Normalerweise erscheinen auf Publico persönliche, aber keine höchstpersönlichen Beiträge, also Texte in Ich-Form. Der Autor gehört nämlich zu einer Journalistengeneration, für die es sich nicht gehörte, in der ersten Person zu schreiben. Um davon abzuweichen, bedarf es guter Gründe. Die Geschichte über die 16-jährige Schülerin in Ribnitz-Damgarten, die der Schulleiter aus dem Unterricht holte, um sie mit drei Polizeibeamten zu einem Aufklärungsgespräch im Rektoratszimmer zu führen, rechtfertigt die Ausnahme. Denn sie erinnert mich an meine Schulzeit. Das Richard-Wossidlo-Gymnasium in der mecklenburgischen Stadt sieht deutlich schicker aus als die Schulgebäude in der kleinen sächsischen Stadt, in denen ich in den achtziger Jahren mal lernte, mal nicht. Der Direktor in Ribnitz-Damgarten namens Jan-Dirk Zimmermann drückt sich vermutlich geschmeidiger und medienaffiner aus als die leitenden Pädagogen, die ich damals erlebte. Und selbstverständlich sehen die Polizisten heute anders aus, sie benehmen sich auch anders. Schließlich handelt es sich auch um ein anderes Land. Da ich beide kenne, kann ich die Unterschiede ganz gut beurteilen. Die Ähnlichkeiten allerdings auch. Ein bestimmter Typus Mensch bleibt zeit- und systemübergreifend erhalten. Abseits günstiger Bedingungen zieht er sich in Nischen zurück, in einem für ihn vorteilhaften Klima hingegen blüht er auf und neigt dazu, sein Einflussgebiet stark zu vergrößern. In Herrn Zimmermann, der übrigens gar nicht aus der Täterä stammt, sondern aus dem fernsten Westen, aus Aachen, erkenne ich bestimmte Figuren aus meiner Jugendzeit wieder. Und nicht nur Figuren. Die Geschichte aus Ribnitz-Damgarten bringt tief unten abgespeicherte Erinnerungen wieder nach oben. Mir kommt es in solchen Momenten vor, als würde mein früheres Leben in eine zweite Runde gehen, auf einem etwas anders (besser) ausgeschmückten Parcours, aber prinzipiell der gleichen Strecke. Das würde immerhin meine chronische Müdigkeit erklären.
Bevor es um die Zeit vor etwa vierzig Jahren geht, soll es hier schnell noch eine kurze Übersicht darüber gegeben werden, was sich in Ribnitz-Damgarten zutrug. Wie schon erwähnt, holte am 27. Februar 2024 der Direktor mit Polizeibegleitung eine 16-jährige Schülerin der 9. Klasse mit Polizeibegleitung aus dem Unterricht. Es folgte ein Gespräch der drei Beamten mit dem Mädchen in Anwesenheit des Schulleiters. Den Anlass lieferte eine bisher anonym gebliebene Tippgeberin, die insgesamt acht Posts der Schülerin auf TikTok und Instagram mit Screenshots dokumentierte. Darunter befand sich ein Post mit dem Schriftzug ’nix yallah yallah‘. Ein anderer zeigt sie mit einem Kapuzenpullover mit dem HH-Logo der Marke Helly Hansen, einer norwegischen Firma, deren Kleidung Hunderttausende tragen. Irgendwo kommt die Zahl 1161 vor, angeblich ein Code für ‚Anti-Antifa‘. Genau das steht auch noch ganz uncodiert in ihrem Profil: „Anti-antifa“. Weitere Botschaften: „In Deutschland wird deutsch gesprochen“; „heimat freiheit tradition, multikulti endstation“. Nichts davon erfüllt irgendeinen Straftatbestand. Das sieht auch die Polizei nicht anders.
Durch seine Veröffentlichungen legt das Mädchen nah, dass sie keine Linken mag. Die muss aber auch niemand mögen. Was sie an Symbolik benutzt, lässt vermuten, dass sie in ihrem Antilinkssein relativ weit rechts steht. Aber eben nicht in einer Weise, dass es Polizei und Staatsanwaltschaft etwas angeht. In diesem Land finden immerhin auch Solidaritätsdemos für untergetauchte RAF-Mitglieder statt, andere können sehr selbstbewusst öffentlich die Kalifat- und Schariaherrschaft fordern. Alles in allem entspricht das Mädchen dem ebenfalls zeitübergreifenden Teenagertyp, der unbedingt das Gegenteil dessen vertreten will, was seine Lehrer und Politiker der Regierungsparteien gut finden (in Mecklenburg-Vorpommern sind das die SPD und die mehrmals umbenannte SED). Sechzehnjährige verfügen meist noch nicht über ein ausgefeiltes Weltbild; sie lassen sich eher von dem Reflex leiten, auf Knöpfe zu drücken, an denen Autoritäten das Schild angebracht haben: Drücken streng untersagt. Bis jetzt lässt sich nicht erkennen, warum sich der Schulleiter überhaupt bemüßigt fühlte, die Polizei zu holen. Dass die TikTok- und Instagram-Äußerungen des Mädchens unter Meinungsfreiheit fallen, hätten die Beamten auch am Rechner auf ihrem Revier feststellen können. Unklar bleibt auch, auf welcher Rechtsgrundlage das Gespräch mit der Schülerin stattfand. Der Innenminister meinte zunächst im Landtag, es habe sich um eine „Gefährderansprache“ gehandelt. Dafür gibt es in Mecklenburg-Vorpommern keine gesetzliche Grundlage. In anderen Bundesländern existieren entsprechende Regelungen; sie sehen allerdings vor, dass eine konkrete Gefahr von einer Person ausgehen oder Tatsachen vorliegen müssen, die eine Gefährdung der Öffentlichkeit erwarten lassen. Außerdem schreiben sie vor, dass Gespräche dieser Art mit Minderjährigen nur in Anwesenheit eines gesetzlichen Vertreters stattfinden dürfen.
Mittlerweile erklären Polizei und Schulministerium die eigenartige Konversation an der Schule zum „Aufklärungsgespräch“. Ein „Aufklärungsgespräch“ von Polizeibeamten mit einem Bürger, gegen den überhaupt nichts vorliegt, kennt die bundesdeutsche Rechtsordnung allerdings nicht. Schon gar nicht über dessen private politische Ansichten. Der Staat benahm sich mit dieser Aktion und anschließend in seiner Öffentlichkeitsarbeit, als die Sache in die Presse kam, nicht neutral, um es vorsichtig zu sagen. Wenn die Polizei verbreitet, die Jugendliche habe auf einem geposteten Foto ein Oberteil mit den eingestickten Buchstaben HH getragen und Journalisten damit inoffiziell darauf hinweist, das könne für „Heil Hitler“ stehen, dann entsteht ein anderes Bild, als wenn die Behörde nur erklärt hätte, sie trage auf einem Bild einen Helly-Hansen-Kapuzenpulli. Vor allem stellt sich die Frage, warum der Innenminister nicht einfach einräumte, hier sei wohl ein Polizeieinsatz ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, sondern herumtönte, das Mädchen sei ja schließlich nicht in Handschellen abgeführt worden, sie solle sich also nicht so haben.
In meinen sächsischen Kleinstadtzeiten herrschten wirklich andere Bedingungen. Um Verfahrensregeln scherte sich der damals realexistierende Staat von vornherein nicht. Seine Repräsentanten konnten also auch nicht dagegen verstoßen. Unbotmäßige Presseorgane und unkontrollierte soziale Medien störten nicht einmal punktuell. In der DDR gab es zwar eine unüberschaubare Vorschriftenfülle, aber eben nur für die Standardbürger, nicht für ihre Aufseher. Die einzige öffentlich bekannte Festlegung zur Arbeit der Staatssicherheit beispielsweise bestand in dem Gesetz über die Gründung des MfS aus dem Jahr 1950. Alles Weitere entschied das Organ selbst. So ging es vertikal durch den Staat. Natürlich stand nirgendwo, wie eine sogenannte Aussprache in der Schule formal zu laufen hatte, zu der ich genauso wie republikweit tausende andere irgendwie auffällige Schüler zitiert wurde. Es gab nur eine Grundkonstellation: Der Delinquent saß immer allein mehreren anderen gegenüber. Die Deutungshoheit über Gesprächsverlauf und -ergebnis lag immer bei ihnen. Dieses Überwältigungsprinzip scheint in Mecklenburg-Vorpommern immer noch bestens zu funktionieren.
Zum ersten Mal zitierte mich der Schuldirektor in der neunten Klasse zu sich und irgendeinem Dabeisitzer. Ich hatte aufgrund der damals in allen Schulen üblichen Ermahnungen wegen Schwatzens und allerlei anderer Dinge Ausweise einer von mir erfundenen Schülergewerkschaft gezeichnet, mit Logo, Stempel und allem Drum und Dran. Meine Gewerkschaft kämpfte unter anderem für zehn Minuten offizielle Kommunikationspause während der Unterrichtsstunde. Zugegeben keine brillante Leistung, aber für einen Fünfzehnjährigen auch nicht übermäßig albern. Ich liebte es, offiziell aussehende Dokumente und sogar Briefmarken zu zeichnen. Mein Werk fiel einem Lehrer in die Hände und – das hatte ich nicht bedacht – außerdem zeitlich zusammen mit den ersten Erfolgen der Gewerkschaft Solidarność im nicht mehr ganz so sozialistischen Bruderland Polen. Eine von Arbeitern organisierte Gewerkschaft verstand die Partei der Arbeiterklasse als konterrevolutionäre Kraft, in ihrer etwas verworrenen Dialektik noch nicht einmal zu Unrecht. Die DDR-Presse behandelte Polen als unzuverlässigen Staat, der, wie es heute heißen würde, abdriftete. Jedenfalls nahm der Schulleiter die Angelegenheit vollkommen ernst. Aussprachen besaßen natürlich nie den Charakter eines Gesprächs, sondern eines Verhörs. Was ich mir dabei gedacht hätte? Bei dieser Weltlage? Wahrheitsgemäß antwortete ich, ich hätte mir so gut wie nichts dabei gedacht. Es folgten ausführliche Hinweise auf die große Gefährlichkeit meiner Zeichnerei. Und: Nie wieder! Sonst könne ich das Abitur nämlich vergessen. Der Direktor gehörte übrigens nicht zu den Fanatikern. Er wollte hauptsächlich für sich selbst Ärger mit übergeordneten Kräften vermeiden.
An dieser Stelle muss ich einflechten, dass ich über zwei Bonuspunkte verfügte. Erstens hatte ich es einmal geschafft, bei einer Mathematikolympiade auf Kreisebene zu gewinnen. Eher aus Versehen und zu meiner Überraschung, mit niedriger Punktzahl und in einem schwachen Jahrgang, aber immerhin. Unsere Schule besaß einen Ruf wie Donnerhall bei Sportwettkämpfen; Mathe-Medaillen räumte nur sehr selten jemand ab. Diese Steigerung des Ansehens freute den Direktor. Außerdem bestand ich in der achten Klasse die Aufnahmeprüfung für die sogenannte Abendklasse an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, wo Jugendliche ab 14 einen Mal- und Zeichenkurs belegen durften. Das Etikett Künstler verschaffte mir eine Art Unzurechnungsfähigkeitsbescheinigung, also das, was man damals umgangssprachlich einen Jagdschein nannte. In der recht exotischen Kombination mit der Mathesache machte sich das gut. Deshalb und – wie der Direktor mir einschärfte – wegen meines jugendlichen Alters sah er mir die Gewerkschaftsgründung insofern nach, dass er meinen Wechsel an die Erweiterte Oberschule (EOS) nicht verhinderte. Der wackelte noch einmal heftig, als ich in einer Unterrichtsstunde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR anders einschätzte als das „Neue Deutschland“. Es gab wieder eine Aussprache. Verwarnung! An der Erweiterten Oberschule herrschte dann eine deutlich sorgfältigere politische Aufsicht. Die Schulleiterin war Gattin eines Politoffiziers. Ihre Hauptsorge bestand nicht darin, Schwierigkeiten mit höheren Stellen zu vermeiden. Sie wollte deutlich mehr als nur ihre Pflicht tun. Hier gab es eine schon deutlich verschärfte Aussprache, weil ich gesagt hatte – es ging um Spielzeugmodelle von NVA-Panzern und irgendwie auch um den gerade eingeführten Wehrkundeunterricht –, ich würde Kriegsspielzeug ablehnen (damals war ich pazifistischer als heute). In der erwähnten Aussprache belehrte mich der Staatsbürgerkundelehrer, die Bezeichnung laute „patriotisches Spielzeug“; wenn ich das als Kriegsspielzeug bezeichnete, würde ich behaupten, die NVA wolle Krieg und das sei westliche Propaganda. In diesem Fall schwallte er auch meine Mutter mit seiner Warnung voll, ich würde noch einmal große Schwierigkeiten bekommen.
Wobei: Weder der alte Schuldirektor noch die EOS-Direkteuse oder der Staatsbürgerkundewilli waren je so verrückt, die Polizei oder sonstige außerschulische Unterstützung heranzutelefonieren. Die nächsten ein- und zudringlichen Gespräche führten mehrere Autoritäten mit mir, um mich von einem dreijährigen Dienst in der NVA zu überzeugen. Warum diese Leute ausgerechnet mich zum Unteroffizier machen wollten, also den dafür am wenigsten geeigneten Menschen der Republik, erschloss sich mir nie. Bei dem ersten Gespräch dieser Art bekam ich mitgeteilt, wenn ich mich nicht verpflichtete, würde es aber schwierig mit einem Studienplatz. Im letzten lautete die Ansage, da ich meine Ansicht nicht geändert hätte, könne ich ein Studium eben vergessen – egal, welches Fach. Und eingezogen würde ich dann erst mit 27, „wenn Sie Frau und Kinder haben“.
Es gab in der DDR keine Verpflichtung, länger als 18 Monate bei der Armee zu dienen. Überhaupt existierten deutlich weniger formale Mitwirkungszwänge, als heute viele West- und später geborene Ostdeutsche glauben. Niemand musste zur Demonstration am 1. Mai erscheinen. Der Eintritt in die SED oder eine Blockpartei geschah freiwillig. Niemand musste heimlich der Staatssicherheit zuarbeiten. Für einen Direktor bestand keine direkte Pflicht, Schüler mit abweichenden Tendenzen zur Aussprache zu zitieren. Und selbst wenn er es tat, konnte er die Angelegenheit als Formsache behandeln. Er konnte aber auch dafür sorgen, dass der Schüler nicht zum Abitur zugelassen wurde. Der Staat verfügte über eine große Auswahl meist informeller Mittel, um die Lebenswege seiner Bürger zu beeinflussen. Die DDR-Bevölkerung teilte sich grob in diejenigen ein, die inbrünstig an die Richtigkeit der Ordnung glaubten; in den Typus, der die gebotenen Aufstiegschancen nutzte, ohne dafür eine Weltanschauung zu verinnerlichen, in die Durchwurstler, diejenigen, die sich ganz zurückzogen und in den kleinen und stark spitzeldurchsetzten Haufen der Oppositionellen. In meiner Abiturklasse lehnten es nur noch zwei andere Jungs ab, länger als 18 Monate zur Armee zu gehen. Viele in meinem Jahrgang traten schon mit 18 in die SED ein. Sie taten das, weil man das eben so machte, um nach dem Studium in Leitungsposten aufzusteigen. Politische Überzeugungen spielten bei ihnen kaum eine Rolle. Gesprächsweise stellte ich fest, dass ich offenbar als Einziger in der Klasse tatsächlich ein bisschen Marx gelesen hatte.
Eine Formulierung wiederholte sich in den Aussprachen immer wieder,
nämlich die Versicherung der Aussprecher, sie würden sich große Sorgen
um mich machen. Ich hätte doch Talente. Ob ich mir wirklich den Weg
verbauen wolle? Diesen gallertigen passiv-aggressiven
Wir-wollen-doch-nur-dein-Bestes-Tonfall, mit dem die Beamten nach
Schilderung des Schul- und Innenministeriums in Ribnitz-Damgarten auf
das Mädchen einredeten, kenne ich also aus eigener Erfahrung. Auch der
überdauert offenbar Zeiten und Epochen.
Von dem, was die DDR an Mitteln und Möglichkeiten bot, um widerwillige
Untertanen kleinzukriegen, lernte ich so gut wie nichts kennen. Noch
nicht einmal den allerersten Kreis der verschiedenen Höllen. Es gab
Jugendwerkhöfe für die Jüngeren, Gefängnisse für Ältere, den Armeeknast
Schwedt für Soldaten, die aus der Reihe tanzten, es gab routinierte
Zwangsernährung mit Kieferausrenken und Schlauch in den Magen, falls
jemand auf die Idee kam, es als Insasse dieser Institutionen
mit einem Hungerstreik zu versuchen. Diejenigen, die dieses volkseigene
Schinderkombinat betrieben, gehörten zu den widerwärtigsten
Erscheinungen, glaubten aber oder legten es sich zumindest so zurecht,
dass sie damit dem höchsten Menschheitsglück dienten. Der Satz: „Wo
gehobelt wird, fallen Späne“ gehört auch zu den Wendungen, die alle
angeblichen Geschichtsbrüche überstehen.
Wie gesagt, nichts von diesen Bösartigkeiten bekam ich mit. Ich konnte nicht studieren, das war alles. Ich arbeitete in verschiedenen Berufen, ab und zu verkaufte ich ein Bild. Mein Jagdschein half mir manchmal. Einmal, als ich im äußersten Westen des Berliner Ostens die Vorlandmauer (die Mauer vor der Mauer) an dem Stück Spree hinter dem Bahnhof Friedrichstraße zeichnete, kam ein Polizist und fragte, was ich da machen würde. Ich antwortete: Zeichnen, das mache ich öfter, und zeigte ihm mein Skizzenbuch. Er blätterte darin, gab es mir zurück und meinte: „Aha, Künstler.“ Erst später fiel mir auf, dass er das in fast dem gleichen Tonfall sagte wie der Gehilfe von Zahnstocher-Charly in „Manche mögen‘s heiß“, nachdem er in der Garagenszene die Instrumentenkästen von Jack Lemmon und Tony Curtis inspiziert hat und feststellt, dass sie wirklich nur Instrumente enthalten: „Musiker“.
Aus der Skizze machte ich eine Radierung.
Im Herbst 1989 arbeitete ich als Gärtner eines Künstlers in Leipzig, vermutlich als einziger Privatgärtner der ganzen Stadt. Von meinem Arbeitsplatz schaffte ich es ab Ende September bequem mit der Straßenbahn zu den Montagsdemonstrationen. Irgendwelche staatlichen Autoritäten, die mich deshalb in ihre Büros bestellen konnten, gab es in meiner Umgebung nicht mehr. Ab Ende 1989 begann ich, als Journalist für das „Sächsische Tageblatt“ zu schreiben. Auf einmal erwies es sich als vorteilhaft, weder an der Karl-Marx-Universität Journalismus studiert noch einer DDR-Partei angehört zu haben. Um die NVA war ich auch herumgekommen, während die meisten meiner Klassenkameraden dort drei ihrer Lebensjahre totgeschlagen hatten. Als einige von ihnen ihr eben angefangenes und jetzt abgewickeltes Gesellschaftswissenschaftsstudium verlassen mussten, bot mir die Zeitung eine Redakteursstelle an. Ich beklage mich nicht, ich beklage mich nicht (um eine zweite Lieblingsfilmszene zu zitieren).
Ich bestehe darauf, in der DDR nicht Opfer, sondern Täter gewesen zu sein. Ich lebte noch und sogar viel besser, als viele, die sich damals große Sorgen um mich machten, es für mich gern festgelegt hätten. Sie, die Tätärä, war tot. Jedenfalls für den Augenblick. Ich erlebte damals zusammen mit Leuten, denen es ähnlich ergangen war wie mir, die beste Zeit überhaupt, eine halkyonische Phase des Inruhegelassenwerdens. Jüngere glauben das womöglich nicht, aber es gab diese wunderbaren Jahre tatsächlich. Die völlig ungestörte Idylle innerhalb dieser Zeit begann am 9. 11.1989 und endete am 11.9.2001. Die einen Quälgeister, so dachten wir in dieser leichten Zeit jedenfalls, lagen endgültig begraben. Die neuen machten sich noch nicht bemerkbar. Dass die Mutanten der einen und die Strategen der anderen einmal eine Allianz bilden würden, wäre keinem von uns auch nur spaßeshalber in den Sinn gekommen. Eher, dachten wir, tanzt Helmut Kohl mit Brustwarzenpiercing auf der CSD-Parade in Berlin mit, als dass diese beiden jemals zusammenfinden.
Ich hätte es damals für genauso unmöglich gehalten, dass noch einmal eine von westdeutschen Freunden als ganz neu empfundene Zeit anbrechen würde, in der Ministerinnen erklären, auch Meinungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze müssten bekämpft werden; in der Personen Eingang in ein staatlich finanziertes Register finden, die denken, es gebe nur zwei biologische Geschlechter; in der sich der Inlandsgeheimdienst um die Bekämpfung von legalen politischen Ansichten kümmert, die er für staatsdelegitimierend hält, was laut Behördenchef schon bei nicht näher beschriebenen „Denkmustern“ beginnt. Ich hätte keinen Gedanken an die bloße Möglichkeit verschwendet, dass einmal nicht gewählte Personen auf EU-Ebene in einem freihändigen Verfahren festlegen würde, welche Meinungen in die Rubrik „schädliche Inhalte“ fallen.
Polizisten, die einen Bürger in Bayern auf seinem Grundstück in Gmund
heimsuchen und eine Anklage gegen ihn, weil er zwei harmlose Plakate
zur Verspottung führender grüner Politiker aufstellte? Noch 2022 hätte
ich gesagt: Schlecht erfundene Dystopie.
Und nicht nur 1990, auch 2015 und sogar noch 2020 hätte ich versucht,
jedem die Befürchtung auszureden, in Deutschland könnte die Polizei
ausrücken, um eine 16-jährige Schülerin, gegen die strafrechtlich nichts
vorliegt, wegen ihrer politischen Ansichten unter Druck zu setzen.
Bei diesen Ansichten handelt es sich tatsächlich um kulturell rechte und
nicht einfach nur bürgerliche Versatzstücke. Das sollte eigentlich
gerade bei den Wohlmeinenden zu der Frage führen, warum Jugendliche, die
ihre Lehrer und überhaupt die tonangebende Klasse heute triggern
wollen, sich nicht mehr aus dem linken Fundus bedienen. Früher verstand
sich das ja zumindest im Westen von selbst. (Und selbst im Osten fragten
Dialektiker, siehe oben, warum der Staat im Sozialismus nicht wie von
Marx vorausgesagt allmählich abstarb, sondern sich bis in den letzten
Winkel ausdehnte.)
Darauf, also auf die erste der beiden Fragen, gibt es eine ziemlich
naheliegende Antwort. In einer Zeit, da ein regierungsnaher Ethikrat die
Rückkehr zur Planwirtschaft vorschlägt, in der die Präsidentin des
Bundesgerichtshofs meint, der Kapitalismus müsse überwunden werden,
in der eine Journalistin von Talkshow zu Talkshow zieht, um ihre Idee
einer staatlich gelenkten Kriegswirtschaft zu bewerben, in der es zum
medialen Mainstream gehört, Bewohner von zu großen Wohnungen und Aktiensparer zu Plünderungssubjekten zu erklären,
besitzen Che-Guevara-Poster, Venezuelabegeisterung, Lenin-Sätze und
Hammersichelaufnäher an der Jacke ungefähr den Provokationswert eines
Lacoste-Poloshirts – von Bernie-Sanders-Zitaten gar nicht erst zu reden.
Wer heute in diesem Alter verbotene Knöpfe drücken will, der äußert
sich beispielsweise lobend über Javier Milei, zitiert das Urteil Johnny Rottens über die Linke oder übernimmt eben den im Netz aufgesammelten Spruch ‘multikulti endstation’
und ein paar andere Sätze und Symbole. Auch der ganz klassisch
klassenkämpferische Einsatz für die bedrohten Arbeiter der
Autozuliefererindustrie besitzt mittlerweile seinen Reiz.
Eine Neuntklässlerin wählt wahrscheinlich eher leicht kopierbares
Material aus dem Netz, als sich mit Milei zu befassen. Aber je dichter
Kirchen, Medien, NGOs und Politiker in ihrer Begeisterung für
Wirtschaftslenkung und autoritär-progressive Öffentlichkeitskontrolle
zusammenstehen und gegen rechts kämpfen, desto mehr schaut sich
zumindest ein Teil der ganz Jungen nach irgendetwas um, was möglichst
weit weg davon liegt. Je allergischer der politisch-mediale Komplex
darauf reagiert, desto interessanter für alle, die das Bedürfnis nach
Krawall verspüren. Manche Teenager lassen sich ganz gern von Mücken- auf
Elefantengröße bringen. So, wie es immer den Direktorentypus von damals
und heute geben wird, stirbt der distinktionsbedürftige Jugendliche
nicht aus. Auch jener Phänotyp wird nie verschwinden, der dann, wenn die
Zeiten sich wieder einmal ändern – nie ganz tief, aber relativ – allen
versichert, er habe früher schon sehr vieles kritisch gesehen,
Schlimmeres verhindert und Vieles nicht geahnt. Sollte ich das noch
einmal erleben, dann weiß ich, dass auch die biografische Runde zwei
komplett hinter mir liegt. Für den dritten Durchgang fehlt mir die
Lebenszeit, gottseidank. Alexander Wendt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.