P. Sieferle eine Alternative zu dieser Dystopie für möglich: die "Libanonisierung", welche "viele autonome Zonen nach dem Muster der CHAZ (‚Capitol Hill Autonomous Zone‘) in Seattle hervorbringt: Dort etablierte sich nach der Vertreibung der Polizei umgehend ein (schwarzer) Warlord, der für die Verteidigung der Grenzen seines neuen Territoriums sorgte. Der imaginierte herrschaftsfreie Zustand hielt keine zwei Tage."

Denn Ordnung hat "ihre eigene Nemesis; man kann sie ablehnen, aber das Bedürfnis nach ihr bricht an anderer Stelle wieder auf". Das ist eine anthropologische Grundtatsache. Wir sind also gehalten, darüber nachzudenken, ob die immer schnellere und gründlichere Auflösung von Konventionen, Grenzen, "Zwängen" und Verbindlichkeiten der Errichtung neuer Konventionen, Grenzen, Zwänge und Verbindlichkeiten dient und mit dem Diversivitäts-Rührwerk bloß obrigkeitsstaatlicher Beton angemischt wird.

Ich habe vorgegriffen. Schauen wir zurück. "Die letzten dreißig Jahre", notiert Frau Gruber (respektive Liebnitz), "lassen sich als eine Zeit beschleunigter Ent-Strukturierung von Lebenswelten beschreiben." Dem wird nicht einmal die aliaslose Claudia Kipping-Eckardt widersprechen. Wenden wir uns nun dem Regime "unterm Regenbogen" zu. Die 68er haben die sexuelle Befreiung versprochen. Für sie selber lief es noch gut, die Kerle befreiten die Weiber und umgekehrt bzw. mitunter auch kreuzweise, dann kippte die Sache in ihr Gegenteil, und ich meine nicht Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone", also die Vermarktwirtschaftlichung und Versportlichung der Sexualität, sondern deren hemmungs-, ja schamlose Politisierung durch verschiedene an Labeln, wenn auch nicht unbedingt an Kopfzahl permanent zunehmende Randgruppen, denen es gelungen ist, der Normalität – "Heteronormativität" – des Etikett des Fragwürdigen, Verklemmten, Provinziellen, Unterdrückerischen anzuheften. Da das biologische Geschlecht und mit ihm die sexuelle Identität die erste und elementarste Form des Selbstbewusstseins bilden und für die weit überwiegende Mehrheit der Menschen klar ist, zu welchem Geschlecht sie gehören und welchen Sexualstil sie präferieren, darf von einem feindlichen Akt einer krawalligen Minderheit gegen die womöglich allzu diskret schweigende Mehrheit gesprochen werden.

"Die einstigen sexuellen Befreiungsbewegungen geraten mehr und mehr zu Freiheitsberaubungsbewegungen für all jene, die ihre Definition von Geschlecht nicht teilen und sich sperren, ihr Leben daran auszurichten", schreibt Gruber (ohne Alias). "Die Mehrheit der Bevölkerung in westlichen Staaten hat nicht im Entferntesten begriffen, dass die Kampagnen der Schau-mich-nicht-an-Rühr-mich-nicht-an-Blümchen nicht mit Respekt vor Frauen und gar nichts mit Gleichberechtigung zu tun hat. Stattdessen dienen sie einer Ausdehnung staatlicher Gewalt auf Imponderabilien als Trojanisches Pferd." Und deshalb stehen die meisten und insonderheit die verheirateten Heten heute betröpfelt "vor der Tatsache, dass der Staat Mittel zur Förderung zwischengeschlechtlicher Konflikte bereitstellt, statt diese einzuhegen".

Als idealtypisches Beispiel nennt die Autorin die sogenannten "Neue(n) Regelungen für geschlechtergerechte Sprache" in Hannover, welche dekretieren: "Das Sternchen zwischen der maskulinen und femininen Endung (...) hebt gezielt den Geschlechterdualismus auf." Den "Geschlechterdualismus aufzuheben", kommentiert Gruber, "dürfte bislang kaum unter die Aufgabe von Kommunen gefallen sein". Wenn die Regierung einer Landeshauptstadt mit einer halben Million Einwohnern den Wunsch nach Aufhebung (= Negierung) der Zweigeschlechtigkeit bekundet – also 99,9 Prozent der Bewohner vors Schienbein tritt –, kann von einem "Rollenwechsel vom Dienstleister zum Erzieher" gesprochen werden.

Bekanntlich haben die Grünen und Linken diese "Sprachspiele" aus den universitären Darkrooms in die Politik und die Öffentlichkeit getragen, womit aus akademischem Tinneff ein Machtanspruch wurde. Gendersternchen sind eine semantische Landnahme und Unterwerfungsforderung; wenn Kommunen, Behörden, Ministerien oder, wie ich eben las, eine Patentanwaltskanzlei diesen aggressiven Nonsens übernehmen, unterwerfen sie sich ihm. Es geht um eine reine Herrschaftsfrage, nämlich "die Macht zu bestimmen, was Geschlecht denn nun sei, und diese soll ausschließlich den ihrem Selbstverständnis nach ‚Progressiven‘ zustehen" (Gruber).

Um Macht geht es auch in der #metoo-Kampagne, nämlich um die Jobs der (alten) weißen Männer, weshalb beispielsweise Tausende von Migranten vergewaltigte englische Mädchen wie in Rotherham für die #metoo-Schwestern irrelevant sind. Die weißen Erbsenprinzessinnen wollen zwar in die begehrte Männerrolle einrücken, aber doch nicht in Jobs im pakistanischen Migrantenmilieu. In der Kampagne, so Gruber, "kulminiert vorläufig die historisch neue mimetische Rivalität von Frauen gegenüber Männern – ironischerweise, indem das alte Modell der schutzbedürftigen und zerbrechlichen Frau in Anspruch genommen wird". Die ambitionierten Mädels "wirken wie eine Wiederbelebung der 'damsel in distress', jener edlen Damen der Ritterromane, die vor Drachen gerettet oder aus der Gefangenschaft böser Zauberer befreit werden müssen. Der klassische Befreier in schimmernder Rüstung ist allerdings nun in der Rolle des Belästigers gelandet, und die Rettung wird von staatlichem Eingreifen erwartet." Erst die Rettung vor der Geilheit der Weinsteins und Brüderles, dann die kompensatorische Quotenregelung und Auf-Berge-von-Matratzen-Bettung, dann die Jobs!

Machdemonstrationen sind auch die Pride-Paraden oder der Christopher Street Day, wo die sexuell Depravierten den aktuellen Grad ihres Diskriminiertwerdens mit Unterstützung sämtlicher Kommunen, Institutionen, Parteien, Kulturstätten, Kirchen und Designer zur Schau stellen, nicht selten bis zur gänzlichen Entblößung. "Romantisch inspirierte Altertumsforscher mögen darin eine mit den Dionysien des alten Griechenland vergleichbare Kulthandlung erblicken. Allerdings handelt es sich viel eher um einen Anti-Fruchtbarkeitskult, denn zelebriert werden nicht die Fortpflanzung, sondern unterschiedliche Formen der Abweichung", meint Gruber. "Die Situation ist historisch vermutlich einzigartig: Eine Gesellschaft repräsentiert sich nicht in ihrer militärischen Macht, in ihren zivilisatorischen Errungenschaften und in ihren Gotteshäusern, sondern im Ausdruck von Sexualität." Auf die man, sofern sie deviant genug ist, auch noch – im Gegensatz etwa zur Nationalität – stolz sein darf.

In diesem Zusammenhang prägt die Autorin das treffende Wort "Unfruchtbarkeitskult".



Endlich steril


"Die Verehrung von Jungfräulichkeit und sexueller Askese ist etwas grundsätzlich Anderes. Sie gilt keineswegs der Unfruchtbarkeit, sondern der Enthaltsamkeit. Hier dagegen wird ausschließlich eine Lust gefeiert, die nicht in die Weitergabe des Lebens mündet." Endlich steril!

Was hier stattfindet, ist ein "Angriff auf Normativität an sich", und der führt uns zur "Antiordung". In dem kurzen Essay beschreibt Liebnitz (bzw. Gruber), wie das postmoderne Denken der französischen Meisterschwurbler Deleuze, Guattari, Foucault, Derrida et al. auf den Um- und Schleichwegen der Schlagworte, Bruchstücke, Muster und Stimmungen in den metapolitischen Raum gesickert ist und das "grundsätzliche Unterlaufen jeder bestehenden und potentiellen politischen Ordnung und, noch schwerwiegender, das Unterlaufen jedes Versuchs zur Setzung geistiger und symbolischer Ordnungen" zum Modus Operandi in diesem Weltteil wurde (wobei sich den französischen Schienenwölfen natürlich noch die Sprengkommandos der Frankfurter Schule und in Deutschland überdies eine vom Generalknacks der vergangenheitsbewältigenden Nationalverachtung befallene Intellektuellen- und Akademikergeneration abräumlüstern beigesellten).

Wie auch immer die Einflussnahme auf den heutigen Zeitgeist im Nachhinein verteilt ist, jedenfalls etablierte sich die "Struktur als Feindbild", während die Grenzüberschreitung zur "Meistermetapher" avancierte. Gilles Deleuzes Auffassungen mögen dafür als symptomatisch gelten: Er war antikapitalistisch, "antifaschistisch", agitierte für Immigration, überhaupt die Beseitigung von Grenzen, außerdem die Öffnung von Gefängnissen und die Freigabe der Pädophilie. Umgekehrt denunzierten die gallischen Trendesigner jede Art von Macht, Autorität und Tradition. "Die poststrukturalistische Kritik ist maßlos. Sie will keine Mißstände beseitigen, was sich auch daran zeigt, daß Foucault nicht müde wurde, die Reformbemühungen seit der Aufklärung als heimtückische Ausweitung von Macht und Herrschaft zu kritisieren." Chomeinis islamische Revolution im Iran fand der schwule machtkritische Idiot savant übrigens lobenswert; schließlich war sie antiwestlich.

Heute lösen die Black Lives Matters-Krawalle in Übersee viele Verheißungen der Poststrukturalisten ein, speziell in den Stadtteilen, aus denen sich die Polizei (die "Macht") freundlicherweise zurückgezogen hat. Was eine Öffnung der Gefängnisse – oder, da der Name Foucault fiel, der Psychiatrien – für die Gesellschaft draußen bedeuten würde, interessierte diese Theoriebastler nicht. Ihre "konsequenzblinde Blauäugigkeit", notiert Liebnitz (eigentlich: Gruber), "entspricht genau der Haltung, mit der Merkel und Co 2015 über die Risiken der deutschen Grenzöffnung hinwegsahen". Dass Foucault im Reiche der Mullahs an einem Baukran hängend mit dem Winde getändelt hätte, sofern er seine erotischen Obsessionen auch dort bekennerhaft auszuleben versucht haben würde, sei hier aus einem fatalen Hang zum vollständigen Bild noch beiläufig erwähnt.

"Das durch die Postmoderne herrschend gewordene Ressentiment gegen alles Festgefügte, gegen Religion, Traditionen, Normen, symbolische und reale Grenzen, die Verflüssigung jeglicher Verbindlichkeit und deren schließliches Verdampfen beschädigen nicht nur die Familie, Gemeinschaft und die Widerstandskraft europäischer Gesellschaften, die sich selbst nicht mehr in ihrer Geschichte erkennen und bejahen können; sie bereiten diese Gesellschaften zugleich auf die Übernahme durch eine totalitäre Ideologie vor", statuiert Liebnitz (auch: Gruber). Nolens volens, mag man hinzufügen.

Derridas "Dekonstruktion" – es wird "destruiert und eben nicht de-konstruiert" – vergleicht sie mit einem Glasperlenspiel: "eine unverbindliche, selbstbezügliche Spielerei, die jederzeit durch etwas anderes ersetzt werden kann (Hervorhebung von mir – M.K.). Die Frage ist, durch was. Womit ist dieses Denken bzw. Mähren kompatibel?

"Das postmoderne Denken befand und befindet sich in einer Art prästabilierter Harmonie mit dem siegreichen Liberalismus und der fortschreitenden Globalisierung", stellt Liebnitz fest. "Weit davon entfernt, so kritisch zu sein, wie es vorgibt, ist das postmoderne Denken die symbolische Darstellung (Repräsentation) der entgrenzten globalisierten Konsumgesellschaft mit ihrer ganzen Beliebigkeit. ... Die Dekonstruktion und mit ihr die gesamte Postmoderne ist durch ihre servile Spiegelung des Hyperliberalismus ein unglaublich erfolgreicher Fall von Metapolitik." (Insofern sei übrigens der Begriff "Kulturmarxismus" irreführend, denn speziell unter dem Gesichtspunkt von Ordnungsvorstellungen könne der Unterschied zur klassischen Linken nicht größer sein.)

Ein besonders alarmierendes Symptom des gesellschaftlichen Zerfalls sieht Liebnitz in der Spaltung von Alt und Jung. Der aktuelle Jugendkult, "der sich in einer Elterngeneration ausdrückt, die ihren Kindern bei der Weltrettung hinterherhechelt", habe eine "grundsätzliche Asymmetrie zwischen den Generationen" erzeugt. "Die unzweideutige Hetze gegen die Älteren, denen zwar nicht der singuläre Wohlstand, wohl aber alle Probleme der Welt angerechnet werden, ist ein historisches Novum. Eine gefahrenblinde, 'verhausschweinte' Gesellschaft war schon gegen die Risiken offener Grenzen blind." Die Zersetzung der Familienbande und die Schwärzung der Vergangenheit habe "einen Golem geschaffen ... Erst fallen die Statuen. Was fällt dann?"

Wenn eine Gesellschaft ihrem Zerfall in eine Antiordnung entgegensteuert, müsste sie eigentlich im Chaos enden. Doch, wie eingangs erwähnt, läuft Liebnitz' Prognose auf das Gegenteil hinaus: "Genau die Herrschaftsform, die alles in unerhörter Weise verflüssigt und aufgelöst hat, ist im Begriffe, sich weiter und weiter zu verfestigen und im Wege der Überwachung eine 'Dichte' zu erreichen, wie sie früheren Generationen unbekannt war."

Wenn man sieht, wie derzeit mit Maschinenpistolen bewaffneter Polizisten über Bahnhöfe und durch Züge streifen, um die Einhaltung der Maskenpflicht zu kontrollieren (hier am Berliner Hauptbahnhof):


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..., dann hat man kaum den Eindruck, dass dieser Staat für die absolute Ordnung nicht bereit wäre. Er muss sie ja nicht gleich in sämtlichen Landesteilen durchsetzen, sondern nur dort, wo die Steuern gezahlt und erwirtschaftet werden.  MK

("Leben unterm Regenbogen" können Sie hier bestellen, "Antiordnung" hier.)

 

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