Auch wer wenig mit dem Namen des einst als „Goethe der Geschichtswissenschaft“ gefeierten Leopold von Ranke verbindet, glaubt zu wissen, es handle sich um jenen Historiker, der seinen Lesern zu „sagen“ versprach, „wie es eigentlich gewesen“, wie es wirklich zugegangen ist in der Weltgeschichte. Was ihn antrieb, in der Vergangenheit nach dieser „objektiven“ Wahrheit zu suchen und sich nicht, wie damals und heute üblich, von weltanschaulichen Rücksichten beeinflussen zu lassen*, begründete Ranke mit der schlichten Feststellung: „Ich habe mich nicht wollen belügen lassen“.
Diese Aura des Unparteiischen scheint hart mit Rankes Karrieredaten zu kontrastieren. Schon den Sprung aus dem faden Dasein als Gymnasiallehrer im kulturell toten Frankfurt an der Oder verdankt der am 21. Dezember 1795 in Wiehe an der Unstrut geborene Sproß eines Thüringer Pastorengeschlechts guten Beziehungen zu den Spitzenbeamten des preußischen Kultusministeriums. Und die beriefen ihn 1825 nicht etwa deshalb als Extraordinarius an die Berliner Universität, weil sie das „Wie es eigentlich gewesen“- Gelöbnis, das er in der Einleitung zu seinem Erstling „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514“ (1824) ablegt, zum Unterpfand ihrer Überzeugung nahmen, mit ihm einen unpolitischen Gelehrten zu befördern. Vielmehr hofften sie, der auf die Neuzeit spezialisierte Ranke werde als konservativer Vertreter seines Faches ein Gegenwicht zu den zahllosen liberalen Kathederhengsten schaffen, die unter dem Joch der monarchisch-feudalen „Restauration“, der Karlsbader Beschlüsse und der „Demagogen-Verfolgung“, ihren burschenschaftlich entflammten Studenten verdächtig oft Vorlesungen über die Geschichte antiker und spätmittelalterlicher Republiken hielten.
Die Erwartungen seiner ministeriellen Gönner schien Ranke zu erfüllen, denn schon 1827 erhielt er zur Belohnung Urlaub für eine mehrmonatige Archivreise nach Österreich und Italien, die er mit ihrer großzügigen Duldung auf vier Jahre ausdehnen durfte. Nach der Rückkehr ins Berliner Lehramt, von 1831 bis zu seinem Tod im Mai 1886, hörte die Gnadensonne nicht mehr auf, ihm zu leuchten. 1834 erfolgte die Berufung zum Ordinarius, 1841 stieg er unter dem mit ihm beinahe befreundeten Friedrich Wilhelm IV., dem „Romantiker auf dem Thron“, zum Historiographen des preußischen Staates auf, 1842 schmückte ihn der Orden Pour le mérite, 1854 ernannte ihn sein König zum Mitglied des preußischen Staatsrats, 1865 erhob ihn Wilhelm I., Bruder und Nachfolger des „Romantikers“, in den Adelsstand, 1882 beglückte den von Eitelkeit nicht freien Mann der „Wirkliche Geheime Rat mit dem Titel Exzellenz“ – und 1885 kam noch der Berliner Ehrenbürgerbrief hinzu.
Schon rein äußerlich schaut diese, Ranke als „Freund des Bestehenden“ (Alfred Dove, 1888) ausweisende Biographie also keineswegs nach Distanz zur Macht aus, wie sie sich notwendig aus der von ihm geforderten Neutralität des Geschichtsforschers hätte ergeben müssen. Doch auch als Berater Friedrich Wilhelms IV. während der 1848er Revolution, als Verteidiger der konstitutionellen Monarchie gegen Demokraten und Liberale, als Publizist und selbst als Historiker, etwa in den Preußens Aufstieg zur Großmacht beifällig darstellenden „Neun Büchern Preußischer Geschichte“ (1847/48), ignorierte Ranke permanent das eigene Objektivitätspostulat**.
Noch 1870/71 habe der greise, nahezu blinde, in seiner gigantischen Privatbibliothek abgeschottet arbeitende Gelehrte, der Bismarcks Einigungspolitik, ungeachtet der ihm konzedierten „wunderbaren Erfolge“, reserviert gegenüberstand, „im frohesten Mitgenusse der herrlichen Gegenwart“ gelebt (Dove). Weil er mit dem Sieg über Frankreich den seit 1789 ausgefochtenen Kampf zwischen dem revolutionären und dem konservativen Europa zugunsten des letzteren endlich für entschieden hielt.
Was bleibt von dem, in der Selbstverpflichtung zur Unparteilichkeit
wurzelnden Ruhm des „größten Geschichtsschreibers neuerer Zeiten“
(Hermann Oncken, 1936) angesichts solcher Zeugnisse, die politische
Bindungen, Vorliebe für sozial-patriarchalische Ordnungen sowie
religiöse Dispositionen, denen zufolge der Historiker den Gang Gottes in
der Weltgeschichte studieren solle, zuhauf dokumentieren? Aus denen
Widersacher wie Heinrich Heine früh das Bild vom „reaktionären
Hofhistoriker“ formten. Habe sich der überhaupt unterschieden von
Kollegen wie Johann Gustav Droysen oder Heinrich von Treitschke, die in
ihren Werken offen politische Ziele propagierten?
Klaffen wissenschaftlicher Anspruch und eine Wirklichkeit, in der es die Norm war und ist, Geschichte als Waffe zu gebrauchen, deshalb nicht weit auseinander? Tarnt sich hier nur ein konservativer Ideologe? Heuchelt Ranke, wenn er seinen methodologischen Purismus von 1825 im vielzitierten Satz radikalisiert: „Ich wünsche mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“ („Englische Geschichte, vornehmlich im 17. Jahrhundert“, Band 1, 1859)?
Diese Fragen sind mit einem klaren, wenn auch leicht einzuschränkenden Nein zu beantworten. Die jüngere Ranke-Literatur, kulminierend im magistralen Werk von Günter Johannes Henz („Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung“, 2014), hat die disziplinäre „Gründungssage“, wonach Erkenntnis von Geschichte ohne Interesse möglich sei, zwar zu „dekonstruieren“ versucht. Aber bei allen berechtigten Einwänden verkannt, daß quellengesättigte „Objektivität“ für Ranke ein nie zu erfüllendes, aber unablässig anzustrebendes Ideal war.
Dem kam der Protestant in der Frucht seiner italienischen Studien, „Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 17. Jahrhundert“ (1834- 1836), sowie in der ebenfalls konfessionelle Unabhängigkeit beweisenden „Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (1839–1843), tatsächlich am nächsten. Mit dem Blick auf haltungsgeschädigte Historikerscharen, die heute mit Journalisten darin wetteifern, sich dem Zeitgeist zu unterwerfen, sollte das weiterhin Maßstäbe setzen, bleibt Ranke eine aktuelle Provokation. Wolfgang Müller in der JF
Ein großer Historiker befindet sich in der selben Situation wie ein Tragödienautor. (so ähnlich drückte sich Ernst Jünger aus)
*oder gar - wie Treitschke forderte - dezidiert natiozentrisch-propagandistisch vorzugehen.
** "Objektivität ist die Illusion, dass es Beobachtung ohne Beobachter geben kann", sagte Heinz von Foerster. Was Popper Objektivität nannte, ist in Wirklichkeit nur intersubjektiv ausgehandelter Konsens. Immerhin ist das mehr als unreflektierte Subjektivität.
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