Wenn eines vielleicht gar nicht mehr so fernen Tages die Historiker, Kulturwissenschaftler, Psychologen sich den Kopf darüber zerbrechen werden, wie es zugegangen ist mit dieser armen, dummen Bundesrepublik, die nach außen so lange erfolgreich schien und trotzdem gescheitert ist an ihrer Autoaggression, ihrem Selbsthaß, der Realitätsverneinung, an der Stupidität ihrer Eliten und der Duldungsstarre der Regierten – dann wird man auch die Kunstwerke heranziehen, um nach subkutanen Botschaften zu forschen, die auf das Ende hinwiesen. Die meisten werden sich bloß als Symptome der Krankheit herausstellen. Die Filme, Kunstprojekte und Schriften von Hans-Jürgen Syberberg aber enthalten eine Diagnose.
Im Zentrum von Syberbergs Werks steht die in den 1970er Jahren entstandene Deutschland-Trilogie. Der Film „Ludwig. Requiem für einen jungfräulichen König“ besteht aus einer Abfolge von Träumen, Visionen, mythischen Allegorien und Inszenierungen, die das Leben des tragisch geendeten Bayernkönigs Ludwig II., des Bewunderers und Förderers Richard Wagners, von innen ausleuchten.
Menschenscheu und von der eigenen Hoheit überzeugt, versteht er sein Königtum als höchsten Ausdruck persönlicher Autonomie. Doch ist es ein Korsett, das ihn in eine banale und formale Existenz hineinzwingt. Er flüchtet sich in eine Märchenwelt aus Mittelalter-Phantasien, neuerrichteten Schlössern, künstlichen Grotten und Wagner-Musik.
Während Ludwig sich abschirmt gegen die Welt, verleibt der Held des „Karl May“-Films sie sich als Kolportage-Dichter und falscher Weltreisender ein. Nie betretene exotische Weiten sind die Schauplätze seiner Phantasien. Er macht seine Mitwelt glauben, als realer Autor mit dem Ich-Erzähler seiner Bücher identisch zu sein und alles selbst erlebt zu haben. Seine Abenteuer- sind Erlösungsphantasien, denn bevor er der auflagenstärkste deutsche Schriftsteller wurde, war er ein Landstreicher, Dieb, Hochstapler und Zuchthäusler.
Beide, Ludwig und Karl May, verwandeln ihr Leben in ein wagnerianisches Gesamtkunstwerk. Den kulturgeschichtlichen Hintergrund bildet die Romantik. Da ist zum einen Kleist, dem auf Erden nicht zu helfen war, und zum anderen Novalis, der die Welt romantisieren wollte, um das „niedere Selbst“ zu „einem besseren Selbst“ zu qualifizieren. „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
Die Romantik war ein internationales Phänomen, mit der sich Geist, Phantasie, Individualität gegen die zermalmende Kraft der Massengesellschaft zu behaupten versuchten. In Deutschland wurde sie auch politisch und mußte ersetzen, was an realer politischer Macht fehlte. In Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ heißt es: „Franzosen und Russen gehört das Land. Das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten.“
Der letzte öffentliche Auftritt Karl Mays war sein Vortrag „Empor ins Reich der Edelmenschen!“ 1912 in Wien. Syberberg plaziert im Publikum Adolf Hitler und zitiert den Satz aus „Mein Kampf“: „Was an Waffen zur Freiheit fehlt, muß immer der Wille ersetzen.“ In „Hitler, ein Film aus Deutschland“, entsteigt der „Führer“ dem Grab Richard Wagners, um aus Deutschland ein Gesamtkunstwerk nach seinem Willen zu formen.
Als in der Realität sein Paladin Ribbentrop Mitte März 1945 um die Erlaubnis bittet, Kontakt mit den Kriegsgegnern aufzunehmen, hört er sich stundenlang in pausenloser Wiederholung „Isoldes Liebestod“ und „Feuerzauber“ aus der „Walküre“ an und fällt dann die Entscheidung: Lieber im Kampf fallen, als mit dem Feind zu verhandeln! Der politische Ästhetizismus ist umgeschlagen in den totalen Nihilismus.
Zusammen mit dem Interviewfilm „Winifred Wagner – Die Geschichte des Hauses Wahnfried“ (1975) illustriert die Filmtrilogie, was Theodor Heuss über den 8. Mai 1945 sagte: Er sei „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte (…) Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ Denn die Erlösung vom bösen Wahn rückte auch das Gute und Schöne, das von ihm pervertiert worden war, ins Zwielicht. Die Chance, es vor der Vernichtung zu retten, bestand darin, die politische Romantik in den Orkus zu verbanden, andererseits der Kunst, Kultur und Wissenschaft jenen subjektiven, spekulativen, auch irrationalen Überschuß zu belassen, ohne den sie verdorren.
Es kam anders. „Das Ende eines Wintermärchens“ – das im Titel des dritten Teils des „Hitler“-Films verkündet wird – verband sich mit dem „Endsieg des Fortschritts“ auf sämtlichen Gebieten. Das Paradoxon aus Erlösung und Vernichtung wurde durch die politisch-romantische „Befreiungs“-These ersetzt, die in der Absolutheit so falsch ist, daß sie sich nur als neurotischer Selbstläufer behaupten kann, der alle Bestände abräumt.
Die neurotisierten „Kinder der Hölle“ – so heißt der vierte Teil des „Hitler“-Films – trieb es bis in den RAF-Terrorismus: Für Syberberg „eine verzweifelte Revolte von Teilen der jungen Generation, die bis zum selbstzerstörerischen Amoklauf gehen kann. „Die Kinder der Nazi-Generation: ihre Aktionen sind sinnloser und nihilistischer als die der bloßen Verlierer und Opfer“, nachzulesen in den 1981 erschienenen „Notizen aus dem Totenland einer freudlosen Gesellschaft“.
Syberberg wurde 1935 im vorpommerschen Nossendorf bei Demmin als Sohn eines Gutsbesitzers geboren. 1953 ging er in die Bundesrepublik, studierte und promovierte. Nach der Wiedervereinigung kehrte er in sein marodes Elternhaus zurück. Seit 20 Jahren veröffentlicht er von hier aus Tag für Tag ein reich bebildertes Internet-Tagebuch. Es dokumentiert die Sanierung des Hauses, den Lauf der Jahreszeiten, den Versuch, der Verhäßlichung der Welt im Kleinen etwas entgegenzusetzen, das Streben nach harmonischer Ganzheit. Es ist ein romantisches Projekt, das sich jedoch von der Welt weder abwendet noch sich ihr aufdrängt.
Syberbergs Nossendorf ist wie Fontanes Stechlinsee: Wenn es draußen in der Welt rollt und grollt, „(dann) regt sich’s auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe“.
Am 8. Dezember wird der letzte deutsche Magus 85 Jahre alt. Er möge seine Botschaften noch lange aussenden. Thorsten Hinz
Dienstag, 8. Dezember 2020
Syberberg wird 85
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