Es gibt wahrscheinlich nicht viele Sozialwissenschaftler, die es
durch ihr Studium geschafft haben, ohne jemals eine Zeile Jürgen
Habermas gelesen oder auch nur Interesse an der bundesrepublikanischen
Koryphäe geheuchelt zu haben. Wenn mir jemand einen sinnvollen Grund
nennt, kann ich es ja nachholen. Aber auch so hat er mir gute
Unterhaltung geboten.
Schöne Momente beispielsweise, wenn sich Kommilitonen gegenseitig
versicherten, eine bestimmte Textpassage dieses Langweilers gerade „ganz
spannend“ und „aufregend“ zu finden. Noch schöner, wenn sie diese dann
referierten und entweder banaler Blödsinn oder gleich kompletter Unfug
auf die Zuhörer losgelassen wurde.
Bleibt der Witz übrig, daß da wer auf mehr als tausend Seiten eine
Kommunikationstheorie niederschrieb, die man offensichtlich erschöpfend
in der Handlungsempfehlung zusammenfassen kann: Erst denken, dann
sprechen. Erst sprechen, dann denken. Und irgendwann, wenn sie nicht
gestorben sind, auch mal ein klein wenig handeln.
Ideal der „herrschaftsfreien Kommunikation“
Ansonsten klingt das ja ganz nett. Die „herrschaftsfreie
Kommunikation“ als soziales Ideal, in der „ausschließlich der
eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ herrschen solle,
„der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum
Zuge kommen läßt und die Entscheidung praktischer Fragen rational
motivieren kann“.
Naja, entweder scheint Habermas den Kern seiner Theorie nicht
verstanden zu haben, oder er nimmt ihn nicht so ernst. Jedenfalls habe
ich noch nicht gehört, daß er sich entschieden gegen den als
„Zivilgesellschaft“ titulierten Mob wendet, der beispielsweise wie
jüngst in Dresden das Ideal der „herrschaftsfreien Kommunikation“ mit
Füßen tritt, wo es nur geht.
Überhaupt scheint mir dessen Theorie, sofern es sich um eine handelt,
doch etwas schwach in der Begründung. Wie mir Kommilitonen
versicherten, habe Habermas mit ihr darlegen wollen, wie Gewalt als
Austragung von Konflikten durch kommunikatives Handeln ersetzt werden
könne. Ein nobles Anliegen, das leider aber eine gewaltige Schwäche
besitzt.
Sprache nicht einzige Form der Kommunikation
Wie selbstverständlich gehen Habermas und andere
Kommunikationstheoretiker von der Annahme aus, daß Kommunikation durch
Sprache oder etwas der Sprache eng Verwandtes erfolgt. Doch das ist
nicht richtig. Denn Gesellschaften haben schon lange kommunikativ
gehandelt, bevor es auch nur die Agora von Athen gab. Die Form war nur
eine andere.
Was häufig übersehen wird: Gewalt ist auch eine Art der
Kommunikation. Wer König oder Fürst, Ritter oder Bauer, Herr oder Knecht
in der Gesellschaft war, wurde nicht in einem Gespräch festgelegt,
sondern durch die Fähigkeit des einen, Gewalt über den anderen
auszuüben. Und man kann nicht sagen, daß diese Kommunikation ohne
Argumente sei.
Die Aufregung einer Hinrichtung, wenn sich das Volk sammelt, die
Urteilsverkündung, die Reue des Sünders, ein Sturz, ein Aufseufzen der
Menge. Dann der verwesende Körper auf dem Gestell, wenn die Raben das
letzte Werk der Zerstörung tun. Kurzum, die ganze sinnliche Sensation,
was ist dagegen schon das Gespräch mit dem Bewährungshelfer?
Kulturelle Voraussetzung einer gewaltarmen Gesellschaft
Es ist nur unsere Gesellschaft, die diesen Strukturwandel des
kommunikativen Handelns durchwanderte. Nur unsere spezifische Lebenswelt
ermöglicht es, das Ideal einer gewaltarmen Gesellschaft auch nur zu
denken. Andere Gesellschaften können dies nicht und eine Kommunikation
ist mit ihnen nicht so ohne weiteres möglich.
Daher stellt sich die Frage, wieso es in unserer Gesellschaft diese
Entwicklung gab. Was war die Voraussetzung dafür, daß die Gewalt aus
unserer Mitte verbannt und – der Idee nach – durch den „eigentümlich
zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ ersetzt wurde? Ein soziales
Ideal, welches für sich durchaus Universalität beansprucht?
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