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Freitag, 27. September 2024

NZZ - "Der andere Blick" vom 26. Sept. 2024 - eine bemerkenswerte Reportage!

Turbulente Szenen im Thüringer Landtag – so respektlos dürfen Demokraten nicht miteinander umgehen
Das Parlament scheitert beim Versuch, sich zu konstituieren, und ruft nach vielen Unterbrechungen das Landesverfassungsgericht an. Die Demokratie in Thüringen hat jetzt schon Schaden genommen.
In Thüringen war am Donnerstag verkehrte Welt. Aus der Landtagswahl vom 1. September ging die AfD als klare Siegerin hervor; sie stellt mit Abstand die stärkste Fraktion. Am Donnerstag nun sollte sich der neue Landtag konstituieren. Es war ein verstörendes Schauspiel. Die vier anderen Fraktionen taten alles, um die AfD um ihre Rechte zu bringen, sie sogar zum Rechtsbruch zu verleiten – und inszenierten sich obendrein noch als die Hüter der Demokratie.
Die um 12 Uhr eröffnete Sitzung wurde das erste Mal um 12 Uhr 12 unterbrochen, das zweite Mal um 12 Uhr 28 – und immer so weiter, bis sie nach 16 Uhr ergebnislos endete. Der Alterspräsident des neuen Landtags, Jürgen Treutler (AfD), hatte sich bis dahin streng nach Lehrbuch verhalten, kam allerdings nicht weit. Man erlaubte ihm zunächst, eine Rede zu beginnen, die er jedoch aufgrund von Störmanövern der CDU lange nicht beenden konnte. Als ältester Abgeordneter fungiert er kommissarisch als Präsident des neuen Landtags, bis der Präsident gewählt ist.
In seiner Ansprache betonte er, von einer Abkehr des Volkes von der Demokratie könne keine Rede sein. Die Wahlbeteiligung sei mit 73,6 Prozent die höchste seit 1994 gewesen. Dem so geäusserten Willen des Volkes gelte es nun gerecht zu werden.
Es gebe «in gewissen Teilen der politisch-medialen Elite» jedoch eine «offenkundige Verachtung des Volkes, eine Verachtung des demokratischen Souveräns, die mit der politischen Kultur der freiheitlich-demokratischen Ordnung nicht vereinbar ist», sagte Treutler mit Blick auf Zeitungskommentare, in denen die Thüringer Wähler als demokratiefeindlich beschimpft worden seien, weil sie in grosser Zahl AfD gewählt haben. Die Realität drohe hinter solchen Deutungen manchmal zu verschwinden, stellte er fest.
Eigentlich liegt die Lösung auf der Hand
Das Schauspiel im Erfurter Landtag war unwürdig, und die begleitende Berichterstattung war teilweise so intoniert, als ob es Treutler gewesen sei, der gegen die demokratische Ordnung verstossen habe.
Dabei liegt es eigentlich auf der Hand: Die AfD hat die Wahl gewonnen. Die CDU könnte mit ihr eine bequeme Mehrheit haben, wenn sie sich nicht – erstens – in ihrer Brandmauer eingemauert und wenn sie – zweitens – einen weniger machtversessenen Kandidaten hätte.
Ihr Spitzenmann Mario Voigt will um jeden Preis selbst Ministerpräsident werden. Das kann er nur, wenn er sich kleinere Partner sucht. Da weder Grüne noch FDP zur Verfügung stehen, weil sie nicht ins Parlament kamen, muss er auf linke Parteien zurückgreifen. Die SPD ist mit sechs Sitzen viel zu klein, also wird der Neuzugang BSW umarmt. Ob der Wähler dieses Ergebnis wollte, erscheint mehr als zweifelhaft.
Doch bei Koalitionen ist man sowieso noch längst nicht. Im Landtag am Donnerstag ging es zunächst darum, das Gesetzgebungsorgan überhaupt arbeitsfähig zu machen. Dafür benötigt es nun einmal einen Präsidenten, und diesen vorzuschlagen, ist das Recht der stärksten Fraktion, der AfD.
Streit um Rechtsauslegung
Während der zahlreichen Unterbrechungen wurde der Ton des Parlamentsfernsehens abgeschaltet, man sah zweierlei: den CDU-Mann Voigt unbeweglich wie Buddha auf seinem Stuhl direkt gegenüber dem Präsidentenpult; und an diesem die Runde der parlamentarischen Geschäftsführer, gestikulierend. Der AfD-Mann Björn Höcke wechselte gelegentlich von seinem Stuhl aus Worte mit Voigt, leider unhörbar.
Weit nach 14 Uhr hatte man den ersten Tagesordnungspunkt «Eröffnung durch den Alterspräsidenten» noch immer nicht beendet. Treutler wurde daran gehindert, seine Eröffnungsrede zu beenden, insbesondere durch ständige Zwischenrufe und Respektlosigkeiten vonseiten der CDU. Die Fraktion, die sich als besonders demokratisch feiert, beachtete keine demokratischen Gepflogenheiten.
Sie verlangte zudem, dass sofort die Beschlussfähigkeit festgestellt werde, und kündigte an, dies zu erzwingen. Das war ohnehin als Punkt drei der Tagesordnung vorgesehen. «Als Alterspräsident bin ich verpflichtet, die geltenden Rechtsnormen strikt zu achten», sagte Treutler. Zuerst müssten Schriftführer benannt werden. Von der Reihenfolge könne nicht abgewichen werden. Noch sei man bei Tagesordnungspunkt eins, und er wolle seine Rede zu Ende bringen.
Undemokratisch sind immer die anderen
Dafür erntete er aus der CDU den Zwischenruf: «Was Sie hier tun, ist Machtergreifung!» – ein Tiefpunkt des Tages. Tatsächlich verhielt sich Treutler korrekt, während die CDU in beispielloser Weise Obstruktion betrieb. Dabei hätte sie es recht einfach haben können.
Richtig interessant wäre es nämlich erst bei den Tagesordnungspunkten vier und fünf geworden, zu denen man nun nicht mehr kam. Punkt vier war nachträglich eingefügt worden mit dem Ziel, der AfD das Vorschlagsrecht für das Amt des Landtagspräsidenten zu nehmen, und hatte eine entsprechende Änderung der Geschäftsordnung zum Gegenstand. Punkt fünf sah dann die Wahl des Landtagspräsidenten vor, den nach der neuen Geschäftsordnung nun eine Mehrheit der Abgeordneten ohne AfD-Vorschlag wählen sollte.
Die Geschäftsordnung kann aber von einem noch nicht beschlussfähigen Parlament nicht geändert werden. Der Versuch, die Regeln zu frisieren, zeigte vor allem, dass jene, die sich für besonders demokratisch halten, es, wenn es darauf ankommt, mitunter nicht sind. Vor dem Gesetz sind alle gleich, und niemand kann sich aus einem bestehenden Regelwerk aussuchen, welche Regeln angewendet werden und welche nicht.
Kurioserweise stand nun gerade die Thüringer AfD, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, als demokratisch korrekt da. Abzuwarten bleibt, ob das mit einem CDU-Mann an der Spitze besetzte thüringische Verfassungsgericht dies auch so sieht. Nach 16 Uhr kam die CDU am Donnerstag zu dem Schluss, dass man dieses Gericht wohl zu Rate ziehen müsse, und beantragte die Unterbrechung der Sitzung bis zu dessen Entscheidung. Am Samstag soll es weitergehen. Der Donnerstag war kein guter Tag für die Demokratie.   Fatina Keilani
 

 

 

 

Gepflogenheit ist nicht Gewohnheitsrecht

Eine Gepflogenheit ist noch lange kein Gewohnheitsrecht. Der springende Punkt ist aber, was Rieck erläutert hat. Durch die gerichtliche Entscheidung herrscht jetzt Willkür gegenüber dem, was die Geschäftsordnung eigentlich regelt bzw. nicht regelt und durch eine neue Zusatzregel hätte regeln müssen. Es wurde stattdessen ein Präzedenzfall geschaffen, der - wenn er nicht rückgängig gemacht wird - die Geschäftsordnung aushebelt und zu Makulatur werden lässt, weil jetzt immer wieder in strittigen Fragen über Bande gespielt werden kann, solange ein der Opposition (Verzeihung, der Regierung) wohlgesonnenes Gericht mitspielt. Die Einführung eines Pattbrechers hätte gesundem Menschenverstand entsprochen. Jetzt hat die CDU sich die Hände sehr, sehr schmutzig gemacht. Hinzu kommt als erschwerender Umstand, dessen sich dieses CDU-Verfassungsgericht schuldig macht, dass die Begründung ihres Beschlusses so umfangreich ist, dass sie nicht in einer Nacht verfasst worden sein kann. Wir haben es also mit einem von langer Hand vorsätzlich vorbereiteten Zwischenfall zu tun, der mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten untermauert wird. Die Strategie ist: Eskalieren und das Ganze dann von willfährigen Medien ausweiden lassen, um die Eskalation der AfD anzulasten. Eine Prügelei im italienischen Parlament ist gesünder (und demokratischer) als diese knalldeutsche Niedertracht

 Seltsame Chronologie

Abgekartetes Spiel

 

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