Auch wir lesen vernutzend. Ich sprach darüber mit Ellen Kositza, als wir
für den Messeauftritt in Frankfurt geeignete Plakatsprüche
zusammentrugen.
"Journalisten lesen nicht, sie suchen Stellen" war einer, für den wir
uns entschieden, denn er bringt das Herumstöbern in einem Buch auf der
Suche nach skandalösen Sätzen abschätzig auf den Punkt. Auf diese Weise
ausschlachtend zu lesen ist kein Lesen, sondern ein Auswerten, also ein
unmusischer Vorgang.
Auch Kositza und ich schlachten aus, Kaiser und Lehnert ebenso.
Wir durchforsten Bücher, weil wir über sie Artikel schreiben wollen, die
unsere Sache voranbringen. Wir blättern, weil wir entscheiden müssen,
ob wir unseren Lesern (und das sind auch: unsere Kunden) etwas zur
Lektüre empfehlen oder von ihr abraten sollten. Wir suchen nach Stellen,
in denen ungerecht oder dumm oder justiziabel über uns geurteilt wird,
und die Bücher dieser Kategorie sind die einzigen, die das eintauchende
Lesen auch gar nicht verdient haben.
Wir sind zwischen die Mühlsteine aus erweitertem Verlegertum und
einer manchmal ratlosen Partei geraten - woher sollen Verhaltenslehren
für eine aus den Fugen rutschende Zeit kommen, woher
Verteidigungsstrategien gegen Denunziationen und dreiste Behauptungen?
Glaube, Gebet und Kirchgang könnten eine Säule sein, aber nein,
Sonntag für Sonntag, zumal in fremden Städten, bange Minuten: welche
Lieder, welche Kombo, welcher Tölpel am Altar, welches dümmliche
Predigtthema? Statt beschenkt zu werden: Panik davor, daß wieder ein
Unberufener den Alltag über die Kirchenschwelle zerrt und vor unseren
Augen so etwas wie eine ökumenische Ethik gegen rechts daraus ableitet.
Das eintauchende Lesen: Wann war es mir im ablaufenden Jahr
vergönnt? Abgesehen von einigen Antaios-Titeln vier Mal: Im Frühjahr las
mir Kositza während einer langen Autofahrt Martin Mosebachs Die 21 vor. Ich sehe in diesem Buch eine "Stiftung".
Ich studierte Iwan Iljins Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse und erhielt dazu Unterweisungen von einem Abt, der dort, wo er Diener ist, nicht nimmt, sondern schenkt.
Und zu Amor Towles' Ein Gentleman in Moskau griffen
auf meine Empfehlung hin viele unserer Leser. Mir und anderen bescherte
der Roman im durchglühten Sommer großartige Lesestunden.
Am vierten Buch sitze ich, sitzen wir noch: Mein Sohn und ich
lesen es uns vor, wenn wir abends Zeit haben oder einer von uns beiden
eine monotone Tätigkeit verrichten muß. Die Wiederkehr der Wölfe
von Hans Bergel ist ein Wälzer, der zweite Teil einer Trilogie und
jedenfalls ein "welterschließender Roman" (ein Ausdruck von Armin
Mohler).
Während ich meinem vierzehnjährigen Sohn vorlese (oder er mir),
findet diese Erschließung, diese Aufschlüsselung der Welt tatsächlich
statt. Ein siebenbürgischer Schüler steht im Zentrum der Handlung,
Rosenau und Kronstadt am Rande der Karpaten liegen wie unter einem
Brennglas. Von einer Fahrradtour am Vorabend des Kriegs bis zur
Verschleppung der Volksdeutschen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion
spannt Bergel den autobiographischen Erzählbogen.
Wir müssen die Lektüre oft unterbrechen, um im Atlas Ploiesti
oder Turnu Severin zu suchen oder anhand einer Kriegsgeschichte des II.
Weltkriegs die Truppenbewegungen im Südosten nachzuvollziehen.
In den Lektürestunden und Nebengesprächen ist mir wieder klar
geworden: Wir alle können aus dürren Zahlen und Jahresdaten nichts
Wesentliches lernen, sondern nur aus Geschichten, Szenen, verknüpfenden
Ereignissen und den Schilderungen von Lebenswegen Einzelner und
Schicksalen ganzer Dörfer, Städte und Völker.
Die Wiederkehr der Wölfe beschreibt - neben vielen
ineinander verwobenen Strängen - die Rekrutierung rumäniendeutscher
junger Männer für die Gebirgsdivision "Prinz Eugen" und die vielen
Gespräche der Abiturienten mit ihren Vätern und Lehrern über deren
Dienst im I. Weltkrieg, über Versailles, den Aufstieg Hitlers, die
Unterschiede zwischen Deutschland und dem Nationalsozialismus, zwischen
dem recht weit entfernten Deutschen Reich und der siebenbürgischen
Geschichte und Mentalität. Nichts ist einhellig, alles ist
vielschichtig, schwierig, nicht von nachgereichter Moral versalzen,
vieles ist nachvollziehbar, sogar der Wahn.
Daß einer seiner Urgroßväter in Montenegro als Gebirgspionier
einem Bataillon der von General Arthur Phleps geführten Division
zugeteilt wurde, gegen die Partisanen kämpfen mußte und 1948 aus der
Kriegsgefangenschaft abgemagert nach Oberschwaben zurückkehrte, beginnt
erst über den Umweg durch die Lektüre des Romans auf meinem Sohn zu
lasten als etwas, das ihn hoffentlich im richtigen Moment vom Falschen
abhält, sei es von einer fatalen Entscheidung, einem leichtfertigen
Urteil oder auch nur von einem dummen Witz. Ich habe ihm bisher nur
einen kleinen Teil von dem erzählt, was mein Großvater dort erlebte.
Dieser Groß- und Urgroßvater floh aus der Gefangenschaft nach
Norden und durchschwamm in der Nähe des Eisernen Tores die Donau,
vielleicht nicht weit von der Stelle entfernt, wo Otto Skorzeny mit
seinen Männern die Sabotage der engen Donaupassage verhinderte, um der
kriegführenden Wehrmacht den Nachschub an rumänischem Öl zu sichern. In
Bergels Roman heißt Skorzeny anders, ist sogar auf zwei Figuren verteilt
gezeichnet.
Familiengeschichten, Romankapitel, Gespräche zwischen Vater und Sohn, hier wie dort.
Wenn die Adler kommen und Die Wiederkehr der Wölfe
sind in neuen Ausgaben vor zwei Jahren erschienen. Ich hatte den
dreiundneunzigjährigen Autor damals besucht und war fast einig über die
Buchrechte. Er entschied anders, im letzten Moment.
Nun soll Bergel, vernahm ich, am dritten Teil der Trilogie
arbeiten. Er fragte mich damals, welchen Einstieg er in die
Schilderungen der für die Siebenbürger katastrophalen Nachkriegsjahre
wählen solle. Ich schlug ihm etwas vor und bin gespannt, ob er diesen
Faden aufgegriffen haben wird.
Ich empfehle den völlig unterschätzten Bergel unbedingt als
Winterlektüre, als Lektürebad, als Vorlesebuch, beide Teile,
nacheinander ... GK
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Wenn die Adler kommen kann man hier, Die Wiederkehr der Wölfe hier bestellen.
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