Mut und Gerechtigkeit |
Noch vor wenigen Tagen erklärte der polnische Ministerpräsident Donald
Tusk im polnischen Senat öffentlich: „Wenn wir die verfassungsmäßige
Ordnung und die Grundlagen der liberalen Demokratie wiederherstellen
wollen, müssen wir im Sinne einer kämpferischen Demokratie handeln. Das
bedeutet, dass wir wahrscheinlich mehr als einmal Fehler machen oder
Maßnahmen ergreifen werden, die nach Ansicht mancher Justizbehörden
nicht ganz dem Buchstaben des Gesetzes entsprechen, aber nichts
entbindet uns von unserer Pflicht, zu handeln.“
Diese beunruhigende Aussage, die de facto jeglichen Verstoß gegen den Rechtsstaat im Namen der „guten Sache“ legitimieren kann, hat in den europäischen und vor allem deutschen Medien kaum wirklichen Niederschlag gefunden – nur Tichys Einblick berichtete über das verstörende Konzept der „Übergangsjustiz“. In Polen aber tobt ein erbitterter Kampf zwischen den Anhängern der neuen Linie und den letzten Verteidigern der bisherigen Ordnung. Dieser Kampf erreichte eine neue Eskalationsstufe, als Tusk am 6. September zusammen mit seinem Justizminister Adam Bodnar einen Gesetzesentwurf zum Status der Richter präsentierte, die nach 2017 ernannt wurden, und welche gemeinhin seitens der Linken und Liberalen verächtlich als „Neo-Richter“ bezeichnet werden, um ihre Eignung und Legitimität in Frage zu stellen.
Die geplante Regelung sieht vor, dass nur diejenigen Richter im Amt verbleiben dürfen, deren Ersternennung nach regulärem Studienabschluss an der Nationalen Hochschule für Justiz und Staatsanwaltschaft erfolgt ist. Richter, die nach 2017 befördert wurden, werden jedoch anders behandelt: Drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes sollen die Beförderungen einiger dieser Richter widerrufen werden. Sie sollen auf ihren früheren Posten zurückversetzt und disziplinarischen Maßnahmen unterworfen werden. Andere Richter, die befördert wurden, müssten, um weiter Recht sprechen zu dürfen, eine Erklärung abgeben, dass sie „ihre Entscheidung bedauern“. Dann dürften sie ans Gericht zurückkehren, und sich wieder auf Stellen bewerben.
Der angekündigte Gesetzesentwurf soll angeblich die Rechtsstaatlichkeit „wiederherstellen“: Tatsächlich ist damit nichts anderes gemeint als eine radikale Rückkehr zum Status quo vor den Justizreformen, die 2017 vom polnischen Parlament verabschiedet wurden. Diese Rückabwicklung der Reformen hätte dramatische Folgen:
Rund ein Drittel der polnischen Richter wäre von dieser überaus problematischen Initiative betroffen, die leicht zur Gesinnungsprüfung ausarten kann, und somit einer massiven Säuberung des Justizsystems durch die Exekutive geichkäme, zumal der Gesetzesvorschlag für inkriminiertes Justizpersonal so bizarre Kategorien wie „tätige Reue“ einschließt, also in etwa das, was man im Kommunismus die öffentliche „Selbstkritik“ vor der Partei nannte.
Ohnehin erfolgte unabhängig von diesem weitreichenden Entwurf bereits seit Anfang des Jahres eine bedrückende Welle von personellen Veränderungen, die Justizminister Bodnar an den obersten Posten der wichtigsten Gerichte des Landes vorgenommen hat; oft unter rechtlich zweifelhaften, ja teilweise sogar offen rechtswidrigen Bedingungen, bedenkt man das Auswechseln des nationalen Staatsanwalts ohne die verfassungsmäßig erforderliche Zustimmung des polnischen Präsidenten Duda, eines Unterstützers der vormaligen konservativen Regierung.
Seitens der Europäischen Union und der Nachbarn allerdings rufen jene intensiven Eingriffe in die polnische Judikative, die bei weitem alles übersteigen, was je (zu Recht oder zu Unrecht) der Vorgängerregierung vorgeworfen wurde, nur dröhnendes Schweigen hervor, sieht man von den regelmäßigen, publikumswirksam geäußerten Glückwünschen aus Brüssel und Berlin ab, mit denen Tusk als „Wiederhersteller“ der polnischen Rechtsstaatlichkeit und Garant der europäischen Werte gelobt wird – vor wenigen Tagen noch durch den deutschen „M100 Media Award“ mit einer überschwänglichen Laudatio von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck.
Die Vorschläge von Ministerpräsident und Justizminister werden von einem Teil der hochpolitisierten polnischen Juristen befürwortet; eine Reihe von Juristenverbänden hat jedoch eine Erklärung abgegeben, in der sie sich gegen die geplanten Änderungen aussprechen und darauf hinweisen, dass die geplanten Gesetze einen weiteren massiven Angriff auf die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter darstellen.
Im Folgenden bringen wir exklusiv eine deutsche Übersetzung der gemeinsamen Stellungnahme:
Gemeinsame Stellungnahme polnischer Juristenverbände vom 9. September 2024 zur Ankündigung des Ministerpräsidenten und des Justizministers zur Gesetzesvorlage, die zu einer Degradierung des Justizpersonals und dessen Ausschluss vom Richteramt führen soll.
Wir, die Vertreter polnischer Juristenverbände, protestieren nachdrücklich und mit größter Empörung gegen die Ankündigungen des Ministerpräsidenten und des Justizministers über Repressionen, einschließlich Degradierungen und Entlassungen aus dem Dienst, die gegen eine Gruppe von etwa 3.500 Richtern in der Republik Polen gerichtet sind.
Die am 6. September 2024 von Ministerpräsidenten Donald Tusk und Justizminister Adam Bodnar vorgestellten Eckpunkte zur Gesetzesvorlage stellen einen inakzeptablen Angriff der Exekutive auf die Unabhängigkeit der Justiz und die richterliche Unabhängigkeit in der Republik Polen dar. Unter dem Vorwand der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit beabsichtigt die Regierung nämlich, den Verfassungsgrundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern zu verletzen und durch ein Überprüfungsverfahren den Verbleib zahlreicher verfassungsgemäß ernannter Richter direkt von Entscheidungen der Regierungsvertreter abhängig zu machen.
Die demokratischen Systeme europäischer Staaten basieren auf dem Prinzip der Gewaltenteilung, das bereits im 18. Jahrhundert entwickelt wurde. Nach diesem Prinzip ist die Judikative der Legislative und Exekutive gleichgestellt und gleichzeitig von ihnen unabhängig; die Richter sind in ihrer Urteilsfindung unabhängig. Auf diesen Grundlagen basiert ebenfalls die am 2. April 1997 von der Nationalversammlung verabschiedete Verfassung der Republik Polen.
Am 6. September 2024 kündigten die Vertreter der Exekutive, namentlich der Ministerpräsident Donald Tusk und der Justizminister Adam Bodnar, eine beispiellose Säuberung des Justizwesens an, die auf die Entlassung oder Degradierung von Richtern abzielt, wobei das willkürliche Kriterium des Zeitpunkts ihrer Ernennung gelten soll.
Die Exekutive plant zudem eine beliebige Differenzierung der rechtlichen Stellung der Richter, die nach 2017 vom Präsidenten ernannt wurden, in stigmatisierende Unterkategorien nach einem diskriminierendem Schlüssel. Für einige von ihnen (Gerichtsassessoren) wurde ein Verzicht auf exekutive Druckmittel angekündigt, während andere durch Disziplinarverfahren vor von der Exekutive neu geformten Kommissionen eingeschüchtert werden sollen.
Die Regierung beabsichtigt, von einem erheblichen Teil der Richter formale Gehorsamsbekundungen gegenüber der Exekutive zu verlangen (in Form einer Selbstkritik, die der Justizminister als „tätige Reue“ bezeichnet), was eine Bedingung für den Verbleib im Justizapparat darstellen soll.
Eine derartige Selbstkritik der Richter würde den beruflichen Attributen von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nur einen illusorischen Charakter verleihen. Polnische Bürger würden, insbesondere bei Streitigkeiten mit staatlichen Behörden, offenkundig das Vertrauen in die Justiz verlieren, die von folgsamen Richtern ausgeübt wird.
Die Forderung des Justizministers nach einem Akt der Reue in Form von „tätiger Reue“ – einer aus dem Strafrecht übernommenen Institution, die für reumütige Straftäter gedacht ist – ist als eine offensichtliche Erpressung zu verstehen, die zum Bruch der richterlichen Unabhängigkeit führt und darauf abzielt, nur diejenigen im Amt verbleiben zu lassen, die diese Verletzung der Verfassung und die Abhängigkeit von der Exekutive akzeptieren.
Das vorgebliche Argument für die Anwendung dieser Maßnahmen, einschließlich der Forderung nach Selbstkritik der Richter vor dem Ministerpräsidenten, dem Justizminister und dem Kollegialgericht der Exekutive, ist die Anfechtung der nach 2017 eröffneten Auswahlverfahren für Richterstellen durch die Regierung. Diese Verfahren zeichneten sich jedoch nicht nur durch eine bisher in Polen unbekannte Transparenz aus, sie basierten vor allem auf gesetzlich festgelegten Verfahren. Letztendlich werden die Richterernennungen vom Präsidenten der Republik Polen vorgenommen, der damit sein ausschließliches verfassungsrechtliches Vorrecht ausübt.
Die zivilisierte Geschichte der europäischen Staatsordnungen kennt seit dem Zweiten Weltkrieg keinen dermaßen arroganten und autokratischen Versuch, die Judikative und das Gerichtswesen der Exekutive unterzuordnen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen stehen nicht nur im Widerspruch zu den Grundlagen der polnischen Verfassung, sondern auch zu den zivilisatorischen Normen, von denen die sogenannten Werte der Europäischen Union abgeleitet werden. Die Dominanz der Exekutive über die Judikative ist typisch für Satrapien und Diktaturen. In diese Richtung bewegt sich die derzeitige Tätigkeit der polnischen Regierung.
Die Konsequenzen dieses Handelns seitens der Exekutive werden nicht nur in einem Verfassungsdelikt bestehen, das in Zukunft die Grundlage für eine Anklage vor dem Staatsgerichtshof bilden wird, sondern auch in einem erheblichen Schaden für die Funktionsweise des polnischen Staates.
Die von den Richtern geforderte Ehrerbietung als Ausdruck der Anerkennung der Überlegenheit der Exekutive über die Judikative hat seit der kommunistischen Diktatur keinerlei Vorläufer gehabt. Während des stalinistischen Terrors wurden sowohl in der Sowjetunion als auch im von den Sowjets besetzten Polen Persönlichkeiten gebrochen und Parteitreue durch sogenannte Selbstkritik erzwungen, meist vor eigens dafür gebildeten Ausschüssen.
Bei der Betrachtung des polnischen Justizwesens dürfen die historischen Hintergründe nicht aus den Augen verloren werden, insbesondere in Bezug auf polnische Staatsbürger, die wegen ihrer oppositionellen Aktivitäten verfolgt wurden. In diesem Zusammenhang weisen wir auf das Gesetz vom 23. Februar 1991 hin, das die Aufhebung von Urteilen vorsieht, die gegen Personen verhängt wurden, die sich für die Unabhängigkeit des polnischen Staates eingesetzt haben. Dieses Gesetz ist nach wie vor ein Teil der polnischen Rechtsordnung. Die Verfahren, die auf der Grundlage dieses Gesetzes eingeleitet wurden und Entscheidungen betreffen, die von Justizbehörden zwischen dem 1. Januar 1944 und dem 31. Dezember 1989 erlassen wurden und sich gegen Personen richteten, die für die polnische Unabhängigkeit kämpften, sind immer noch anhängig.
Hinter diesen Urteilen stehen konkrete Richter, die nie zur Rechenschaft gezogen oder überprüft wurden. Selbst in diesen Fällen wurde von solchen Personen niemals eine Selbstkritik oder ein anderer Akt der Sühne gefordert.
Die angekündigten Säuberungen – d.h. die Degradierung und Entlassung von Richtern aus dem öffentlichen Dienst – verstoßen nicht nur gegen das verfassungsmäßige Verbot der Absetzung von Richtern, sondern werden das gesamte Justizsystem für Jahrzehnte ins Chaos stürzen. Bereits jetzt warten Parteien an einigen Gerichten und in bestimmten Verfahrenskategorien jahrelang auf Verhandlungstermine.
Mit Bedauern und Besorgnis stellen wir fest, dass die Ankündigungen der Regierung eine Konkretisierung der radikalsten Forderungen darstellen, die bisher ausschließlich im Rahmen politischer Auseinandersetzungen und in der Publizistik geäußert wurden. An der Normalisierung dieses seltsamen Staatsstreichs sind Richtergruppen beteiligt, die wegen ihres politischen Aktivismus bekannt sind, darunter die Vereinigungen „Themis“ und „Iustitia“.
Bemerkenswert ist, dass unter den Richtern, die den angekündigten Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz und die richterliche Unabhängigkeit unterstützen, auch Personen sind, die derzeit prominente Positionen im Justizministerium innehaben und dafür von der Regierung entlohnt werden.
Am 9. September 2024
Andrzej Golec (Unabhängige Vereinigung der Staatsanwälte „Ad Vocem“ in Jaworzno, Staatsanwalt )
Richter Zygmunt Drożdżejko (Landesverband der Richter „Richter der Republik Polen“ in Krakau)
Jerzy Kwaśniewski (Institut für Rechtliche Kultur „Ordo Iuris“ in Warschau, Rechtsanwalt)
Łukasz Piebiak (Vereinigung „Juristen für Polen“ in Tarnowskie Góry, Richter)
Krzysztof Wąsowski (Warschauer Seminar für die Axiologie der Verwaltung in Warschau, Rechtsanwalt)
Der polnische Originaltext kann hier abgerufen werden. Tichys Einblick
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