Stationen

Donnerstag, 13. Dezember 2018

Fluidum

Deutschland führt in den nächsten Wochen ein neues Geschlecht ein. Neben Mann und Frau wird es künftig auch Personen geben, die offiziell in die Kategorie «divers» fallen. Gedacht ist die Bezeichnung für Intersexuelle, früher Hermaphroditen oder einfach Zwitter genannt. Für Menschen also, deren Geschlechtsmerkmale sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht eindeutig zuordnen lassen.
Deutschland ist hier eher Nachzügler als Vorreiter. Länder wie Australien, Dänemark, Kanada, Argentinien, Indien oder Neuseeland, um nur einige zu nennen, haben die dritte Form bereits eingeführt, jüngst hat sich auch Österreich dazugesellt. Häufig ist die dritte Option nicht ausschliesslich auf Intersexuelle begrenzt, wie es Deutschland vorsieht, sondern steht auch Personen zur Verfügung, die im biologischen Sinn zwar Mann oder Frau sind, sich aber nicht in diese beiden Kategorien einordnen lassen wollen – Transgender oder Nichtbinäre, wie sie sich nennen. Darunter fallen beispielsweise Geschlechtsfluide (die sich mal mehr als Mann, mal mehr als Frau fühlen), Pangender (die sich mit allen Geschlechtsidentitäten identifizieren), Agender (Geschlechtsneutrale) und zahlreiche andere. Der Bezeichnungen sind viele, der sprachlichen Fettnäpfe, in die man als Transgender-Unkundige treten kann, ebenfalls.

Die innere Überzeugung genügt

In der Schweiz gilt im Moment zwar noch das traditionelle Mann-Frau-Schema. Doch auch hier bahnen sich bemerkenswerte Änderungen an. Im Frühling hat der Bundesrat einen Entwurf präsentiert, der es «Transmenschen und Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung» erlauben soll, ihr amtliches Geschlecht schnell und unkompliziert zu ändern. Eine einfache Erklärung gegenüber dem Zivilstandsbeamten genügt – die Person muss kein medizinisches Attest vorlegen und keinen Nachweis erbringen, dass sie auch körperlich zum Mann beziehungsweise zur Frau werden möchte; eine Hormontherapie oder eine geschlechtsangleichende Operation sind nicht erforderlich. Die feste innere Überzeugung, einem anderen als dem im Personenstandsregister eingetragenen Geschlecht anzugehören, soll reichen; nur bei eigentlichen Juxgesuchen oder Missbräuchen darf das Zivilstandsamt nein sagen.
Wer seine Überzeugung im Laufe der Zeit wieder ändert, kann zum ursprünglichen Geschlecht zurückkehren – die Zahl der amtlichen Wechsel vom Mann zur Frau oder umgekehrt ist nicht begrenzt. Auch das dritte Geschlecht dürfte hierzulande nicht mehr lange auf sich warten lassen. Etliche Kantone, Parteien und Organisationen sind der Meinung, dass die Schweiz nachziehen und diese Option nun ebenfalls schaffen solle; der Bundesrat ist derzeit daran, das Thema in einem Bericht aufzuarbeiten.

Was ist mit Privilegien?

Welche Konsequenzen sich aus der neuen, fliessenden Geschlechtervielfalt ergeben werden, ist noch wenig überschaubar. Das fängt beim Alltäglichen an. Wenn es neben Mann und Frau neu noch eine zusätzliche Kategorie geben soll, wie viele Toiletten, Garderoben oder Duschen braucht es dann in öffentlichen Gebäuden? Zwei oder drei? Oder soll der Einfachheit und der Kosten halber künftig alles unisex sein? Wie steht es mit den Abteilungen in den Spitälern? Oder mit den Gefängnissen?
Weiter wird man über die Anpassung der Sprache reden müssen. «Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Diverse» dürfte noch leicht von den Lippen gehen, etwas schwieriger wird es beispielsweise bei Stellenausschreibungen und recht kompliziert bei Gesetzestexten. In Deutschland, so teilt die Bundes-regierung mit, will man die Gesetzessprache nicht anpassen, das generische Maskulinum umfasse alle drei Geschlechter. In der Schweiz, wo man zumindest auf Bundesebene im Deutschen alles durchgängig geschlechtergerecht formuliert, dürfte die Sache mehr zu diskutieren geben. So ist noch völlig unklar, wie man nichtbinäre Personen bezeichnen und welche Pronomen man für das dritte Geschlecht verwenden soll – «er» und «sie» gehen kaum, und «es» wird in der Transgender-Gemeinde häufig als diskriminierend empfunden.
An Vorschlägen mangelt es nicht; unter den Pronomen-Favoriten rangieren etwa «en» oder «sier». Der Rat für deutsche Rechtschreibung, der sich im November über das Thema gebeugt hat, ist unschlüssig und hat noch keine Empfehlung herausgegeben. Man wolle zuerst abwarten, welche Bezeichnungen des dritten Geschlechts oder weiterer Geschlechter sich in der Praxis etablieren würden, heisst es.
Im Weiteren wird man sich überlegen müssen, wie sich die neue Geschlechterfreiheit auf die Rechtsordnung auswirken wird. Wenn man das traditionelle Mann-Frau-Schema als überholt ansieht, wie steht es dann beispielsweise mit dem Militärdienst, den in der Schweiz nur Männer leisten müssen? Was gilt für jene Sozialleistungen wie Rentenalter oder Witwenrente, bei denen Frauen privilegiert sind? Und vor allem: Was kommt auf das Familien- und Abstammungsrecht zu, das nach wie vor von der Vorstellung ausgeht, dass es für die Zeugung eines Kindes einen Mann und eine Frau braucht?
Was bis anhin als unumstösslich galt, nämlich dass eine Mutter weiblich und ein Vater männlich ist, wird man überdenken müssen. Denn wenn man sein Geschlecht künftig nach Belieben wählen kann, unabhängig davon, was man, biologisch gesehen, ist, wird es Mütter geben, die ein Kind gebären und amtlich ein Mann sind – oder etwas Drittes. Und Väter, die biologisch Männer sind, aber neu als amtlich eingetragene Frauen ein Kind zeugen. Man kann sich viele abenteuerliche Konstellationen vorstellen. Klar ist nur: Die Sache wird kompliziert.
Vorab konservative Zeitgenossen werden diese Entwicklung absonderlich finden und als dekadente Erscheinungen einer Gesellschaft abtun, in der sich jeder Einzelne als Nabel der Welt sieht und keine anderen Probleme hat, als der eigenen Befindlichkeit nachzuspüren. Auch Liberale dürften sich insgeheim die Frage stellen, ob es wirklich notwendig sei, dass sich der Staat nach den Wünschen jeder noch so kleinen sexuellen Minderheit richtet. Oder ob es eigentlich nicht reiche, dass man als Angehöriger einer Splittergruppe frei leben und lieben kann, wie und wen man will. Von offizieller Seite wird beschwichtigt, dass nur sehr wenige Menschen einen amtlichen Wechsel ihres Geschlechts ins Auge fassen dürften – man solle die Sache also nicht unnötig aufbauschen und dramatisieren.
Fest steht, dass man den Anliegen der Transgender-Lobby seit ein paar Jahren weltweit, aber auch in der Schweiz mit enormem Wohlwollen begegnet und Transgender zu einer Art Dogma geworden ist. Nur wenige wagen es noch, das Geschlecht nicht nur als selbstbestimmtes Konstrukt anzusehen, sondern auch auf biologische Offensichtlichkeiten des Frau- und des Mannseins oder auf soziale Differenzen hinzuweisen.

Widerstand gegen Transrassismus

Gar keine Freude an der Einebnung der Geschlechtergrenzen haben etwa feministische Kreise. Sie tragen derzeit einen giftigen Streit mit Transgender-Aktivisten darüber aus, wer als «echte» Frau gelten darf. Denn nicht jede Feministin kann sich – verständlicherweise – mit der Idee anfreunden, dass ein Mann in null Komma nichts zur Frau werden kann und ein Mensch mit Penis plötzlich als weibliche Verbündete im Kampf gegen das Patriarchat anzusehen ist.
Die Entwicklung rund um die selbstgestaltete, man kann auch sagen selbstgebastelte Identität geht derweil weiter. So wird seit einiger Zeit angeregt über die Frage gestritten, ob eine Person, wenn es ihr danach ist, auch ihre «Rassenzugehörigkeit» wechseln kann – transracialism nennt sich das. Auslöser war die Affäre rund um die Amerikanerin Rachel Dolezal, die sich als Aktivistin einer Bürgerrechtsorganisation für die Rechte der Schwarzen einsetzte. Später stellte sich heraus, dass die vermeintliche Afroamerikanerin trotz beeindruckender Afrofrisur und dunkler Haut keineswegs schwarz ist, sondern in Tat und Wahrheit als weisses Kind weisser Eltern aufgewachsen war; ihr Äusseres hatte sie später justiert. Sie habe sich immer schwarz gefühlt und sich als schwarz identifiziert, verteidigte sich die Frau gegen den Shitstorm, der darauf über sie hereinbrach.

Alte Teenager

Kurioserweise kommt die heftigste Kritik gegen Dolezal und andere Transrassische vornehmlich aus linken Kulturkreisen, die sich, wenn es um die Geschlechtsidentität geht, besonders progressiv geben. Die falschen Schwarzen würden mit ihrem Verhalten die Transgender-Bewegung desavouieren, so die Befürchtung der linken Elite. Zudem stehe es ihnen als privilegierten Weissen nicht zu, das Leid der schwarzen Bevölkerung für sich in Anspruch zu nehmen – ein ähnliches Argument, wie es Feministinnen gegen jene Frauen vorbringen, die im herkömmlichen Sinn Männer sind. Allerdings gibt es auch Unterstützer, die Dolezal und Konsorten den Rücken stärken und es als unzulässig ansehen, einen Unterschied zwischen der freien Wahl des Geschlechts und jener der Rasse zu machen. Wenn Transgender eine legitime soziale Identität darstelle, müsse dasselbe auch für Transrassismus gelten.
Die jüngste Episode rund um die selbstkonstruierte Identität kommt aus den Niederlanden. Der 69-jährige Emile Ratelband hat kürzlich versucht, auf dem Rechtsweg um zwanzig Jahre jünger zu werden. Er fühle sich wie ein Endvierziger, argumentierte der Mann. Bei der Stellensuche komme er sich aufgrund seines vorgerückten Alters diskriminiert vor, zudem erfahre er als älterer Mann beim Internet-Dating Nachteile. Die Freiheit, die Transgender-Menschen bei der Wahl des Geschlechts hätten, müsse auch beim Alter gewährt werden. Das zuständige Gericht hat den Wunsch nach amtlicher Verjüngung zwar vor wenigen Tagen abgelehnt: Viele Rechte und Pflichten seien an das tatsächliche Alter gekoppelt, befand es.
Gut möglich, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist. Denn wenn es männliche Mütter geben kann und hellhäutige Schwarze, warum dann nicht auch in die Jahre gekommene Teenager?    Katharina Fontana

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