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Samstag, 12. Dezember 2020

Neuer Sinn für Angemessenheit


 Es gibt jetzt eine neue Maßeinheit: der Söder. Ein Söder entspricht der mittleren Transportkapazität eines personenbefördernden Flugzeugs. Vor Corona stürzten täglich 6,4 Söder ab. Nach Corona auch 6,4 Söder.




Läßt sich über den Populismus noch etwas Neues sagen? Wohl nicht. Mancher sieht in ihm eine Mutation der Linken, mancher eine Variante des Faschismus, mancher glaubt, es sei der Dritte Weg gefunden. Man prophezeit ihm eine große Zukunft, mancher ein baldiges Ableben. Gegenwärtig hat Konjunktur, wer mit dem raschen Tod des Populismus rechnet.

Nach der Niederlage Trumps, angesichts der Ratlosigkeit der Brexiteers, der Stagnation der Schweizerischen und der Niederlagen der Dänischen Volkspartei, der Tendenz zum Suizid bei der FPÖ und des dauerhaften Richtungsstreits in der AfD scheint es, als ob seine Kraft gebrochen wäre. Allerdings wird dabei übersehen, daß die genannten Bewegungen und zahlreiche andere, die längst vergessen sind, ihre Dynamik immer aus der Reaktion auf konkrete Probleme speisten: den Globalisierungsfolgen, dem europäischen Superstaat, der Übermacht der Bürokratie, dem Verfall der inneren Sicherheit, der Masseneinwanderung, der zunehmenden Macht des Islam.

Keines dieser Probleme ist gelöst. Ganz im Gegenteil, und es spricht nichts dafür, daß sich das in absehbarer Zeit ändert. Was auch mit den Folgen der Corona-Epidemie zu tun hat, der Hemmungslosigkeit des Gelddruckens, dem immer weiter wachsenden Schuldenberg, der inneren Spaltung der EU. Aber mehr noch mit der Borniertheit der Eliten.

Der politisch-mediale Komplex versucht zwar, den Unmut mit Hilfe kosmetischer Eingriffe zu mindern. Aber erfolgreich ist das nicht. Vor allem aber: Selbst die Wirksamkeit des minimalinvasiven Vorgehens, und erst recht die von drastischen Eingriffen, hängt von der Stabilität der Gesamtsituation ab. Deren Voraussetzungen sind: Passivität der Bürger, Wirtschaftswachstum und Umverteilung.

Es spricht wenig dafür, daß sich diese Voraussetzungen aufrechterhalten lassen. Was zwangsläufig Folgen für jene Kombination aus Sozialmanagement und Sprachregime hat, mit der man bisher die materielle wie die ideologische Basis des „Weiter so“ sichern konnte. Entfällt diese Möglichkeit, beginnen Verteilungskämpfe. Bei denen geht es nicht nur um die Frage, welche Ansprüche erhoben werden, sondern auch von wem, und ob diese Ansprüche als legitim zu betrachten sind.

Die tonangebenden Kreise haben sich längst jede Möglichkeit verstellt, überzeugende Antworten zu geben. Das wiederum hält den Nährboden für Populismen fruchtbar, denen es gelingt, klarzumachen, wer die Verantwortung für eine Entwicklung trägt, die unbeherrschbar wird. Womit selbstverständlich noch keine Aussage über die Erfolgsaussicht getroffen wird. Die hängt in erster Linie von dem Personal ab, das an die Spitze tritt.

Das kann auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn es sich um eine Gegen-Elite handelt. Die muß nicht nur hart im Nehmen sein, was die Feindseligkeit der politischen Konkurrenz angeht, sondern auch in bezug auf den antielitären Affekt der eigenen Basis. Der nährt alle Populismen, erschwert aber gleichzeitig die Rekrutierung, Etablierung und Durchsetzung qualifizierter Anführer. Was das heißt, läßt sich an der Entwicklung in Frankreich besonders deutlich ablesen.

Das Land hat in Gestalt des Front beziehungsweise Rassemblement National (RN) die älteste und in vieler Hinsicht erfolgreichste populistische Bewegung hervorgebracht. Aber es bleibt doch zweifelhaft, daß sie jene „gläserne Wand“ durchstoßen kann, die sie von der Macht trennt. Die Formulierung stammt von Eric Zemmour, heute sicher der wichtigste intellektuelle Fürsprecher des RN, der unermüdlich betont, daß es für den ausschlaggebenden Erfolg nicht ausreicht, die Arbeiter und die an den Rand Gedrängten und die Eingeborenen zu sammeln, sondern alles darauf ankommt, daß sich ein Teil der Bürgerlichen „von seinen Interessen lossagt, um sich den kleinen Leuten im Namen der Nation anzuschließen“.

Damit zum deutschen Fall. Erinnern wir uns der Anfänge der AfD im Jahr 2013. Die Berichte über die Gründungsversammlung in Oberursel schilderten meist in spöttischem Ton die Zusammenkunft von gepflegten Herren im Sakko und Damen im Kostüm, Arrivierten aus den wohlhabenden Gemeinden des Taunus, Bankiers, Anwälten, mittelständischen Unternehmern und Redakteuren einer ehemals konservativen Zeitung.

Wer heute an einer Veranstaltung der AfD teilnimmt, weiß, daß davon fast nichts geblieben ist, und mehr noch, daß viele den Exodus derer, die Angst um ihre Reputation haben, für einen Erfolg halten. Diese Art von Genugtuung ist fatal. Nicht nur, weil sie dem Ansatz widerspricht, aus der Alternative eine Volkspartei neuen Typs zu machen, sondern auch, weil sie mit Wirklichkeitsverlust zu tun hat.

Wer seine Hoffnung nicht auf eine Katastrophenstrategie setzt, muß daran interessiert sein, eine politische Kraft zu organisieren, die anziehend wirkt. Anziehend nicht nur auf die sowieso schon Überzeugten oder die Idealisten, anziehend nicht auf die, die sonst kein Hobby haben oder ihren Frust loswerden wollen, sondern anziehend auf den Durchschnitt, den Jedermann, dessen Interesse an Ideologie begrenzt ist und bleiben wird, der seinen Beruf ausübt, eine Familie gründet und ernährt, der für seine Kinder eine Zukunft in einer Heimat wünscht, die sich noch wiedererkennen läßt, und der will, daß dieses Land nicht vor die Hunde geht.

Nur auf diesem Weg kann aus etwas notwendigerweise Schillerndem und Labilem wie dem Populismus eine Kraft werden, die politikfähig ist.   Karlheinz Weißmann

 

Alternativlose Einsichtigkeit

 

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