Flickenteppich Thüringen. Die Sonderwege eines deutschen Kernlandes
Es war in Deutschland und anderswo lange üblich, den Zustand und die Verfasstheit eines Landes mit der historisch gewachsenen „Volksseele“ zu erklären. Diese von ethnischem Denken imprägnierten Zeiten sind gottlob vorbei. Was jedoch keineswegs bedeutet, dass historische Prägungen ohne Bedeutung seien. History matters, und zwar auch über sehr lange Zeiträume hinweg. Daher lohnt es sich, in Erwartung der kommenden Landtagswahl in Thüringen einen Blick auf die neuere und ältere Geschichte dieses Bundeslandes zu werfen. Und zu fragen, ob der weit über dem Bundesdurchschnitt liegende Wahlerfolg der AfD, mit dem wohl zu rechnen ist, nicht auch historische Wurzeln hat.
Schaut man auf die neuere Geschichte Thüringens, genauer: auf die Zeit vom Ende des Kaiserreichs bis 1945, dann springt natürlich sofort ins Auge, dass die Nationalsozialisten hier schon früh erfolgreich waren – so erfolgreich, dass sie das Land schon Mitte der 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zum „Mustergau“ der NSDAP erklärten. Als Hitler 1923 in Anlehnung an Mussolini seinen „Marsch auf Berlin“ plante, sollte dieser durch Sachsen und Thüringen führen. Als Hitler nach dem Putschversuch von 1923 für ein paar Monate in Landsberg in Haft saß, war die NSDAP im ganzen Reich verboten – nur in Thüringen nicht. Nach seiner Entlassung aus der Festungshaft hatte Hitler überall im Reich Redeverbot – nur in Thüringen nicht. Er hielt seit 1924 enge Kontakte zu Thüringen und plante vorübergehend, die Parteizentrale von München nach Sachsen oder Thüringen zu verlegen. Der erste Parteitag der neugegründeten NSDAP fand 1926 in Weimar statt, wo Hitler gerne und immer wieder im „Hotel Elephant“ abstieg. Schon 1925 nahm Hitler Kontakt zu thüringischen Beamten auf, um seine Einbürgerung zu betreiben – was erst 1930 gelang, als er in einer Operettenaktion zum Gendarmeriekommissar im thüringischen Hildburghausen, einer Hochburg der NSDAP, ernannt wurde.
1930 war Wilhelm Frick das erste NSDAP-Mitglied, das Minister einer Landesregierung wurde – Hitler persönlich hatte sich für die Personalie stark gemacht. Die Partei erzielte diesen Erfolg jedoch im Grunde aus einer Position der Schwäche heraus. Bei der vorangegangenen Landtagswahl hatte sie 11,3 Prozent der Stimmen erhalten. Weil sich aber die linken und bürgerlich-konservativen Parteien nicht auf ein Zusammengehen einigen konnten, gingen letztere zur Mehrheitsbeschaffung ein Bündnis mit der Partei Hitlers ein. Sie machten sich vor, der NSDAP-Minister werde sich schon an die Gesetze und den Geist der Weimarer Verfassung halten. Vergeblich. Frick, der später Reichsinnenminister werden sollte, betrieb vom ersten Tag an ganz offen eine radikale Säuberungspolitik. Sozialdemokratische und kommunistische Lehrer wurden entlassen, Posten in Verwaltung und Polizei gezielt mit NSDAP-Mitgliedern besetzt. 1930 brachte Frick ein „Ermächtigungsgesetz“ ein, das nach einigem Murren der konservativen Parteien in abgeschwächter Form verabschiedet wurde und das zum Beispiel auf die Abschaffung von Einspruchsmöglichkeiten gegen Regierungsbeschlüsse zielte. Frick kämpfte gegen „entartete Kunst“, ließ einen Auftritt der Piscator-Bühne mit dem Stück „Zyankali“ verbieten und erließ eine Verordnung mit dem Titel „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“. Die NSDAP ließ auf dem Experimentierfeld Thüringen früh in aller Deutlichkeit erkennen, welche Ziele sie verfolgte. Und zwar, mit einer Lieblingsvokabel Hitlers, „rücksichtslos“.
Gab es also eine angeborene Anfälligkeit der Thüringer für völkische und rechtsradikale Parolen und Programme? So einfach ist es nicht. Thüringen –halb agrarisch, halb industriell entwickelt – war einmal ein „rotes“ Land gewesen. Bei den Reichstagswahlen 1912 kamen die Sozialdemokraten auf 34,8 Prozent der Stimmen – in Thüringen fehlten ihnen nur 0,3 Prozent zur absoluten Mehrheit. Dass sich die politischen Einstellungen änderten, hat viel mit der Entwicklung des Bürgertums und der Linken nach dem Ende des Kaiserreichs zu tun. Es war – mit „Dolchstoßlegende“ und Kapp-Putsch 1920 – eine erhitzte Zeit. Das inzwischen verunsicherte Bürgertum hatte bislang die liberalen Parteien gewählt, die teils liberal, teils nationalistisch waren. Die „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP) wollte einen liberalen, gemäßigt reformerischen Weg gehen und dabei auch andere Schichten, insbesondere die Arbeiter, gewinnen. Die „Deutsche Volkspartei“ (DVP) vertrat dagegen eine exklusiv bürgerliche Politik, war streng nationalistisch und dem Antisemitismus gegenüber offen.
Vielleicht hätte die DDP Chancen gehabt, die Oberhand zu gewinnen. Doch das machte ausgerechnet die Linke unmöglich. Sie war in Thüringen schon in dem frühen 20-er Jahren fast geschlossen zur radikalen USPD gewechselt. Und diese lehnte jede Kooperation mit den Bürgerlichen ab. Die fortschrittliche DDP war fortan im Niedergang. Und die DVP sowie alle noch weiter rechts von ihr stehenden Gruppierungen, allen voran die NSDAP, sahen sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass nicht der soziale Staat, sondern die Volksgemeinschaft das Ziel war, in der Parlamente überflüssig sein würden. So radikalisierte sich das völkische Lager. Die Tabus fielen: Demokratie und Verfassung galten als „volksfremd“ und die Gewalt gegen links als legitim.
Die NSDAP war die einzige Gruppierung, die erklärtermaßen beides war: Bewegung und Partei. Sie stand für eine Idee und für die Aktion. Das machte sie attraktiv. Die Linke hatte es versäumt, Brücken zur Mitte hin zu schlagen. Und die Bürgerlichen haben sich aus Angst vor dem Chaos, das die NSDAP mit Absicht stiftete, in die Arme eben dieser Partei begeben. Bei den letzten Reichstagswahlen vor der Vollendung der NS-Diktatur lagen die Thüringer Wahlergebnisse der NSDAP deutlich über denen im Reichsdurchschnitt.
Damit ist jedoch noch längst nicht die ganze Geschichte erzählt. Auch die Historie Thüringens lässt sich nicht als eine einzige, lange Vorgeschichte des Nationalsozialismus erklären. Denn diese reicht viel weiter zurück, genau genommen bis auf das Jahr 1485. Bis dahin hatte das Geschlecht der Wettiner über die Gebiete geherrscht, die heute im Großen und Ganzen Sachsen und Thüringen umfassen. 1485 kam es zu der sogenannten „Leipziger Teilung“. Das Gebiet wurde damit unter den zwei Erben des Wettiner Geschlechts, Albrecht und Ernst, aufgeteilt. Albrecht erhielt, grob gesagt, das heutige Sachsen, Ernst das heutige Thüringen. Die Wege trennten sich dann. Albrecht verfolgte das Prinzip der Primogenitur: Der älteste Sohn erbte alles. Ernst dagegen bestimmte, dass das Erbe jeweils unter allen Söhnen und Töchtern des Herrschers aufgeteilt werden soll. Albrechts Entscheidung führte zu dem vergleichsweise homogenen Territorialstaat Sachsen. Ernsts Entscheidung führte zu jener Kleinstaaterei, die nirgendwo in Deutschland so ausgeprägt sein sollte wie in Thüringen. Es entstanden weit über zehn Fürsten- und Herzogtümer, alle mit Schloss, Hof, Repräsentationskultur und einem starken Lokalbewusstsein. Das blieb so bis 1918/20, bis zur Gründung des Landes Thüringen. Bis zuletzt hatten sich die verschiedenen thüringischen Kleinstaaten gegen diese Vereinheitlichung gewehrt. Mit dem Argument, dass die Kleinstaaten-Vielfalt gerade die Stärke der Region sei.
Ohne das Fehlen einer Metropole, ohne die notorische und auch ein wenig skurrile Kleinstaaterei wäre Weimar nie die ganz Europa beeindruckende Kulturmetropole geworden, in der Herder, Wieland, Goethe, Schiller und viele andere einen Ort der freien Entfaltung fanden. Das ist die positive, in allen touristischen Werbebroschüren herausgestrichene Seite der thüringischen Kleinstaaterei. Die negative: Es konnte so kein staatliches Gemeinschaftsgefühl entstehen, das über das eigene kleine Fürstentum hinausgereicht hätte. Der thüringische Patriotismus war und ist ein im engen Sinn lokaler. Und daher von Mief nicht frei – nur so konnte das Rostbrätl zum Kulturerbe werden. Dieser Patriotismus ist gemeinschaftlich, nicht gesellschaftlich. Wir sind wir: Die Parole hat in Thüringen schnell etwas Ausschließendes, Aggressives. Sie ist überhaupt nicht so kosmopolitisch, wie es Weimar, Gotha, Gera und Jena in der Epoche waren, die man die „deutsche Klassik“ nennt.
Vor allem im Südwesten Deutschlands kämpften sich in der frühen Neuzeit bis zu 100 große, kleinere und kleine Städte gegen die Fürsten frei. Sie erlangten eine bestimmte Form von Selbstverwaltung – eine Vorstufe der Demokratie. Das gab es im Osten Deutschlands und auch in Thüringen kaum. So fehlte dort die Tradition eines selbstbewussten Bürgertums, das die Geschicke seiner Stadt und der Region in die eigenen Hände nehmen wollte. Dieser Mangel an Stadtluft, die frei macht, und die territoriale Zersplitterung haben mit dazu beigetragen, dass Thüringen mit den liberalen Traditionen der Moderne über Kreuz blieb.
Trotz Bernhard Vogels Autorität, mit der er Thüringen zu
selbstständigem Laufen bewegen wollte, und trotz Bodo Ramelows Versuch,
das Land links-sozial zu stabilisieren, bleibt Thüringen ein Klotz am
Bein der Republik. Daran ist zwar auch, aber weniger die völkische
Propaganda der AfD Schuld. Sondern weit mehr die notorische
Unentschiedenheit der Thüringerinnen und Thüringer, ob sie nun
Lokalpatrioten oder Bundesbürger sein wollen. Thomas Schmid
Es bleibt schleierhaft, was er mit "Kernland" meint. Aber für mich persönlich ist Thüringen - ähnlich wie die Toskana das für Italien ist, weil der dortige Dialekt zum Standarditalienisch wurde und von Florenz in sämtlichen Wissensbereichen ab dem 15. Jahrhundert bahnbrechende Impulse ausgingen, die ganz Europa erfassten - tatsächlich so etwas wie ein Kernland der deutschen Kultur. Denn in Thüringen wirkten Meister Eckart, Luther, Johann Sebastian Bach und Goethe (und die anderen Persönlichkeiten, die Schmid nennt). Die Wartburg gehört zwar zu derjenigen Sparte der forma mentis germanica die voller Ruinen einst historischer Bauten ist, von denen einige im 19. Jahrhundert in neogotisch-historistischem Stil wiedererrichtet wurden, die meisten aber geschleift blieben (die Geschichtslosigkeit besteht in D nicht erst seit 1945 oder 68) und insofern gehört die Wartburg zu den peinlichen Disneyvorläufern wie der Qualhalla, die wir Ludwig I. von Bayern zu verdanken haben. Aber dieser Wiederaufbau ist wenigstens gelungen, sieht wirklich schön, ja echt aus und dank der tatsächlich vorhandenen historischen Bedeutung, die schon die Burschenschaftler erkannten, drücke ich bei diesem Exponat wirrer deutscher Geschichtssehnsüchte ein Auge zu und zähle auch sie zum Kernbestand, über den Schmid sich nicht äußert. Da Deutschland aber orographisch nicht so zerklüftet ist wie Italien, ist auch der lokale Charakter traditioneller Kulturen in Deutschland nicht so ausgeprägt wie in Italien, wo weniger als 100 Km zwischen Bologna und Florenz liegen, die Architektur sich aber in einem Ausmaß unterscheidet, wie in Deutschland zwischen viel weiter entfernt liegenden Städten, z.B. Erfurt und Lübeck. Auf Grund des Fehlens geographischer Barrieren hat man sich in Deutschland immer sehr viel mehr von einer Region in andere bewegt und untereinander kulturell vermischt (auch das ist gewachsene deutsche Volksseele). Thomas Schmid hebt eingangs hervor: "Es war in Deutschland und anderswo lange üblich, den Zustand und die
Verfasstheit eines Landes mit der historisch gewachsenen „Volksseele“ zu
erklären. Diese von ethnischem Denken imprägnierten Zeiten sind gottlob
vorbei". Ich finde es entsetzlich, dass diese Zeiten in Deutschland vorbei sind! Genauer gesagt, sind sie auch in Deutschland nur dann vorbei, wenn von Deutschland die Rede ist, denn in jedem Reisebericht über Landschaften Frankreichs oder Italiens wird - vor allem im notorisch kulturmarxistisch ausgerichteten arte.tv - in flapsig tändelndem Tonfall die historisch gewachsene, immer besonders urige Volksseele des jeweiligen Landstrichs heraufbeschworen (was bei Franz Gernstl allenfalls mal anklingt, wenn er behutsam die Sprache auf den verschlossenen Charakter der Mittelfranken lenkt). Über diesen Sachverhalt weiß Thomas Schmid bestens Bescheid, denn er ist vielleicht der beste Italienkenner Deutschlands (schon 1978 war er einer der besten). Aber er kann es nicht lassen, Agitprop im Sinne der 68er Heilslehre zu betreiben. Einmal links, ewig links. Daran ändert auch Mathias Döpfner, der ihn zum Chefredakteur der Welt macht, nicht und seine Vorstellungsouvertüre auch nicht:
Zur Person
Thomas Schmid nahm in seinen Zwanzigern an der Studentenbewegung in
Frankfurt teil, was ihn später gegenüber Heilslehren misstrauisch
machte. Und ihn die Bürgerfreiheit schätzen lehrte. Lektor, freier
Autor, Journalist. Zuletzt in Berlin Chefredakteur und dann Herausgeber
der „Welt“-Gruppe. In diesem Blog veröffentlicht er regelmäßig
Kommentare, Essays, Besprechungen neuer, älterer und sehr alter Bücher,
Nachrufe und nicht zuletzt Beobachtungen über den gemeinen Alltag.
In Italien gibt es sogar einen nach Regionen gegliederten, teuren Literaturatlas, der mit philologischer Akribie auf die Eigenheiten der jeweils hinter den lokalen Literaturen stehenden Volksseele eingeht! Und man staune: Sergio Luzzatto, der Herausgeber dieses Atlanten, ist Jude.
Das erste, was mir 1978 während meines Italienischkurses positiv auffiel, war, dass die Italiener sich völlig unbefangen und voller Stolz zu ihrer Volksseele bekennen (zu der nationalen wie den diversen regionalen) und irrtümlich davon ausgehen, wir Deutschen täten dies auch oder sogar mehr als sie. Und das, obwohl damals der Einfluss der KPI in Florenz enorm war (selbst die Touristenführer waren Gramscianer, manche Stadtführer kulturmarxistische Machwerke und die kunsthistorischen Lehrbücher des Kommunisten Argan, der 1975 Bürgermeister von Rom wurde, werden heute noch in den Musischen Gymnasien verwendet. Thomas Schmid huldigt immer noch d i e s e m Italien! Er ist zwar einer der besten Italienkenner Deutschlands, aber in dieser Hinsicht hat er nichts begriffen und nichts gelernt. Er ist Teil einer spezifisch deutschen Geisteskrankheit: Seit Thales von Milet und später Paulus von Tharsos war die Selbstkritik immer wieder die Stärke des Westens, aber durch die Globalisierung wurde sie zur Achillesferse des Westens. Das durch die Shoah verunsicherte Deutschland geriet in einen Strudel der Selbstzweifel und löste die Juden, die zuvor den Selbsthass auf die Spitze getrieben hatten (wenn auch nur in Deutschland), ab.
Hier ist übrigens Schmids Vorzeigesyrer! Wahrlich einmal ein Einzelfall.
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