Der Schriftsteller Uwe Tellkamp hat einen offenen Brief verfaßt. In dem äußert er sich grundsätzlich zum Meinungsklima und erklärt seine Solidarität mit der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen.
Anlaß ist zum einen die „Dresdner Erklärung der vielen“, zum anderen
ein an Frau Dagen gerichteter offener Brief von Hans-Peter Lühr und Paul
Kaiser wegen ihrer Kontakte zur „Neuen Rechten“, insbesondere zur AfD,
dem Verlag Antaios und dem Verlegerehepaar Götz Kubitschek und Ellen
Kositza.
Was den Vorgang so bemerkenswert macht, ist die Unerschrockenheit
Tellkamps. Man hätte durchaus erwarten können, daß jemand mit seinem
Prestige nach der scharfen Kritik an einer ersten Stellungnahme gegen
die offizielle „Flüchtlingspolitik“ oder den wütenden Reaktionen des
Kultursektors angesichts seiner Beteiligung an der „Gemeinsamen
Erklärung 2018“ vorsichtiger geworden wäre. Aber davon kann keine Rede
sein. Minutiös analysiert Tellkamp die Mechanismen der Selbstzensur
einerseits, der Einflußnahme durch den politisch-medialen Komplex
andererseits. Dabei ist deutlich erkennbar, daß ihn nicht ein naives
Verständnis von Toleranz treibt, sondern Einsicht in die Gesetze der
Meinungsmachtausübung und eine Sensibilität für Pressionen, die im Osten
wesentlich weiter verbreitet ist als im Westen.
„Torwächter“ der öffentlichen Meinung
Das hat selbstverständlich mit der Erfahrung offener Unterdrückung in
der Vergangenheit zu tun. Die wird erst mit einer gewissen Verzögerung
auf die kaschierte Unterdrückung in der Gegenwart übertragen, führt dann
aber zu ungewohnter Deutlichkeit bei der Klärung der Tatsache, daß
nicht nur mit brutalen, sondern auch mit subtilen Mitteln den Leuten die
Lust am freien Wort ausgetrieben werden kann. Wird das im Westen
überrascht zur Kenntnis genommen, dann weil man sich hier so viel länger
gewöhnt hat, daß das verfassungsmäßig verbriefte Recht, seine
Auffassung nicht nur im stillen zu haben, sondern auch laut zu äußern
und zu verbreiten, eben keineswegs für jeden und keinesfalls für jede
Position gilt.
Tellkamp weist ausdrücklich auf die „Torwächter“ der öffentlichen
Meinung hin. Die bilden eine mehr oder weniger geschlossene Kaste. Schon
lange bevor der Begriff „Politische Korrektheit“ in Umlauf kam, begann
sie genau abzustecken, welche Auffassungen von wem vertreten werden
dürfen. Seit den 1980er Jahren hat man dieses System immer weiter
präzisiert und verfeinert. Dabei wird eine Reihe von Nebenzwecken
verfolgt – Kontrolle von Einflußmöglichkeiten und finanziellen Mitteln
etwa –, aber auch ein Hauptzweck: Feindbestimmung. Was sich so gerne als
„tolerant“, „divers“, „plural“, „bunt“, „anständig“, „aufgeklärt“
geriert, ist in Wirklichkeit nur darauf aus, die eigenen Leute
zusammenzuhalten, von der tatsächlichen Entwicklung abzulenken und ihnen
einen Feind zu zeigen, den es zu bekämpfen gilt, im Zweifel auch per
„Handarbeit“ oder durch gezielte Verleumdung.
Daß man dabei ein gutes Gewissen hat, hängt mit einer spezifischen
ideologischen Prägung zusammen. Svenja Flaßpöhler wies in einer Rede,
die sie unlängst bei Eröffnung der Wiener Buchmesse gehalten hat, auf
diesen Zusammenhang hin, als sie die Bedeutung des von Jürgen Habermas
formulierten Ansatzes der „deliberativen Demokratie“ referierte. Denn
Habermas‘ Behauptung, daß zum „Diskurs“ in einer Demokratie nur
zugelassen sei, wer „vernünftige“ Argumente vorweisen könne, lasse nicht
nur das Problem offen, wer die Vernünftigkeit feststellt, sondern
bringe auch die „Vernünftigen“ und die „Unvernünftigen“ in einen
Gegensatz, der letztlich nur mit Gewalt ausgetragen werden könne.
Dem Gesinnungsdiktat wird Tür und Tor geöffnet
Dieser Gesichtspunkt ist lange nicht mehr zur Geltung gebracht
worden. Was nicht nur mit dem Einfluß der Kulturlinken zu tun hat,
sondern auch mit der Wirkung einer nach dem Zweiten Weltkrieg aus den
USA importierten Vorstellung. Deren wichtigster Mentor war der Philosoph
John Dewey. Deweys Werk wurde im Zuge der Reeducation ins Deutsche
übersetzt und massiv verbreitet.
Darin vertrat er gegen die ältere angelsächsische Tradition die
Auffassung, daß Demokratie weniger eine Verfassungsordnung mit
Gewaltenteilung und Rechtstaatlichkeit sei, eher „eine Form des
Zusammenlebens“, die von bestimmten „Werten“ abhänge, die man schon in
seinem Alltagsleben verwirklichen müsse.
Das heißt Demokratie beginnt damit, daß der Vater dem Kind erklärt,
warum es bestraft oder gelobt wird, erweitert sich auf die Abstimmungen
des Familienrats, die Beteiligung der Elternvertreter an der
Entscheidung über das richtige Schulbuch und gipfelt schließlich in der
Repräsentation des Volkes durch Wahl des Parlaments. Das ist weniger
harmlos als es klingt. Nicht nur, weil man fahrlässig mit der Regel
„Demokratie da, wo sie hingehört“ (Max Weber) bricht, sondern auch, weil
die Schwammigkeit dessen, was inhaltlich überhaupt „demokratisch“ sein
soll, dem Gesinnungsdiktat Tür und Tor öffnet.
Verunsicherung wird spürbar
Den Siegeszug solcher Vorstellungen hat das selbstverständlich nicht
aufgehalten. Wie tief sie mittlerweile in der Gedankenwelt der
tonangebenden Kreise verankert sind, kann man einem Beitrag Jens Hackes
in der letzten Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik
entnehmen. Auch Hacke spricht von einer „liberal-demokratischen
Lebensform“ als maßgeblicher Voraussetzung dessen, was uns lieb und
teuer ist.
Faktisch operiert er aber mit einer verklärten Sicht auf das
Gemeinwesen, das sich nach `68 ausgebildet hat, samt Hedonismus, Laxheit
und skrupelloser Vernutzung aller materiellen und immateriellen
Ressourcen. Daß der Text Hackes den alarmistischen Titel „Liberal oder
nicht sein“ trägt, zeigt allerdings auch Verunsicherung. Die Abwendung
immer größerer Schichten von dem, was das Establishment wünscht, macht
deutlich, daß es offenbar keine „Pfadabhängigkeit“ gibt, die die Moderne
sicher im Utopia der „offenen Gesellschaft“ enden läßt.
Daher rührt die neue Unnachsichtigkeit, mit der man jeden
diszipliniert, der den „zivilen Konsens“ verletzt. Uwe Tellkamp zum
Beispiel oder Susanne Dagen. Deshalb ist es besonders wichtig, kaltes
Blut zu bewahren, wachsam zu sein und die Reaktionen des Establishments
als das zu nehmen, was sie sind: Ausdruck der Angst, daß die Grundlagen
seiner Macht brüchig werden. Weißmann