Wir haben in dieser kleinen „Chronik des Widerstands“ bislang vor allem vom Widerstand „von rechts“ gesprochen; und wie auch immer man das heutzutage allseits verfemte Wörtchen „rechts“ definiert, so schwingt hierbei doch immer das Bekenntnis zu solchen Begriffen wie Gott, Naturrecht, Heimat, Familie und Tradition mit. Ob es nun um Heilige, Feldherrn, Philosophen, Politiker, Wissenschaftler oder Künstler geht: Die Sphäre des „Linken“ haben wir bislang ausgeklammert, wenn auch Figuren wie Sokrates und Galilei aufgrund ihrer anti-traditionellen Schlagseite sicherlich schon in diese Richtung zeigten.
Heute wollen wir dieser Einseitigkeit erneut ein wenig entgegentreten, indem wir uns einer Persönlichkeit, oder genauer gesagt sogar zweier Persönlichkeiten, annehmen, die letzten Endes trotz ihres Idealismus sicherlich eher als Vorläufer sozialistischer denn genuin konservativer Bestrebungen zu werten sind – wenn sie selber diese Beschreibung wohl auch sicher ablehnen würden, teilweise sogar mit guten Gründen. Gemeint ist das berühmte Bruderpaar der Gracchen: Tiberius und Caius Gracchus.
Um das Problem eingangs so kurz wie möglich zu schildern: In einer Zeit immer extremerer sozialer Polarisierung bemühten die Gracchen sich um eine Stärkung der Unter- und Mittelschichten – und gerieten zunehmend in das Fahrwasser egalitaristischer und sozialutopistischer Vorstellungen, die Rom schließlich an den Rand des Bürgerkriegs brachten und wesentlich mitverantwortlich für den Zusammenbruch der Republik wurden. Was war geschehen?
Oft wird behauptet, daß die griechisch-römische Wirtschaft im Wesentlichen auf Sklaverei beruhte. Während dies für den größten Teil der früheren (und späteren) Zeit sicherlich nicht ganz stimmt, ist es für die Mittelmeerwelt der späten römischen Republik durchaus eine angemessene Beschreibung. Die zahlreichen Kriege, die Verwüstung des Ackerlandes, die Vertreibung ganzer Völker, die Versklavung von Kriegsgefangenen, die Landflucht in die großen Städte, eine Schuldenkrise, die vor allem die unteren und mittleren Einkommensschichten betraf, die ausufernde Piraterie, die sich darauf spezialisierte, freie Bürger festzunehmen und als Sklaven zu verkaufen – all das führte zu zwei Konsequenzen: zum einen der Aufstieg einer oligarchischen Elite, die von dieser Situation immens profitierte, zum anderen die Verfügbarkeit großer Massen von Sklaven, die zu lächerlich niedrigen Preisen verkauft wurden.
Infolgedessen starb die traditionelle kleinbäuerliche Landwirtschaft allmählich aus, während die Reichen große, halbindustrielle ländliche „Latifundien“ schufen, die von Sklavenheeren bewirtschafteten wurden – Verhältnisse, die denen im 19. Jahrhundert gar nicht so unähnlich waren (wobei die Sklaven dabei natürlich durch das „Proletariat“ ersetzt werden müssen).
Die Lebensbedingungen der Sklaven waren oft genug erbärmlich, und viele von ihnen erinnerten sich sehr gut daran, daß sie einmal freie Bürger gewesen waren; daher war ihr einziger Wunsch, ihrem derzeitigen Zustand zu entkommen und nach Hause zurückzukehren. Infolgedessen waren das 2. und 1. Jh. v. Chr. von regelmäßigen Sklavenaufständen und sozialen Unruhen geprägt, und oft genug schlossen sich auch die verarmten Unterschichten den marodierenden Horden an, um sich an den reichen Eliten zu rächen, die ihr Unglück ausgenutzt hatten.
Dieses System betraf nicht nur die hellenistische Welt, sondern auch Italien und wurde letztlich von der römischen Regierungsklasse, die der Hauptnutznießer dieser ganzen Entwicklung war, garantiert und sogar noch verstärkt – und es ist leicht zu verstehen, warum die marxistische Geschichtsschreibung ein besonderes Interesse daran hatte, diese Zeit unter dem Blickwinkel des „Klassenkampfes“ zu untersuchen.
Da diese allmähliche soziale Polarisierung zu immer größeren Konflikten und Instabilitäten führte, die den gesamten Mittelmeerraum bedrohten, ist es nicht verwunderlich, daß nicht nur griechische, sondern auch römische Intellektuelle über mögliche Alternativen zum Status quo nachdachten, und daß eine wachsende Zahl von Politikern (später „populares“ genannt) versuchte, die Unzufriedenheit der Massen auszunutzen, um ihre eigenen Ambitionen voranzutreiben und/oder ihre ehrlichen politischen Ideale zu verwirklichen. Am wichtigsten waren hier die beiden Gracchen, wobei zunächst Tiberius Gracchus hervortrat.
133 v. Chr. zu einem der zehn Volkstribunen gewählt, welche einst die Interessen der römischen Plebejer gegen die der vornehmen Patricier zu verteidigen hatten und nun weitgehend mit legislativen und juristischen Funktionen betraut worden waren, revolutionierte Tiberius Gracchus erneut diese Funktion, indem er vorschlug, den von König Attalos dem römischen Staat vermachten Staatsschatz Pergamons dazu zu nutzen, um einen Großteil der weitläufigen Latifundien aufzukaufen, die einstmals im römischen Staatsbesitz waren und später privatisiert worden waren. Sein Ziel: Das Ackerland aufzuteilen und erneut der ärmeren Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Denn die Situation der einkommensschwachen Römer war desaströs, wie Tiberius Gracchus nicht müde wurde zu wiederholen, und bedrohte schließlich sogar die Kampfstärke und Motivation der römischen Legionen:
„Die wilden Tiere, die Italien
bevölkern, haben ihre Höhlen, und für jedes von ihnen gibt es eine
Lagerstätte, einen Schlupfwinkel. Die Männer aber, die für Italien
kämpfen und sterben, haben nichts als Luft und Licht; unstet, ohne Haus
und Heim ziehen sie mit Kindern und Frauen im Land umher. Die Feldherren
lügen, wenn sie in der Schlacht ihre Soldaten aufrufen, Gräber und
Heiligtümer gegen die Feinde zu verteidigen: Keiner von diesen armen
Römern hat ja einen väterlichen Altar, keiner ein Grab seiner Ahnen. Für
Wohlleben und Reichtum anderer kämpfen und sterben sie. Herren der Welt
werden sie genannt – in Wirklichkeit gehört ihnen aber kein Krümel
Erde.“
(Plutarch, Tib. Gracchus 9)
Tiberius Gracchus wurde in seinem Kampf bezeichnenderweise vom stoischen Philosophen Blossius von Cumae unterstützt und möglicherweise sogar inspiriert, der später als einer der ersten sozialistischen Denker galt und von Arnold Toynbee als „hellenistischer Karl Marx“ bezeichnet wurde. Egalitarismus und sogar Kommunismus wurden damals auch in der Antike in der Tat zunehmend als attraktive Alternativen zur dystopischen gesellschaftlichen Alltagsrealität angesehen: Der griechische Dichter Iambulos verfaßte sogar einen äußerst einflußreichen utopischen Reisebericht, in dem er die fiktive Insel „Heliopolis“ beschrieb, deren Bürger dank ihrer Nähe zur Natur, ihres einfachen religiösen Kultes und ihrer egalitären Verfassung ein Leben in dauerhafter Glückseligkeit verbrachten.
Trotzdem würde es zu weit gehen, den Kampf der Gracchen nur unter sozialen Voraussetzungen zu sehen, da ein patriotisch-konservativer Zug nicht ganz unverkennbar ist, wenn dieser Konservatismus auch freilich auf eine Restitution der (idealisierten) frühen römischen Republik und nicht die Konservierung der jüngeren Verhältnisse ausgerichtet war.
Nach anfänglichen Erfolgen wurden die Reformversuche allerdings zu einer Katastrophe für den inneren Frieden Roms: Da Tiberius Gracchus gleich mehrfach die Autorität des Senats und der Buchstaben der Verfassung verletzte, wurden er und seine Anhänger schließlich ermordet. Zunächst hatte er das Vetorecht eines seiner Kollegen ignoriert, diesen dann widerrechtlich absetzen lassen, das Vermögen des Attalos illegal im Namen des Volkes beschlagnahmt und schließlich seine unmittelbare eigene Neuwahl unter Mißachtung der ämterlosen Periode zwischen zwei politischen Amtszeiten durchgesetzt: Kein Wunder, daß der Senat, nunmehr ganz dominiert von den Feinden der „populares“, nämlich den „optimates“, eine Diktatur fürchtete.
Und auch sein Bruder Caius Gracchus, der zehn Jahre später eine ähnliche Politik durchzusetzen versuchte und sich zudem bemühte, auch die italischen Bundesgenossen der Römer in die Umverteilung von Boden und die Verleihung des Bürgerrechts einzubeziehen, wurde schließlich aus mehr oder weniger analogen Gründen in den Selbstmord getrieben und seine Anhänger ermordet.
Wie sind diese Ereignisse zu bewerten? In der „modernen“ Forschung gibt es, wie so oft, das Bestreben, die antiken Quellen zu „dekonstruieren“, um aus dem Streit zwischen Volk und Senat einen Konflikt innerhalb der römischen Elite zu machen: Den Gracchen sei es nicht um soziale Ideale, sondern um ihren Ehrgeiz gegangen, und Unterstützung hätten sie dabei durchaus auch von gewissen Senatskreisen empfangen, die an einer Enteignung der eigenen Konkurrenten interessiert waren.
Nun sind dies tatsächlich Aspekte, die man nicht leichtfertig ignorieren sollte; auch Lenin wurde damals bewußt vom Deutschen Reich nach Rußland eingeschleust, um es von innen zu zersetzen, ohne daß man Wilhelm II. Sympathien mit dem Marxismus nachsagen könnte. Trotzdem wäre es ein großer Fehler zu übersehen, daß die Sorgen, Hoffnungen und Probleme, welche die Umwälzungen des Zarenreichs bewirkten, durchaus realer Natur waren.
Die Gracchen hatten sich, was auch immer bei ihren Handlungen an Kalkül und Manipulation mitgeschwungen haben mag, zum Sprachrohr echter sozialer Probleme gemacht, und auch die Bereitschaft, die römische Verfassung zu brechen und erste Schritte in Richtung einer plebiszitären Diktatur zu machen, entsprang einer gewissen Verzweiflung, die ebenfalls völlig neuartig in der Geschichte Roms war und die Schwere der Lage wie auch die Erosion des bisherigen politischen Konsens unterstreicht.
Was ist hieraus nun für unsere Überlegungen zum „Widerstand“ in der Geschichte zu lernen? Es wäre zu naiv, diese Frage lediglich auf den „Idealismus“ der Gracchen zu beschränken, die zwar zweifellos in Anbetracht der damaligen Umstände für eine „gute“ Sache zu kämpfen glaubten und der Proletarisierung und Pauperisierung breiter Volksmassen ein Ende bereiten wollten – und bereit waren, dafür in den Tod zu gehen.
Denn ab dem Moment, wo Tiberius Gracchus beschloß, das Veto eines seiner Kollegen zu mißachten und systematisch die Verfassung auszuhebeln, indem er sich allein auf die Unterstützung durch diverse Volksentscheide berief und de facto die römische Version der Gewaltenteilung durch eine Art plebiszitärer Diktatur ersetzte, mußte klar sein, daß es kein Zurück mehr gab: Rom mußte entweder zur Alleinherrschaft werden, die so oder so nur durch eine weitgehende Vernichtung der Senatsoligarchie gefestigt werden konnte, oder aber, die Gracchen mußten ihrerseits ihren Versuch mit dem Leben bezahlen – kein Wunder daß der eigentliche Beginn der römischen Bürgerkriege, die schließlich in das Principat des Augustus münden sollten, in der Zeit der Gracchen verortet werden muß.
Wie ist aber nun das Dilemma des „Widerstands“ der Gracchen gegen die Senatsoligarchie zu verorten? Wie so oft in der Geschichte gibt es keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Die Verarmung vieler römischer Bürger wie auch das Leid der in den Latifundien arbeitenden Sklaven (die allerdings nicht wirklich im Zentrum der Ziele der Gracchen standen) waren real, und eine Verbesserung ihrer Lebensumstände ein sicherlich lobenswertes Ziel, auch wenn es eine fundamentale Reform des römischen Staates erzwungen hätte.
Aber wäre der Preis der Errichtung einer plebiszitären Diktatur, welche letztlich nur auf der charismatischen Bändigung der Massen und der Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen mit roher Gewalt beruht hätte, nicht zu hoch gewesen? Durften jahrhundertelang gewachsene politische Strukturen und Besitzverhältnisse, auch wenn sie in der Zwischenzeit tatsächlich blanke Ungerechtigkeiten hervorgerufen hatten, ohne Rücksicht auf das allgemeine Gleichgewicht von Senat und Volk wie von Staat und Reich einfach vom Tisch gewischt werden?
Nachdem das Faß des sozialen Unfriedens einmal von den Gracchen geöffnet worden war, mußte für alle Beteiligten klar gewesen sein, daß es nur noch durch die Stellung der nackten Machtfrage wieder geschlossen werden konnte – und daß letzten Endes die widerstrebenden Interessen von Volk und Senat nur noch durch eine wie auch immer geartete Alleinherrschaft Ausgleich finden konnten.
Dem „Widerstand“ der Gracchen gegen die sozialen Ungerechtigkeiten ihrer Zeit haftete daher von Anfang an auch etwas von einem Vabanque-Spiel an, und diese Skrupellosigkeit dürfte sich nicht erst im Laufe der Zeit durch eine von außen erzwungene Radikalisierung entwickelt haben, sondern war den beiden Politikern vermutlich schon von Anfang an zueigen – auch dies ein bedenklicher Charakterzug, der erneut auf die sozialen und sozialistischen Bewegungen des 19. und v.a. 20. Jhs. verweist.
Und es ist sicherlich kein Zufall, daß der ideologische „spiritus
rector“ der Gracchen, nämlich Blossius von Cumae, nach der Ermordung des
römischen „Patrioten“ Tiberius Gracchus gerade nach Pergamon floh, um
sich dort dem Thronprätendenten Aristonikos anzuschließen, der im Kampf
gegen Rom eine allgemeine Sklavenbefreiung in Gang gesetzt hatte und
einen „Heliopolis“ genannten, mehr oder weniger egalitären Idealstaat zu
gründen versuchte – der dann ebenso wie die Reformversuche der Gracchen
von der römischen Oligarchie in Blut ertränkt wurde … David Engels
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