Stationen

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Hubertus Knabe bleibt unbestechlich

 

Wer in den vergangenen Wochen mit offenen Augen durch Berlin lief, der konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das politische Plakat in Deutschland eine Renaissance erlebt. Da, wo normalerweise für Flatrates, Dessous oder Bier geworben wird, schlagen einem immer häufiger politische Losungen entgegen.
«Bei uns ist Klimaschutz mehr als Fassade», verkündeten zum Beispiel Deutschlands Wohnbaugenossenschaften auf mannshohen Plakaten. «Berlin sagt Ja zum CO2-Ausgleich», behauptete der Shell-Konzern auf einem riesigen Fassadentransparent. Und die Stadtregierung forderte von ihren Bürgern auf Hunderten von Werbetafeln: «Berliner: Tragt, was ihr wollt. Hauptsache, Maske.» So viel politische Agitation auf den Strassen der Hauptstadt kennt man sonst nur aus Wahlkampfzeiten.

Ehemalige DDR-Bürger fühlen sich zunehmend an alte Zeiten erinnert. Im Sozialismus gehörte die «Sichtagitation» – wie das Anbringen politischer Botschaften im öffentlichen Raum hiess – zum Alltag. «Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Frieden», war da am Strassenrand in grossen Lettern zu lesen. «Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden», verkündeten Stelltafeln vor volkseigenen Betrieben. Und Plakatwände mit Friedenstaube und Ähren versprachen: «Alles für das Wohl des Menschen. Alles für das Glück des Volkes.»
Im Unterschied zu heute wurde die politische Agitation in der DDR indes zentral gesteuert. Im Zentralkomitee der SED gab es dafür eine eigene Abteilung, die auch die einzige Werbeagentur der DDR lenkte: die Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft (Dewag). Darüber stand der mächtige ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda, der – zusammen mit einigen weiteren Spitzenfunktionären in der Agitationskommission der SED – auch die Losungen für die Kampagnen vorgab.
Solche Sekretäre gab es nicht nur an der Spitze von SED und FDJ, sondern in jeder Grundorganisation – zum Beispiel am Zentralinstitut für Physikalische Chemie, wo Angela Merkel einst bei der FDJ diesen Posten bekleidete.

Die Wurzeln dieser Agitation – die sich laut Lenin von der Propaganda dadurch unterscheidet, dass sie sich auf wenige zentrale Botschaften beschränkt – reichen bis in die Anfänge der Sowjetunion zurück. Die Bolschewiki setzten damals im grossen Stil Plakate ein, um ihre Botschaften in der häufig wenig gebildeten Bevölkerung effektiver zu verbreiten. Die russische Telegrafenagentur Rosta «übersetzte» zu diesem Zweck aktuelle Nachrichten in eingängige Grafiken und Parolen, die dann in Ladenfenstern, Bahnhöfen oder auf öffentlichen Plätzen aufgehängt wurden.
Auch die SED griff auf diese bewährte Form der Agitation zurück. Wie Katharina Klotz in ihrer Dissertation über die «politische Ikonographie der sozialistischen Sichtagitation» ausführt, bildete das Plakat in der Frühzeit der DDR sogar das bedeutendste Kommunikationsmittel der Politik. Die zuständige Abteilung Agitation gab damals vor, was auch heute noch viele Werbeagenturen leiten dürfte: «Das Plakat muss offensiv, aktuell, originell und kühn in der Idee und Form sein. Es muss die Aufmerksamkeit erwecken und Verstand und Gefühl des Betrachters zu eigenen Schlussfolgerungen und Taten anregen.»
Genau das gelang in der späten DDR allerdings immer seltener. Nach vierzig Jahren Sichtagitation hatte diese vor allem eines zur Folge – Abstumpfung. Die Parolen standen zudem immer offensichtlicher im Gegensatz zur Realität. Im Oktober 1986 beschloss der Ministerrat der DDR, die Sichtagitation zurückzufahren. Was blieb, war das Misstrauen vieler Ostdeutscher gegenüber plumper politischer Propaganda – vor allem wenn sie von staatlicher Seite kam.

Im vereinigten Deutschland sprach der Staat die Bürger lange Zeit nur in Ausnahmefällen mit Plakaten an. In der Regel ging es dabei um eher unpolitische Themen wie Nachwuchswerbung für die Bundeswehr oder Appelle zur Benutzung von Präservativen. Politische Agitation blieb meistens gemeinnützigen Organisationen vorbehalten, denen die Werbeunternehmen in auftragsarmen Zeiten Plakatflächen zur Verfügung stellen.
Diese aus historischer Erfahrung resultierende Zurückhaltung des Staates hat in den letzten Jahren merklich nachgelassen. Wie es scheint, vertraut eine wachsende Zahl von Politikern immer weniger der Überzeugungskraft ihrer eigenen Politik. Sie setzen deshalb immer häufiger auf grosse – und teure – Werbekampagnen, um die Bürger zu beeinflussen.


Vorreiter bei dieser Entwicklung war das Bundesfamilienministerium. Nach der Übernahme des Ministeriums durch die SPD Ende 2013 gab es nicht mehr nur die üblichen Plakate zum Jugendschutz, sondern eine wachsende Zahl von Motiven mit politischer Stossrichtung. Das Geld dafür kam in der Regel aus dem von der damaligen Ministerin Manuela Schwesig aus der Taufe gehobenen Programm «Demokratie leben», dessen Etat sich in wenigen Jahren fast verdreifachte – von 40,5 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 115,5 Millionen Euro im Jahr 2020.
Um die Nachfrage nach den Mitteln des Programms anzukurbeln, erhielt die Agentur Scholz & Friends 2017 den Auftrag zu einer deutschlandweiten Werbekampagne. Vor kurzem hat die grosse Koalition beschlossen, das Budget noch einmal nahezu zu verdoppeln – auf 200 Millionen Euro im Jahr 2023. Auch in diesen Wochen ist das Familienministerium mit Plakaten präsent, auf denen unter anderem behauptet wird: «Rassismus ist ein echtes Problem in Deutschland.»
Das ebenfalls SPD-geführte Bundesumweltministerium geht inzwischen ähnlich vor. Das Spektrum seiner Kampagnen reicht von Slogans wie «Zusammen ist es Klimaschutz» über «Wir schützen Insekten» bis hin zur politischen Forderung «Nein zur Wegwerfgesellschaft». 2017 liess die damalige Umweltministerin Barbara Hendricks in über siebzig Städten selbsterfundene Bauernregeln plakatieren wie zum Beispiel: «Steht das Schwein auf einem Bein, ist der Schweinestall zu klein.» Weil sich viele Bauern dadurch verunglimpft sahen, hagelte es massive Proteste. Auf seiner Website bezeichnet das Ministerium hingegen die Kampagnen als «Kommunikation für eine breite gesellschaftliche Beteiligung und Akzeptanz».
Auch das Justizministerium – das von allen Bundesministerien den kleinsten Etat hat – ist inzwischen auf den Zug aufgesprungen. Im vergangenen Jahr liess es in ganz Deutschland die Parole «Wir sind Rechtsstaat» plakatieren. Auf den Werbetafeln wurde ein reichlich euphemistisches Bild des Rechtsstaates in der Bundesrepublik gezeichnet. Auf einem waren zum Beispiel zwei gutgelaunte Männer auf einem Tandem zu sehen, der eine mit einer muslimischen, der andere mit einer jüdischen Kopfbedeckung, neben sich das Bekenntnis: «Wir glauben an die Freiheit. Und an die Freiheit des Glaubens.» Ein anderes Motiv zeigte eine Richterin zusammen mit dem Slogan: «Wir schützen vor Willkür. Und schwören auf Gerechtigkeit.»

Die Kampagne kostete über fünf Millionen Euro – weshalb die FDP den Bundesrechnungshof einschaltete. Der Haushaltsexperte Otto Fricke erklärte, die Bundesregierung solle das Geld besser in Massnahmen zur Stärkung des Rechtsstaates statt in «bunte Plakate mit Feel-good-Botschaften» stecken.

Eine beispiellose Ausweitung der Agitation auf deutschen Strassen hat freilich erst im Zuge der Corona-Pandemie Platz gegriffen. Laut Schätzungen stiegen die Werbeausgaben der Bundesregierung zwischen 2019 und 2020 von 60 auf 150 Millionen Euro. Den Löwenanteil daran verbrauchte das CDU-geführte Bundesministerium für Gesundheit, dessen Werbeausgaben sich gegenüber 2019 mit 65 Millionen Euro mehr als verzwanzigfachten.
Allein die Kampagne «Zusammen gegen Corona» kostete etwa 35 Millionen Euro. Bei ihr geht es nicht nur um Aufklärung, sondern auch um die Erziehung der Bürger zu einem anderen Verhalten. Der Hashtag «#FürMichFürUns» appelliert zudem – wie viele Kampagnen – an ein abstraktes gesellschaftliches Kollektiv, was vielen Ostdeutschen noch aus der SED-Propaganda unangenehm in Erinnerung ist.
Dabei ist die Bundesregierung nicht der einzige Akteur, der derzeit mit Plakaten auf die Bürger einzuwirken sucht. Auch viele Landesregierungen und Unternehmen haben eigene Kampagnen entwickelt. Berlin liess es sich zum Beispiel eine Million Euro kosten, in der ganzen Stadt Losungen wie «Maske auf. Sonst Lokal zu» anzubringen. Ein anderes Plakat der Stadt zeigte eine grimmige ältere Dame, die unter dem Schriftzug «Der erhobene Zeigefinger für alle ohne Maske» den Stinkefinger zeigte. Nach heftigen Protesten wurde es nach wenigen Tagen jedoch wieder aus dem Verkehr gezogen.
Zur Flut politischer Botschaften im öffentlichen Raum hat freilich auch die Wirtschaft beigetragen. So gaben die grossen Handelsunternehmen allein im März 22,9 Millionen Euro für «Corona-Werbung» aus, die Telekommunikationsanbieter immerhin rund 5 Millionen Euro. Auch bei diesen Kampagnen geht es in der Regel um die Erziehung der Menschen zu einem anderen Verhalten und um die Erzeugung eines neuen Wir-Gefühls.
Dass die millionenschweren Kampagnen tatsächlich die beabsichtigte Wirkung haben, darf bezweifelt werden. In der DDR hat die Politisierung des öffentlichen Raums jedenfalls nicht den gewünschten Effekt zur Folge gehabt. Im Gegenteil: Sie hat die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft vertieft, weil die Kommunikation nur in eine Richtung verlief und viele die Losungen als unglaubwürdig empfanden.

Nicht wenige hat sie sogar in ihrer Ablehnung des politischen Systems bestärkt, weil sie sich auf Schritt und Tritt indoktriniert fühlten. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Kommunikation und den tatsächlichen Problemen der Menschen bildete am Ende eine zentrale Ursache für den Zusammenbruch des SED-Regimes. Man kann die DDR daher durchaus als Warnung verstehen, die zeigt, wozu ein Übermass an politischer Agitation führen kann.   NZZ

 

Die SED-Vögte besaßen im Gegensatz zu den heutigen Eiferern noch nicht die Geschmacklosigkeit, die Fassade von Schinkels Altem Museum für ihre Propaganda zu missbrauchen (gegen Hetze... Wer hätte das gedacht!)

 

Speziell zu Weihnachten sagt Knabe: "Das spartanische Weihnachtsfest 2020 erinnert manchen Ostdeutschen an alte Zeiten. Auch in der DDR gehörte das Schlangestehen bei kalten Temperaturen zur Vorweihnachtszeit. Die Restaurants waren zwar nicht geschlossen, aber Schilder mit der Aufschrift „Sie werden platziert“ hinderten viele am Eintreten. Glitzernde Shopping Malls gab es schon gar nicht im Arbeiter- und Bauernstaat.
Eigentlich war das ganze Weihnachtsfest der SED ein Dorn im Auge. Denn die Geburt Jesu Christi zu feiern, passte nicht in das ideologische Programm der ostdeutschen Kommunisten. „Religion,“ so hatte es der Führer der russischen Bolschewiki, Wladimir I. Lenin, gelehrt, „ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen.“

Während Weihnachten in der Sowjetunion deshalb ein ganz normaler Arbeitstag war und das Fest mit Tannenbaum und Geschenken kurzerhand auf Silvester verlegt wurde, war die SED im Kampf gegen die christliche Tradition weniger erfolgreich. Zwar gelang es ihr, Konfirmation und Firmung zum größten Teil durch die kommunistische Jugendweihe zu ersetzen, doch am Weihnachtsfest hielten die Ostdeutschen hartnäckig fest. Selbst das Politbüro legte am Jahresende eine zweiwöchige Sitzungspause ein.
Die DDR-Führung verlegte sich deshalb darauf, das Fest von seinen religiösen Wurzeln abzukoppeln. Von der Geburt Jesu oder vom Christkind war offiziell so gut wie nie die Rede. Stattdessen sprachen die Staatsmedien nur von Weihnachten oder schlicht von den Festtagen. Das Krippenspiel wurde zum Weihnachtsspiel, das Weihnachtsgeld hieß Jahresendprämie, die Weihnachtsfeier im Betrieb nannte sich offiziell Jahresendfeier. Der immer wieder kolportierte Begriff der Jahresendflügelfigur für die pausbäckigen Engelchen aus dem Erzgebirge fand sich bislang allerdings in keinem Dokument." Mehr hier.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.