Stationen

Freitag, 23. November 2018

Was blieb von 68?

Keine Generation hatte es so leicht wie die der Geburtsjahrgänge von 1945 bis 1955, und keine wurde so gnadenlos gefordert und geprüft wie die Generation ihrer Eltern. Der Unterschied zwischen den Lebenswelten derer, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufwuchsen, und jener, die in seiner zweiten Hälfte in die Welt gesetzt wurden, war enorm.
Mein Vater wurde fünf Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren. Er hatte als Kind den Zusammenbruch des Habsburger Reiches erlebt, als junger Mann den mörderischen Klassenkampf der Ersten Republik, den Aufstieg des Nationalsozialismus, den „Anschluss“ und Hitlers Krieg. Als er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, widmete er sich dem Wiederaufbau und der Wiederherstellung der österreichischen Souveränität.
Ich wurde sieben Jahre nach Kriegsende geboren. Anders als er wurde ich nie verfolgt, musste nie um mein Leben fürchten, litt weder Kälte noch Hunger. Ich durfte studieren, was ich wollte, und fand – das war damals noch die Regel – mühelos Arbeit. Das Fundament, auf dem meine Generation ihre Zukunft aufbauen konnte, war solid. Westlich des Eiserneren Vorhangs waren die Jahre von 1950 bis 1973 ein goldenes Zeitalter. Bei einer jährlichen Wachstumsrate von vier Prozent verdreifachte sich das Pro-Kopfeinkommen. Der Fleiß und die Sparleistung unserer Eltern, der technische Fortschritt, das wachsende Humankapital und der weltweite Handel hob den Wohlstand in einem Ausmaß, das Europa zuvor nur nach den napoleonischen Kriegen erlebt hatte sowie zwischen 1870 und 1913, in der Ära des klassischen Liberalismus, der Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Die Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit war rasch überwunden worden. Die Wirtschaft boomte, die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg, mit ihr die Löhne. Bald zogen Waschmaschinen und Kühlschränke, Elektroherde und Staubsauger, Musikschränke und Fernsehgeräte in die Haushalte ein. Im Urlaub fuhr man mit dem Kleinwagen an die Adria. Der Eintritt in den Arbeitsmarkt befreite die Frauen von ihrer ausschließlichen Bindung an Haushalt und Familie und revolutionierte das Verhältnis zwischen den Geschlechtern (damals gab es erst zwei) mindestens so nachhaltig wie die Antibaby-Pille, die 1960 erstmals zugelassen wurde. Sogar Fernreisen und ein Studium im Ausland rückten für Studenten in den Bereich der Möglichkeiten. Wir hielten es nicht nur für selbstverständlich, dass es uns künftig immer besser gehen würde, sondern auch, dass uns das „die Gesellschaft“ schuldete.
Je mehr wir hatten, desto höher wurden unsere Ansprüche. Dabei ging es nicht um Materielles. Konsum war nicht alles, wir wollten auf ihn nicht verzichten, er war alltäglich geworden, denn Güter waren im Überfluss vorhanden. Aber das kleine Glück unserer Eltern, das Einfamilienhaus mit Garten, das Auto und Urlaub am Meer reichte nicht. Wir beklagten die politische Apathie unserer Väter. Fleiß, Verantwortung, Sparsamkeit und Verzicht, alles Werte, die der Wiederaufbau erfordert hatte, widersprachen unserem grenzenlosen Glücksanspruch. Wir wollten eine neue, von allen lustfeindlichen Beschränkungen befreite Welt. „We can’t get no satisfaction“ war unsere heimliche Hymne, totale Selbstverwirklichung und weltweite Verbrüderung waren unser Ziel. Auf dem Weg dahin war alles erlaubt. Die neue Kampfmoral schloss Kompromisse aus. Der Verstoß gegen die herkömmliche Moral wurde geradezu obligatorisch. Die Jugendkultur der sechziger Jahre, mit ihrem Kult der freien Sexualität, der Exzesse und der Drogen, war so egozentrisch wie romantisch. Rasch wurde sie kommerzialisiert. Die Änderungen in der Werteskala, im individuellen Verhalten und im gesellschaftlichen Handeln hatte weitreichende Folgen. Äußerlich betrachtet blieb die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft intakt. Aber die seidenen Fäden, die siezusammengehalten hatten, hielten dem Druck nicht mehr stand. Die öffentlichen Institutionen blieben erhalten, aber nach und nach ging ihre bürgerliche Substanz verloren.
Als mein Vater 1966 starb, hatte ich gerade erst begonnen, mich in dieser Welt im Umbruch umzuschauen. Im Oktober 1958 war Pius XII. gestorben, mit ihm wurde das Ancien Régime in der katholischen Kirche zu Grabe getragen. Im Verlauf der nächsten zehn Jahren veränderte sie sich beinahe bis zur Unkenntlichkeit. An die Stelle der tridentinischen Messe trat liturgisches Experimentaltheater.  Nüchterne Volksaltäre wurden vor den prächtigen Hochaltären aufgestellt, denen die Priester nunmehr geradezu ostentativ den Rücken zuwandten, um den Bruch mit der katholischen Tradition zu verdeutlichen. Mit der „Pillen-Enzyklika“ Humanae vitae (1968) versuchte Paul VI., der mit der postkonziliären Krise nicht mehr fertig wurde, korrigierend einzugreifen.  Die Progressiven riefen zum ersten Mal offen zum Widerstand gegen den Papst auf. Der Wind, der sich unter Johannes XXIII. erhoben hatte, schwoll zu einem Sturm an. Noch bevor sie die Hochschulen erfasste, hatte sich die Kulturrevolution in der Kirche festgesetzt.
Es ist merkwürdig, dass die zahlreichen Bücher, die 50 Jahre nach 1968 erschienen, das Zweite Vatikanische Konzil und die postkonziliäre Wende entweder gar nicht oder nur am Rande erwähnen. Als sie am dringendsten gebraucht worden wäre, verzichtete die Kirche auf ihre Rolle als Gegenbild und Korrektiv gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. 1968 wurde die Zeitschrift „Kritischer Katholizismus“ gegründet, um „Theorie und Praxis in Gesellschaft und Kirche“ zur Diskussion zu stellen.  Die kirchlichen Publikationen und Arbeitskreise dieser Zeit waren bald nur noch Durchgangsstationen auf dem Weg in den linken Radikalismus. Viele Achtundsechziger hatten sich in kirchlichen oder kirchennahen Vereinen – wie man damals sagte – „politisiert“. In den linksradikalen Zirkeln, denen ich mich als Student anschloss, waren Kinder aus katholischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Familien etwa gleich stark vertreten. Zwar hatten viele Nazi-Eltern, aber der Generationenkonflikt und der Protest gegen das „Beschweigen“ der NS-Vergangenheit spielten für uns damals eine weit geringere Rolle ein als gemeinhin angenommen wird. In den siebziger Jahren sollte es der als Antizionismus maskierte Antisemitismus den jungen Rebellen sogar noch erleichtern, sich mit der Vätergeneration zu versöhnen. Das heute übliche Spektakel „Antifaschisten gegen Nazis“ ist viel jüngeren Datums, es geht auf die Kampagnen gegen Kurt Waldheim und die Regierung Schüssel zurück. 1968 gab es die Nazis noch. Als es sie nicht mehr gab, musste man sie neu erfinden.
Den Radikalen meiner Generation ging es nicht nur oder auch nur vorwiegend gegen das Erbe des Nationalsozialismus, sondern um den Sturz des imperialistischen Kapitalismus und die sozialistische Revolution. Was zu tun sei, um die Gesellschaft zu verändern, glaubten wir zu wissen, wir hatten schließlich Adorno und Marcuse gelesen, bevor wir begannen, uns an Marx, Lenin, Trotzki oder Mao zu orientieren. Die Neue Linke war überall in Europa eine Minderheit, besonders in Österreich, da war sie ein Import aus Deutschland und eine Quantité négligeable.  Sie formierte sich Mitte der sechziger Jahre zuerst im sozialdemokratischen Milieu, darüber hinaus war ihr politischer Einfluss so gut wie bedeutungslos. Abgesehen von den Protesten der SPÖ-Jugend gegen die Blasmusik bei der 1.-Mai-Kundgebung am Wiener Rathausplatz und der aktionistischen Ferkelei im Hörsaal I verlief unser 1968 weitgehend störungsfrei. Die so sehr gepriesenen Reformen der Ära Kreisky in den 1970er Jahren (Bildung, Justiz, Familienrecht, Fristenlösung, Entkriminalisierung der Homosexualität) waren nicht dem Druck der Neuen Linken geschuldet, sondern dem Social Engineering und den säkularistischen Bestrebungen der sozialdemokratischen Modernisierung.
In anderen Ländern verlief das Jahr wilder. Doch weder die Berliner Krawalle, noch der Pariser Mai haben die kulturelle Wende herbeigeführt, die mit dieser Jahreszahl assoziiert wird. Wer das Gegenteil behauptet, verkehrt Ursache und Wirkung. Nicht die Linksradikalen haben die Gesellschaft verändert, sondern eine Gesellschaft in Veränderung franste zeitweilig an ihren linken Rändern aus. Im Pariser Mai gelang es den Studenten zwar ein paar Wochen lang, sich mit den Arbeitern zu verbünden, aber die Wahlen im Juni stärkten die Gaullisten. Die Arbeiter hatten bald verstanden, dass die radikale Studentenbewegung nicht aus Arbeitslosen und hungernden Intellektuellen bestand, sondern aus den verwöhnten Fratzen der Bourgeoisie.
In Deutschland kam ein solches Bündnis nicht zustande. Der SDS löste sich nach dem Attentat auf Dutschke 1968 auf. Aus der Konkursmasse ging die Baader-Meinhof-Bande hervor, die sich „Rote-Armee-Fraktion“ nannte. Im „roten Jahrzehnt“, den „bleiernen Jahren“, bildete sich eine rege Sympathisantenszene, auf die sie sich stützen konnte.  Prominente Linksintellektuelle, unter ihnen Jean-Paul Sartre, Hans-Magnus Enzensberger, Erich Fried und Heinrich Böll, schlossen sich ihr an. Klammheimlicher Sympathie erfreute sich die RAF in namhaften deutschen Medien, in denen sich das Deutungsmonopol der radikalen Linken rasch durchsetzte. In der Nachfolge des SDS entstanden leninistische, trotzkistische und maoistische Sekten, die zeitweilig Zehntausende an sich banden, aber fast ebenso rasch wieder verschwanden, wie sie sich gebildet hatten. Das kurze „rote Jahrzehnt“ implodierte bereits Ende der 1970er Jahre.
Seither haben viele ehemalige Achtundsechziger umgedacht und sind heute weitgehend immun gegen sozialistische Anwandlungen. Andere ordneten sich in den Mainstream der linken, linksliberalen und grünen Parteien ein. Sie legten den „revolutionären Kampf“ zu den Akten, bewahrten sich jedoch ihren Antikapitalismus und den Hass gegen Familie, Nation und Religion. Aus Marxisten wurden „Kulturmarxisten“. Diese Metamorphose begünstigte Karrieren in Schulen und Hochschulen, Medien und Kulturindustrie.  Bis heute verteidigen viele alte Achtundsechziger ihr Deutungsmonopol und ahnden jedweden Verstoß gegen eine „political correctness“, die um immer neue Denk- und Sprechverbote erweitert wird.  Sie sind die Hüter des neuen Konformismus. Längst treten sie nicht mehr für die Diktatur des Proletariats ein, aber zentrale Forderungen, die Marx und Engels 1848 im „Kommunistischen Manifest“ erhoben, sind auch die ihren: „starke Progressivsteuer“, „Abschaffung des Erbrechts“, „Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol“, „öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder“.
Ihr festes Vertrauen in den starken Staat und in den Primat der Politik als Vehikel einer permanenten Revolutionierung der Lebenswelten, zu der auch die Förderung der Massenmigration gehört, macht sie zu natürlichen Verbündeten der globalen Eliten und der zentralistischen Bürokratien in den supranationalen Institutionen. Was die Moderne „Wandel“ nennt, nämlich „das immer schnellere Marschieren auf dem gleichen Weg in die gleiche Richtung“ (Nicolás Gómez Dávila), macht ihr Wesen aus. Was sie eint, ist die Anmaßung des Wissens, die arrogante Annahme, besser als alle anderen Bescheid zu wissen, wie die Geschichte zu einem guten Ende geführt werden könnte.
Doch stellen wir uns einmal vor, die Achtundsechziger hätten samt und sonders öffentlich Abbitte geleistet und der Kulturmarxismus wäre uns erspart geblieben. Wäre unsere Welt dann wesentlich anders? Gäbe es dann keine progressive Besteuerung mehr, kein Monopol der Zentralbank, keine permanenten Eingriffe in die Eigentumsrechte? Würde die Moral der Marktteilnehmer plötzlich den Versuchungen inflationärer Geldpolitik standhalten? Würde das Gesundheits- und das Bildungswesen privatisiert werden? Würden die traditionellen Familien die Patchworks ersetzen? Würde es weniger Scheidungen und weniger Abtreibungen geben? Würde die Geburtenrate steigen? Würden Selbstbestimmung und Selbstverantwortung an die Stelle sozialstaatlicher Gängelung treten? Würden sich die Kirchen wieder füllen?
Für die kulturellen Veränderungen, die in den 1960er Jahren einsetzten, gibt es in der Geschichte zahlreiche Parallelen.  Es ist wohl eine historische Gesetzmäßigkeit, dass die rasche Akkumulation von Reichtum und die damit einhergehenden Begehrlichkeiten jüngerer Generationen das gesellschaftliche Gleichgewicht zerstören und einen fortschreitenden Verfall der überkommenen Ordnung bewirken. Das Ende der Römischen Republik ist so ein Beispiel, die Erosion des Ancien Régime im Frankreich des 18. Jahrhunderts ein anderes. Nie ist es gelungen, das Rad zurückzudrehen und den Status quo ante wiederherzustellen.
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges lauschte ein chinesischer Mandarin dem leidenschaftlichen Vortrag eines linken belgischen Abgeordneten über die Französische Revolution. Am Ende schüttelte er den Kopf und sagte: „Ja, die Französische Revolution war ein großes Ereignis, aber sie ist immer noch zu neu. Man muss abwarten, wohin sie führt, um sie verstehen und beurteilen zu können.“ Der Mann hatte recht. Erst Jahrzehnte später, im Lichte der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts und ihrer Folgen, ließ sich die Französische Revolution verstehen und beurteilen. 1968 ist erst 50 Jahre her.