In Deutschland gab es seit 2019 bislang zehn bundesweite Bürgerräte. Sie werden prinzipiell durch Los ermittelt und sollen im Sinne einer direkten Bürgerbeteiligung die Demokratie fördern. Bei näherem Hinsehen erhärtet sich jedoch der Verdacht, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Und nicht nur Regierung und Parlament, sondern auch Vereine und Stiftungen können Bürgerräte in die Wege leiten. Der erste vom Bundestag ausgeschriebene Bürgerrat beispielsweise tagte von September 2023 bis Januar 2024 zum Thema „Ernährung im Wandel“ und lieferte Empfehlungen, die in bemerkenswerter Weise mit der „Zukunftskommission Landwirtschaft“ der Bundesregierung und der aktuellen Landwirtschaftsstrategie der EU übereinstimmen. Demnach sollen etwa Fleischersatzprodukte künftig als Grundnahrungsmittel gelten und Fleisch höher besteuert werden. Am 12. September nahm nun Bundesinnenministerin Nancy Faeser das Gutachten des Bürgerrates „Forum gegen Fakes“ entgegen, in dem es um Maßnahmen zur Bekämpfung von Desinformation geht. Da die Mitglieder der Bürgerräte nicht gewählt sind und somit kein demokratisches Mandat haben, sind ihre Empfehlungen zwar formal unverbindlich, dennoch will das Bundesinnenministerium die Ergebnisse des Gutachtens ausdrücklich in die Entwicklung einer neuen Strategie der Bundesregierung zum Umgang mit Desinformation einfließen lassen. Da trifft es sich abermals ausgezeichnet, dass die Forderungen des Bürgerrats die Zensurbestrebungen Faesers und der EU-Kommission sogar noch übertreffen.
Zum Beispiel wünscht sich der Bürgerrat verpflichtende Maßnahmen zur Medienkompetenz an Bildungseinrichtungen, wobei bereits Schüler ab dem dritten Schuljahr berücksichtigt werden müssten. Zusätzlich sollten Workshops für Unternehmen, Institutionen und soziale Einrichtungen wie Altenheime angeboten und ein „Desinformationsranking“ von Aussagen politischer Akteure während Wahlkämpfen eingeführt werden. Dieses Ranking solle von einem gemeinwohlorientierten, unabhängigen Medienhaus wie – ausgerechnet! – Correctiv erstellt werden. Auch ein Gütesiegel für qualitativen Journalismus möchte der Bürgerrat einführen. Außerdem spricht sich der Bürgerrat dafür aus, dass große Internetplattformen gesetzlich verpflichtet werden, eine Abgabenquote in Höhe von einem Prozent ihres Jahresumsatzes für den Kampf gegen Desinformation vorzuhalten. Und er schlägt vor, jedem Internetnutzer einmal pro Monat einen Beitrag zur Aufklärung über Desinformation vorzuspielen, der wie eine Werbeschaltung mit Timer funktioniert. Vor dem Posten von Inhalten auf Social-Media-Plattformen solle es künftig eine Bedenkzeit von zwei bis fünf Minuten geben, während eine künstliche Intelligenz den Beitrag auf mögliche Desinformation prüft. Offenbar nehmen die Teilnehmer des Forums ihre Mitmenschen nicht als selbstverantwortliche Bürger wahr, die sich ein eigenes Urteil bilden können, sondern als Zöglinge des Staates.
Doch wer steckt wirklich hinter diesem Bürgerrat? Es ist die Bertelsmann-Stiftung! Dazu hat sie sich noch die Umweltstiftung Michael Otto und die Stiftung Mercator mit ins Boot geholt, deren Regierungsnähe geradezu ins Auge springt. So rief die Stiftung Mercator im Jahr 2012 die Denkfabrik Agora Energiewende ins Leben, die Ex-Staatssekretär Patrick Graichen von 2014 bis Ende 2021 leitete und die durch ihre skandalöse Vetternwirtschaft in die Schlagzeilen geraten ist. Und im Kuratorium der Umweltstiftung Michael Otto sitzt neben dem Stifter selbst unter anderem Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der ebenfalls Mitglied der Agora Energiewende ist. Fragt sich also, ob das „Bürgergutachten zum Umgang mit Desinformation“ nicht lediglich ein „Citizen-Washing-Projekt“ ist, mit dem die Politik der Bundesregierung durch einen angeblichen Bürgerwillen abgesegnet werden soll. Statt der Demokratie zu dienen, untergräbt ein derartiger Bürgerrat jedenfalls die Bedeutung des Parlaments und lässt sich für die Interessen von Stiftungen und Konzernen einspannen. Möglicherweise sogar ohne es zu merken. Die kommunistische Räterepublik lässt grüßen! Martina Binnig
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