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Sonntag, 29. September 2024

Europa

In den letzten Jahren haben die europäischen Strukturen einen dramatischen Wandel durchgemacht, der nicht zufällig mit der Amtszeit Angela Merkels und ihrer Taktik der „unpolitischen“ Entscheidungen, der scheinbaren Alternativlosigkeiten, der Moralisierung politischer Optionen, der Verschleierung von Verantwortung und der asymmetrischen Mobilisierung zur Einschläferung der politischen Opponenten koinzidiert. 

Juncker und vor allem Ursula von der Leyen haben viele Aspekte dieser Methoden erfolgreich zur Vervielfältigung der eigenen Macht umgesetzt. Zentral sind hier zwei Aspekte: Zunächst die „Méthode Monnet“, dann die geschickte Ausnutzung historischer Gelegenheiten.

Im Mittelpunkt der „Méthode Monnet“ steht die Technik, eine Kompetenzerweiterung der verschiedenen europäischen Institutionen, allen voran der Kommission, nicht auf bewußte und langwierig demokratisch zu legitimierende Verfahren zu stützen, sondern indirekt aus dem „Sachzwang“ von „Subsidiarität“ und „ever greater Union“ abzuleiten. Denn Hand aufs Herz: So ziemlich alle politischen Entscheidungen lassen sich „irgendwie“ besser auf europäischem als auf nationalem Niveau fällen, wenn man eine auf zunehmende europäische Einigung zielende Betrachtungsebene und nicht eine rein nationale einnimmt. Stück für Stück ließen sich somit einzelne Befugnisse auf die europäische Ebene hinüberziehen, oft genug sogar ausgehend von der Initiative nationaler Politiker und Bürokraten, die unliebsame, aber angeblich notwendige Entscheidungen immer allzu gerne auf „Brüssel“ schoben und somit willige Opfer des dortigen Machthungers wurden, wo aus dem Sündenbock Schritt für Schritt der Tyrann wurde.

Denn – und hier kommen wir zum zweiten Punkt –: Brüssel ist Fleisch vom Fleisch der Nationalstaaten, was nie vergessen werden darf. Die in der EU-Kommission, im EU-Rat und im EU-Parlament sitzenden Politiker sind nicht aus Rußland, China oder Kenia nach Europa geschickt worden, sondern sind allesamt nationale Politiker, deren Karriere eng mit den Interessen ihrer jeweiligen Parteien daheim verknüpft sind, und die nach ihrem europäischen Amt auch wieder in den Nationalstaat zurückkehren. Vor gar nicht so langer Zeit galt die EU noch als langweilig-bräsiges, dafür aber entsprechend vergoldetes Abschiebegleis unbeliebter oder gealterter Nationalpolitiker, die man in Frühpension schicken wollte, ohne daß sie allzuviel Schaden anrichten konnten.

Heute hat sich Brüssel zunehmend zum eigentlichen Kern der Macht gemausert, vor allem, seit die Kommissionspräsidenten Juncker und von der Leyen geschickt die Krisen der letzten zwei Jahrzehnte zum Anlaß der eigenen Machtsteigerung umfunktioniert haben. Denn während es bis dahin vor allem den Wiederaufbau des Kontinents nach dem Fall des Kommunismus zu verwalten galt – hübsch im Trockenen unter dem außenpolitischen Regenschirm der US-Welthegemonie und gedeckt durch die Ideologie vom „Ende der Geschichte“ – ist das Dampfschiff Europa seitdem in unruhigere Fahrwasser geraten. Zumal, da viele der Fehlentscheidungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunnderts erst jetzt begannen, ihre Schattenseiten zu zeigen.

Da wäre etwa die Euro-Rettung zu nennen; Folge der allzu optimistischen Konstruktion der gemeinsamen Währung. Die Konsequenzen waren die Schaffung gemeinsamer Schulden, Budgetkontrollen und eine zunehmende Politisierung und Vergemeinschaftung der europäischen Währung, auch unter dem Einfluß Angela Merkels, die aus dem möglichen Kollaps des Euro schwere Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland ableitete und erstmals eine klare gesamteuropäische Führungsrolle beanspruchte.

Da wäre die Flüchtlings-Krise: Auch hier kam Angela Merkel eine zentrale Rolle bei der Auflösung des Dublin-Systems und der Ausübung erheblichen Drucks auf alle EU-Mitgliedstaaten zu, zum einen ihre Außengrenzen zu öffnen, zum anderen sich an einem „freiwilligen“ Verteilungsmechanismus zu beteiligen. Die EU, unterstützt durch die tonangebende links-liberale Meinungsmehrheit im Parlament, wurde hierdurch informell zu einem wichtigen Akteur im Rahmen der systematischen Verwandlung homogener Nationalstaaten in Multikulti-Gesellschaften – bis heute.

Da wäre der Brexit, nicht zuletzt ausgelöst durch die Merkelsche Arroganz der europäischen Grenzöffnung: Auch wenn der Austritt eines Mitgliedsstaates eigentlich eine Tragödie war, ist es der EU gelungen, hier durch zähe Verhandlungen und den Anspruch auf Neuordnung des gesamten insularen Wirtschaftsbereichs ein Exempel zu statuieren und aus der Situation nicht etwa geschwächt, sondern gestärkt hervorzugehen, wozu natürlich auch die Parteinahme der gesamten britischen Anti-Brexit-Elite beitrug.

Da wäre die „Rechtsstaatlichkeitsprüfung“, de facto eine auf die ganze EU übertragene Version des deutschen „Kampfs gegen rechts“ und der Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes für rein innenpolitische Machtkämpfe: Die systematische, quasi schulmeisterliche Bewertung der Innenpolitik einzelner Mitgliedsstaaten aus der Optik einer ausschließlich linksliberal interpretierten „Rechtsstaatlichkeit“ wurde zu einer zentralen Waffe im Kampf gegen mißliebige konservative Regierungen wie diejenigen in Polen und Ungarn. Ein Vorgang, der von den jeweiligen nationalen Oppositionen tatkräftig unterstützt wurde: Diese versorgten die entsprechenden Diabolisierungskampagnen mit Material, und steuerten sie vor Ort. Die EU, allen voran die Kommission, wurde somit zum obersten „Hüter der Rechtsstaatlichkeit“ und spielte sich mit Parlament und Gerichtshof entsprechend den Ball zu, um überall Regierungen an die Macht zu bringen, die ideologisch gleichgeschaltet sind.

Da wäre die Covid-Krise: Die undurchsichtigen Milliardenverträge mit den großen Pharmabetrieben, die europäische Steuerung der Impfkampagne, die vor unseren Augen geschehende Einführung eines europäischen Impfpasses und die Politisierung der Krise durch Sammlung sowie Verteilung von Covid-Hilfsgeldern ließ erneut die Kommission zu einem zentralen Entscheidungsgremium innerhalb der EU avancieren, und zwar nicht nur im gesundheitlichen Bereich. Und dann wäre da schließlich der Ukraine-Krieg: Nur sechs Tage reichten nach der Selbstaussage von der Leyens aus, im Bereich der gemeinsamen Verteidigung mehr Fortschritte zu machen als vorher in zwei Jahrzehnten.

Wie geht es also weiter? Eine Trump-Präsidentschaft, eine gesteigerte Konkurrenz mit China, eine neue Pandemie, ein weiterer Aufstieg der ominösen „Rechten“, eine Vertiefung des heiß-kalten Kriegs mit Rußland – man darf sich jetzt schon die Frage stellen, inwieweit die neue EU-Kommission diese Probleme zwar nicht wirklich „lösen“, sie aber zur eigenen Machtsteigerung einsetzen wird.

 Folgt nun aber aus dieser Situation nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, die zunehmende Selbstermächtigung der EU-Kommission durch Rückkehr zum Nationalstaat aufzuhalten? Der Verfasser dieser Zeilen würde hierauf mit „Jein“ antworten. Denn natürlich ist – gegenwärtig – der Nationalstaat das letzte Mittel zur Verteidigung all dessen, was vom abendländischen Erbe noch übriggeblieben ist, und sollte, wo auch immer patriotische Regierungen an der Macht sind, geschützt und gestärkt werden: Lieber ein gut funktionierender Nationalstaat als eine woke EU. Vorläufig. Doch auf lange Sicht kann angesichts der wirtschaftlichen und politischen Verflechtung des Kontinents wie auch angesichts des Aufstiegs der neuen großen Zivilisationsstaaten der europäische Nationalstaat nur durch geschicktes Lavieren ein Minimum an Eigenständigkeit behalten, wie Ungarn es gegenwärtig vormacht.

Würde aber fortan jede Nation Europas einen solchen Kurs fahren, wären die innereuropäischen Konflikte vorprogrammiert – und mit ihnen Zerstückelung und Vasallisierung des Kontinents. Der eigentlich entscheidende Kampf wird sich daher in Zukunft nicht zwischen Verfechtern nationaler Souveränität und Verteidigern europäischer Integration abspielen, sondern zwischen linksliberalen Europäisten und abendländischen Patrioten, die eingesehen haben, daß die real existierende EU gegenwärtig zwar der schlimmste Feind des Abendlands ist, europäische Zusammenarbeit aber auch dessen letzte Hoffnung.

Denn es ist unverkennbar, daß in Anbetracht der zunehmenden Multilateralisierung der Welt an die Stelle des extremen Machtgefälles zwischen der Supermacht USA auf der einen Seite und allen restlichen, inkommensurabel unterlegenen Staaten auf der anderen, nunmehr ein neues System von Zivilisationsimperien getreten ist: Nicht nur China, sondern auch Indien, Brasilien und Rußland sind zu ernstzunehmenden Akteuren der Weltpolitik geworden. Zwar sind sie allesamt noch fern davon, auf Augenhöhe mit den USA zu spielen; trotzdem zeigen sich überall supranationale Zusammenballungen von Macht, die früher undenkbar gewesen wären, während gleichzeitig der Stern der USA sinkt, so daß es allmählich zu einer gewissen Angleichung und einem neuen – fragilen – Gleichgewicht der Mächte kommt.

Die Folge für Europa ist ein zunehmendes Machtvakuum, da das Modell des Nationalstaats kaum noch geeignet scheint, mit den neuen großen Zivilisationsstaaten wirtschafts- wie außenpolitisch gleichzuziehen. Eine gewisse Selbstermächtigung eines gesamteuropäischen Machtzentrums scheint also in der Tat unausweichlich, so daß hinter den oben geschilderten Ereignissen um die EU-Kommission nicht etwa nur das politische Talent Junckers oder von der Leyens steht, sondern auch eine quasi unvermeidbare historische Dynamik,* die es nun gälte, in die richtige Richtung zu lenken, um nicht von ihr überrollt zu werden.    David Engels 

*Das, was man im Italienischen la forza delle cose nennt. Die ist wirklich alternativlos. Aber das Wie sollten wir wählen können und sorgfältig wählen.


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