Stationen

Dienstag, 11. Dezember 2018

Östlich von Hessen beginnt Europa

Vor einigen Tagen fuhr ich nach Prag, um dort mit Matthias Matussek und dem CSU-Politiker Martin Kastler am Cevro-Institut über die Zukunft des Konservatismus zu diskutieren. Bei dem Cevro-Institut handelt es sich um eine private Hochschule mit einer recht internationalen Studentenschaft. Zukunft des Konservatismus, das Thema interessierte mich. Es berührt meine Ansichten als Libertärer, ohne sich mit ihnen ganz zu decken. Leute mit mathematischem Interesse wissen, was es mit Näherungswerten und Teilmengen auf sich hat. Außerdem hatte mir die freundliche Einladung eine Gratisgelegenheit geboten, Prag zum ersten Mal seit meinem letzten Besuch 1985 wiederzusehen und vergleichende Laienwissenschaft zu betreiben.
Das Auditorium war trotz der Vorweihnachtszeit gut gefüllt.

Es fehlte, angesichts des Themas, die aus Deutschland vertraute Protestabordnung, die das Ereignis zu verhindern suchte. Als ich vor ein paar Wochen bei der Konferenz „Freiheit unternehmen“ der Students for Liberty an der Universität Jena zu einer Podiumsdiskussion über Politische Korrektheit eingeladen war, kam ich gerade an, als der übliche Antifa- und Junge-Irgendwas-Trupp wieder abmarschiert war. Deren Anliegen hatte nicht darin bestanden, mitzudiskutieren, wozu sie zwar nicht auf dem Podium, aber im Saal natürlich herzlich eingeladen gewesen wären, sondern die ihrer Meinung nach faschistische und rassistische Konferenz zu verhindern. Wozu ihr dann allerdings doch die Truppenstärke fehlte, besonders plietsch waren sie außerdem auch nicht, ihr Manifest las sich noch dümmer als Verlautbarungen der Antifa Nord oder Kommentare von Hengameh Stokowski.
In Berlin hätte es vermutlich anders ausgesehen, was Verhinderung angeht. Die entsprechende Bewegung stammt von dem Schlachtfeld der US-Universitäten und nennt sich de-platforming: Es geht nicht darum, gegen andere anzuargumentieren, sondern sie daran zu hindern, ihre Argumente vorzubringen. Wie gesagt, in Prag gibt es das Phänomen der schwarzen Deplatformgarden nicht.
Es fallen auch ein paar andere Unterschiede ins Auge. Unsere famose und patente Diskussionsmoderatorin und Fremdenführerin Alexandra Mostyn zeigte uns den Weihnachtsmarkt auf dem Altstadtplatz.

Kein einziger Polizist mit Schutzweste und sicherheitsgefühlfördernder Kugelspritze dort. Das verstärkt den Kontrast zum so genannten Weihnachtsmarkt auf dem Potsdamer Platz in Berlin noch ein bisschen, aber eigentlich nur unwesentlich, denn lauschiger als in dieser betonplattenumstellten Depressionsförderungsanlage ist es praktisch in allen Städten der Welt.

Am Tag nach der Diskussion im Cevros-Institut spazierte ich zur Altneu-Synagoge in der Maiselova, die ich bis dahin nur von Erwähnungen in den Tagebüchern Franz Kafkas kannte, dessen Geburtshaus ganz in der Nähe steht. Auf dem verschlossenen Dachboden der um 1270 errichteten Altneuschul liegen gerüchteweise die Reste des von Rabbi Löw geschaffenen Golem. Eine andere Legende sagt, dass Tauben – allerdings Tauben himmlischer Abstammung – das Haus bisher vor jedem Feuer schützten. Jedenfalls handelt es sich um die älteste Synagoge Europas, eines der ältesten Gebäude Prags, kaum verändert durch die Jahrhunderte.

Der Besucher muss den Knauf einer kleinen Eisentür drehen, dann steigt er herab, denn der Boden liegt unter dem Straßenniveau. Es fehlen auch hier Polizisten und Eingangskontrollen, wie es sie in Deutschland und Frankreich vor jeder wichtigen jüdischen Einrichtung gibt. Nebenan vor dem alten Judenrathaus mit der rückwärtslaufenden Uhr, in dem heute die jüdische Gemeinde der Stadt sitzt, steht ein Zivilist, der Touristen nützliche Hinweise gibt. Beispielsweise, wo die nächste Toilette ist (im jüdischen Informationszentrum gegenüber).

Nirgends Wachposten, auch vor dem jüdischen Museum in der Maiselsynagoge nicht. Das liegt vermutlich nicht nur an den Taubenflügeln und Golemresten, sondern daran, dass es im Land keine gewalttätigen Muslime gibt. Gewiss, die Gewalttätigen machen immer nur einen Bruchteil der Muslime aus. Aber wo schon die islamische Gemeinde sehr überschaubar ist, kommt dieser Bruchteil offenbar gar nicht erst zusammen.

Wie Alexandra Mostyn versichert, kann sich eine Frau in Prag problemlos auch nachts um zwei durch die Altstadt bewegen und selbst über den hinteren Teil des Wenzelsplatzes, wo spätabends alles Mögliche feilgeboten wird („unser Görlitzer Park“, so AM). Natürlich nicht so grün wie das Berliner Pendant.

In Prag ist also vieles von dem gar nicht erst auf die Plattform geraten, was Berlins Wirtschaftssenatorin Ramona Pop in der vergangenen Woche unter „Vielfalt, Tempo und Lebenslust“ eindrucksvoll zusammenfasste. Nämlich in einem Tweet an ihre grüne Parteihassgestalt Boris Palmer, der aus dem von ihm regierten Tübingen für ganz kurze Zeit in den „Reichshauptslum“ (Don Alphonso) gereist war. Er fasste seinen Provinzlereindruck mit dem Satz zusammen, an Berlins Stadtrand gehörten Schilder mit der Aufschrift „Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands“.
Die Berliner Erregungsmaschine funktionierte allerdings Ruckzug. Pop tweetete also an Palmer:
„Wenn du Metropole, Vielfalt, Tempo und Lebenslust nicht erträgst, kannst du anderswo die Kehrwoche zelebrieren und dich als Hilfssheriff blamieren.“

Und Sawsan Chebli, Staatssekretärin für Allerhand und Sprecherin aller Berliner, informierte Palmer auf Twitter: „Wir Berliner brauchen Sie hier nicht.“ Im übrigen, stellte Chebli fest, würde Palmer an einer „gefährlichen Sucht nach Aufmerksamkeit“ leiden. Rätselhaft bleibt, was Pop mit Tempo meinte. Selbst der Abriss des BER geht ja ausgesprochen schleppend voran; kürzlich wurde – vermutlich durch einen übereifrigen Mitarbeiter – entdeckt, dass die Kabelschächte des Flughafens unter Wasser stehen. Es muss also alles raus, sofern sich Kabel drin befinden.

Was echtes Berliner Tempo beziehungsweise „soso, die Lebenslust“ (der Musterungsarzt in „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull”) angeht: Das spielt sich vor allem im entschieden nichtstaatlichen Bereich beziehungsweise auf den hinteren Zeitungsseiten ab. In der vergangenen Woche schoss ein Deutschalbaner einem Nebenbuhler auf der Straße in den Kopf. Vor einigen Wochen erwischte eine Kugel irgendwie unbeabsichtigt eine Frau bei einem Streit in einem Café, davor belegte irgendjemand wegen Mißhelligkeiten einen Laden mit der Schrotflinte. Im September erschoss jemand den Clanchef Nidal R. auf dem Tempelhofer Feld, wo er flanierte. In kaum einer anderen Stadt wird so temporeich geballert, denn überreich existieren in dieser Stadt nicht nur nach teuflischem Ratschluss über die Straßen gewürfelte Baustellen, Tauben ungöttlicher Abkunft, Wachschutz auf allen Weihnachtsmärkten und vor allen jüdischen Einrichtungen (gut, das gibt es flächendeckend in ganz Deutschland), mobile Apotheker und öffentliche Toiletten in ihrer Doppelfunktion als U-Bahnhöfe, sondern eben auch Schießwaren aller Art.

Übrigens auch so viel Arbeit für Schimmelbekämpfer wie nirgends sonst. Im ersten Halbjahr 2018 gab Berlin 6 814 897 Euro für die Schimmelbeseitigung im Gesundheitsamt Mitte und die Anmietung von Ersatzquartieren aus, dazu kommen noch ein paar schimmelnde Schulen, die selbst für Hauptslumverhältnisse als versifft gelten.
Sicherlich, in Berlin findet man – so viel Gerechtigkeit muss sein, außerdem lebe ich unterbrochen von Münchenaufenthalten dort – auch sehr schöne Ecken, nämlich die, in die der Senat mit seinem Jauchespritzmopp nicht hinkommt.
Vielleicht hilft ja etwas Lehm von der Prager Judenschul, jedenfalls bräuchte Berlin einen mit KI aufgerüsteten Golem, der die Berliner vor dieser Stadtregierung beschützt. Von mir aus kann er auch das Gesicht von Boris Palmer haben.    Wendt


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