Stationen

Samstag, 15. Juni 2024

Die ewigen Regeln der Macht

Viel, vielleicht sogar zu viel ist in den letzten Tagen über die Wahl zum EU-Parlament geschrieben worden; zumindest in Deutschland aber scheint mir der eigentliche Paukenschlag der Wahlen nicht korrekt genug gewürdigt worden zu sein – die überraschende Erklärung Emmanuel Macrons, angesichts der gewaltigen Wahlerfolge des „Rassemblement National“ das Parlament aufzulösen und Neuwahlen zu verkünden.

Nun ist auch dazu bereits einige Tinte geflossen, aber von einem meiner Ansicht nach unzureichenden Blickwinkel: entweder aus linker Warte, die – welch’ Originalität – wieder einmal eine unmittelbare faschistische Machtergreifung prognostiziert, wenn alle „Demokraten“ nicht unmittelbar den Schulterschluss vollziehen (und fürderhin ihre Macht durch die verschiedensten Zensurgesetze zementieren); oder aber aus einer rechten Perspektive, die in den Ereignissen nur die Bestätigung für ihren dunklen Verdacht sieht, die Neuwahlen seien ein Beweis dafür, Marine Le Pen sei „im System angekommen“ und nur aus diesem Grund einen Schritt näher an die Macht herangeführt worden. Beide Perspektiven scheinen mir unzulänglich. Es stellen sich vielmehr zwei Fragen.

Verbürgerlichung oder Machiavellismus?

Erstens: Wäre es dem Rassemblement National gelungen, ohne eine gewisse Verbürgerlichung seiner Positionen die gegenwärtige Gelegenheit herbeizuführen? Die Antwort ist: nein. Blickt man auf die Statistik der Präsidentschaftswahlen, zeigt sich deutlich, dass die Attraktivität des „Rassemblement (damals noch: „Front“) National“ in den letzten Jahren Jean-Marie Le Pens deutlich abgenommen hatte und vom Maximum der 16,9 Prozent im Jahr 2002 (wo Le Pen auch in die zweite Wahlrunde geriet, dort aber nur 17,8 Prozent erlangte und also sein Potential nicht wesentlich steigerte) auf nur 10,4 Prozent im Jahre 2007 gesunken war.

Dies sollte sich erst mit der Übernahme seiner Tochter, ihrer Säuberungen innerhalb der „alten Garde“ ihres Vaters und ihrer Bemühungen um eine bürgerliche Anschlussfähigkeit drastisch ändern: 2012 waren es bereits 17,9 Prozent, 2017 dann schon 21,3 Prozent, die für sie stimmten. Aber wichtiger noch: Marine Le Pen gelangte hier in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen und erreichte 33,9 Prozent; ein wichtiges Indiz, dass der RN aus seiner Kernwählerschaft ausgebrochen war und auch von anderen Bürgern, die bei der Erstwahl einer anderen Partei ihre Stimme gegeben hatten, als „zweitbeste“ Alternative gesehen wurde.

2022 wurde dies noch schlagender bewiesen: 23,2 Prozent Wähler in der ersten, 41,5 Prozent in der zweiten Runde – und viele Stimmen sagten, es sei nur die irrsinnige Forderung nach Euro-Austritt, ja gar Frexit gewesen, die Le Pen die Präsidentschaft gekostet habe. Ähnliches sehen wir bei den Wahlen zum EU-Parlament: Bis 2009 dümpelten die Ergebnisse zwischen 6 Prozent und 12 Prozent; 2014 und 2019 hingegen erlangte der RN respektive 24,86 Prozent und 23,31 Prozent; letzten Sonntag schließlich – Le Pen hatte sich zwischenzeitlich endlich von den Anti-EU-Positionen gelöst – kam die Explosion: 31,4 Prozent, womit der RN doppelt so viele Stimmen erhielt wie die Partei Emmanuel Macrons.

Nun ließe sich natürlich immer noch argumentieren, diese Ergebnisse seien ausschließlich der wirtschaftlichen und demographischen Situation Frankreichs geschuldet, ja hätten sich möglicherweise durch eine größere Radikalisierung der Partei noch steigern lassen. Aber kontrafaktische Überlegungen sind immer schwer zu widerlegen, und angesichts der gegenwärtigen Altersstrukturen und Mentalitäten Frankreichs würde zumindest ich es wagen, dies zu bezweifeln. Und die am Mittwoch getroffene Entscheidung Éric Ciottis, des Chefs der post-gaullistischen ehemaligen Rechts-Zentristen „Les Républicains“, mit dem „Rassemblement National“ in eine „Union des droites“ einzutreten, wäre ohne jahrelange erfolgreiche und innerparteilich höchst umstrittene Entdämonisierung Le Pens wohl nie zustande gekommen.

Freilich: Ciotti ist nunmehr in einer Nacht- und Nebel-Aktion von seinen empörten Parteifreunden abgesetzt worden und verbarrikadierte sich daraufhin in seinem Amtssitz; das Resultat ist aber für Marine Le Pen dasselbe: Der potentielle konservative Konkurrent auf der linken Seite des RN ist durch ihre Taktik tief gespalten; seine Stimmen dürften größtenteils letzterem zufließen. Ähnlich steht es um das Bündnis mit „Reconquête“: Das geschickte Taktieren mit dem rechten Konkurrenten und schlussendlich die Verweigerung eines Wahlbündnisses – auch hier zielte Le Pen ebenso wie mit dem Ausschluss der AfD aus der ID-Gruppe klar auf das Zentrum der Wähler – hat Zemmours Partei am Mittwoch ebenfalls implodieren lassen und mit Marion Maréchal und Nicolas Bay zentrale Exponenten in die freiwillige Unterwerfung unter den Vorrang Le Pens gezwungen. Nur drei Tage nach den EU-Wahlen gibt es außerhalb des RN bei den französischen Konservativen nur noch Trümmer, und das wird der Wähler ebenfalls sehr wohl begreifen.

Marine Le Pen beweist ebenso wie Meloni, wie echter Machiavellismus geht. Denn die Instrumente, mit denen man Macht behält, sind andere als diejenigen, mit denen man Macht gewinnt; und ergänzend dazu: Diejenigen, mit denen man ein erstes Parteiprofil aufbaut, sind andere als die, mit denen man dieses Profil auch für die innere und dann die äußere Peripherie anschlussfähig macht.

Eine jede Partei, die die Notwendigkeit dieser verschiedenen Stufen nicht einsieht, wird auf ewig in der politischen Romantik und der Sterilität der Fundamentalopposition gefangen bleiben, ebenso wie eine Partei, die nicht fähig ist, ihre Prioritäten notfalls so umzustellen und zu -formulieren, dass sie in jedem Moment das Beste herausschlägt und ihre eigene Position stärkt, an naiven Maximalforderungen scheitern muss: Im Kampf zwischen Florett und Säbel gewinnt meist die erste Waffe – und dann wird man sehen, inwieweit eine gewisse ideologische Flexibilität in Zeiten des Kampfes um die Macht auch eine absolute Verpflichtung für die Zeit danach darstellt, oder vielmehr eine erneute Mutation einsetzen kann. Dies leitet aber bereits zur zweiten Frage über, nämlich wie es jetzt, im Moment des (scheinbaren) größten Triumphs, mit dem RN weitergehen wird, der zum ersten Mal die Macht in greifbare Nähe gerückt sieht.

Macrons Falle

Zweitens also: Wieso hat Macron gerade jetzt das Parlament aufgelöst, und was strebt er damit an? Auch hier gilt es, einem Vorurteil zu begegnen: Diese Auflösung war keineswegs ein Zeichen der Niederlage oder gar ein Beweis, Macron habe „das Volk“ gehört, und Olaf Scholz solle sich an ihm ein Beispiel nehmen – denn Emmanuel Macron geht es genau wie Olaf Scholz und den meisten anderen Politikern vor allem um eines: seine eigene Macht.

Macrons präsidiales Mandat ist ihm eigentlich noch bis 2027 sicher, und auch im Parlament besitzt er eine zwar knappe und umstrittene, aber doch funktionierende Ad-hoc-Mehrheit rund um seine eigene Partei, die 2022 immerhin 38,6 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Doch Macron weiß, dass er extrem unpopulär ist und, falls er noch 3 Jahre weiter so wie bisher regiert, trotz seines noch jungen Alters seinem definitiven politischen Kältetod entgegeneilt. Wie kam es also zu der Entscheidung? Macron mag zwar kein Gespür für seine Bürger haben, aber wohl für taktische und strategische Machtspiele. Und er hat begriffen, dass der Wahlsieg Le Pens ihm eine einzigartige Chance geliefert hat.

In der Tat kann Macron von der Auflösung des Parlaments nur gewinnen, wenn er sich geschickt anstellt. Entweder, es kommt zum Schulterschluss aller „Demokraten“ gegen die „faschistische“ Bedrohung Le Pens, und Macron kann weitere drei Jahre recht problemlos weiterregieren (was aber eher unwahrscheinlich ist, denn die Präsidentenpartei steht auf gerade einmal 18 Prozent). Oder aber, es kommt zu einem Wahlsieg des Linksbündnisses Jean-Luc Mélenchons oder des „Rassemblements“ Marine Le Pens, die gegenwärtig fast gleichauf ziehen (respektive 28 Prozent und 31 Prozent) – und in diesem Falle wird der Präsident alles tun, mit der Unterstützung der Gerichte, der Medien, der Verwaltung und der „Zivilgesellschaft“, und unter den Augen einer Weltöffentlichkeit, die diesen Sommer aufgrund der Olympischen Spiele in Paris versammelt sein wird, ein solches Chaos zu schaffen, dass die neue Regierung (wenn ihre Bildung überhaupt gelingt) ein solches Bild der Inkompetenz und Machtlosigkeit liefern wird, dass bald „im Interesse der Nation“ eine erneute Parlamentsauflösung mitsamt präsidialem Rücktritt zu erwarten ist und beste Chancen bestehen, dass sich Macron als Stimme der Mitte und „Retter in der Not“ präsentiert … und vielleicht eine dritte Amtszeit antritt.

Die ist von der französischen Verfassung nicht vorgesehen – eigentlich. Aber Macron selbst hat diese Beschränkung schon vor einigen Jahren explizit als „funeste connerie“ bezeichnet, und das kürzlich konzedierte dritte Mandat des polynesischen Regionalpräsidenten, der eigentlich ähnlichen Beschränkungen unterliegen sollte, könnte einen interessanten Präzedenzfall darstellen. Die meisten Verfassungsrechtler sträuben sich zwar gegen eine solche Möglichkeit, aber man wird sehen, wie flexibel das Recht ausgelegt werden wird, wenn nur noch ein drittes Mandat Macrons eine Präsidentschaft Le Pens verhindern kann.

Eine geschickte Falle also für den RN: Marine Le Pen ist gezwungen, innerhalb von nur 3 Wochen zu „liefern“, was nie ihre Absicht war – und angesichts der immer noch überaus dünnen Personaldecke ihrer Partei und des völligen Fehlens an Unterstützung seitens der allmächtigen französischen „bureaucrature“ nie ihre Absicht sein konnte. Le Pens Erfolg bei den Europawahlen könnte daher überaus zweischneidig ausfallen, denn der gesamte Zeitplan der französischen Rechten ist durch Macrons Schachzug vollkommen durcheinandergeraten, und es droht nun – im Falle des Erfolgs wie der Niederlage – die Möglichkeit einer radikalen Entzauberung der französischen Rechten, wenn diese nicht überaus geschickt agiert und eher von Melonis Geschmeidigkeit als von Trumps Frontalangriff lernt.

Europa aber sollte sich fest anschnallen: Immer schon in den letzten Jahrhunderten sind die wichtigsten Umbrüche aus Frankreich gekommen, und auch diesmal könnte die Kombination zwischen einer extrem angespannten Wirtschaftslage, einer fast unerträglichen politischen Polarisierung und einer hochgefährlichen Selbstradikalisierung der migrantischen Parallelgesellschaften im Verband mit einem unerwarteten politischen Umsturz nach links oder rechts das Land nicht nur metaphorisch in Brand setzen – und dabei ganz Europa anzünden.

Denn versinkt Frankreich im Chaos, wird wirtschaftlich sofort die gesamte Eurozone betroffen werden; von den politischen Konsequenzen ganz zu schweigen. Viele Jahre konnte Deutschland gerade in solchen Situationen seine Bedeutung als wirtschaftlicher wie politischer Ruhepol ausspielen. Das ist nun aber dank der von Angela Merkel begonnenen und von Olaf Scholz vollendeten Entkernung der Bundesrepublik weitgehend unmöglich geworden.    David Engels

All dies kann natürlich nur in dem Maße funktionieren, in welchem Macron ein brillanter Acteur ist. Aber das ist er ja! Le Pen unterschätzt ihren Gegner nicht. Die Ärmste sitzt jetzt wirklich in den Nesseln. Es wird spannend, spannender als ein Thriller von Dan Brown. An Typen wie Macron und Selenskij kann man erkennen, was vom Marxismus zu halten ist: fast nichts. Es sei denn, Macron, Selenskij und Larry Fink sind auch nur Marionetten einer Hand, die unsichtbarer ist als Adam Smiths unsichtbare Hand. Dann könnte diese soziologistische Betrachtungsweise noch mal auf erstaunliche Weise punkten. Aber bisher liefert nicht mal Diego Fusaro zuverlässig hierfür Anhaltspunkte.

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.