Stationen

Samstag, 3. November 2018

Ein Lichtblick

Nur wer Tiere vermenschlicht, kanndas Leben verstehen. Alfred Brehm war mal der Bruder Grimm der Tiere. Sein „Thierleben“, original nur mit dem Patina-H, muss wie die „Kinder- und Hausmärchen“ in Hunderttausenden Schrankwänden gestanden haben. Den Brehm gab es in groß und klein, schmuck oder schlicht; es gab sogar eine Feldpostausgabe, die, weil der Krieg endlich zu Ende ging, nicht über den ersten Band hinauskam.
Der große Brehm, der auf unsere Familie gekommen ist, ist dunkelgrün, broschiert und nach hundert Jahren ziemlich gebrechlich. Lange Zeit hat ihn niemand mehr benutzt; wenn überhaupt, haben wir zu einem kleinen Brehm gegriffen, erschienen 1980 in der Reihe „Safari bei Ullstein“, kommentiert und mit dem „zoologischen Wissen unserer Zeit“ ergänzt, wie es beruhigend auf dem Umschlag heißt.

„Das volkstümlichste zoologische Werk deutscher Sprache“, wie da auch zu lesen steht, hat sich halt weit schlechter gehalten als die Grimm’schen Märchen. Hundertfünfzig Jahre naturwissenschaftlichen Fortschritts haben es auf den ersten Blick erledigt.
Es macht schließlich nicht viel Sinn, Brehm dabei zuzusehen, wie er sich den Kopf über den Orientierungssinn der Fledermäuse zerbricht („Man hat mehrfach den Versuch gemacht, Fledermäuse zu blenden, indem man ihnen ein Stückchen englisches Pflaster über die Augen klebte; sie flogen hierauf trotz ihrer Blindheit noch genauso geschickt im Zimmer umher“) oder sich über seine Unterscheidung zwischen „nützlichen“ und „schädlichen“ Tieren schwarzzuärgern.
Der Kreuzotter etwa wünscht er im „Thierleben“ den totalen Tod: „Besser ist es, dass sie alle, die schuldigen wie die unschuldigen, vernichtet werden, als dass ein einziger Mensch sein Leben durch eine giftige unter ihnen verliere.“
Doch der Hochmut des Nachgeborenen vergeht beim Lesen des „Thierlebens“ schnell. Brehms Hass auf die Kreuzotter beweist ja bloß die Tiefe der Gefühle, die er für die „Thiere“ hegt. Seine Beziehung zu ihnen ist noch existenziell: Er kennt sie nicht nur hinter Glas, er kann sie fürchten.
Zumindest die heimischen Arten sind Teil seines Lebens, und er hat eine Sprache für sie, gegen die unsere verhungert und hilflos oder bestenfalls technokratisch wirkt. Bei Brehm trägt der Fuchs eine „Lunte“, „wölft“ die Wölfin, wenn sie Junge bekommt, und klebt das Eichhörnchen seinen „Kobel“ an einen „Zwiesel“, das heißt in die Gabel eines sich teilenden Baums.
Die Kreuzotter mag Alfred Brehm hassen, aber meist spricht er eine Sprache der Liebe, die wir Kinder einer selbst ernannten Wissensgesellschaft nur noch mit einem Wörterbuch verstehen.
Wir wissen, was eine DNA ist, kennen das Echolot der Fledermaus und sehen im Spatz, wenn wir denn einen zu Gesicht kriegen, den Dinosaurier. Von den ehemals hundert Namen des Eichelhähers haben wir aber nur noch einen behalten und sind nicht nur viel zu korrekt, sondern vor allem viel zu distanziert, um einen Hirsch „feige“ zu nennen, einen Igel „treuherzig“, einen Reiher „zanklustig“, einen Kuckuck „täppisch“ oder einen Kauz „zärtlich gestimmt“.
Hundert Jahre wissenschaftlicher Fortschritt haben uns eingebläut, dass man Tiere nicht „vermenschlichen“ darf. Lieber als „anthropozentrisch“ denken wir gar nicht an sie. Und so läuft auch die Geschichte der zahllosen Bearbeitungen von „Brehms Thierleben“ darauf hinaus, dass man dem Text seine Gefühle ausgetrieben hat – die eigenen genauso wie die Gefühle der Tiere.
Anders als manche seiner späteren Bearbeiter, die eine mechanistische Biologie vertraten und Brehms „Leben“ das Beben herausredigierten, hat Alfred Brehm an ein Gefühlsleben der Tiere geglaubt. Im ewigen Konflikt zwischen nüchternen Wissenschaftlern und angeblich bloß sentimentalen Hundehaltern, die die Stimmungen ihrer vierbeinigen Begleiter immer schon zu lesen wussten, hätte sich Brehm, der mit seinem aus Afrika mitgebrachten Affen ins Kaffeehaus ging, jederzeit auf die Seite der Hundeversteher geschlagen.
„Das Säugetier“, schrieb er, „besitzt Gedächtnis, Verstand und Gemüt und hat daher oft einen sehr entschiedenen, bestimmten Charakter. Es beweist Neigung und Abneigung, Liebe gegen Gatten und Kind, Freunde und Wohltäter, Hass gegen Feinde und Widersacher, Dankbarkeit, Treue, Achtung und Missachtung, Freude und Schmerz, Zorn und Sanftmut, List und Klugheit, Ehrlichkeit und Verschlagenheit.“
In seinem „Thierleben“ geht Brehm sogar so weit, den „Gesichtsausdruck der Eule“ zu deuten, er sei „je nach den verschiedenen Gemütsstimmungen veränderlich“. Der Waldkauz etwa streife „bei schlechter Laune“ die oberen Gesichtsfedern nach oben, die unteren nach unten und ziehe die Federn über den Augen zurück. Im 20. Jahrhundert sind Passagen wie diese wohl der Gipfel der Unwissenschaftlichkeit gewesen. So was schrieb man besser nicht mal in ein Kinderbuch.
Im jungen 21. Jahrhundert allerdings sieht die Sache wieder ganz anders aus. Die Verhaltensbiologie ist ein ganzes Stück näher an die Alltagsweisheit des Hundehalters gerückt und ausgerechnet der romantische, der gefühlige Brehm, der im Ton der Grimms über den „Reineke“ oder den „Nussheher“ schrieb, kehrt ins Bewusstsein zurück.
Gerade hat der Verhaltensbiologe Karsten Brensing, der viel beachtete Bücher über „Das Mysterium der Tiere“ und „Die Sprache der Tiere“ geschrieben hat, eine neuen Auswahl aus dem alten „Thierleben“ (Duden-Verlag, 240 Seiten, 20 Euro) mit einem ausführlichen Vorwort versehen – und dabei heraus kommt nicht weniger als die Ehrenrettung Brehms, dem das Instrumentarium der heutigen Verhaltensbiologie nicht zur Verfügung stand, der aber den Mut hatte, seinen Augen zu trauen.
Dass Tiere „Gedankenbilder“ haben, wie man das nennt, dass sie logisch denken, planvoll und kreativ handeln, über sich selbst reflektieren, Mitgefühl empfinden und also, mit einem Wort, „Individuen“ sind, ist mittlerweile experimentell nachgewiesen: Der lange belächelte Brehm hatte recht.
Nur dass das, was er „Feigheit“, „Eifer“, „Zank“ oder einfach „schlechte Laune“ nannte, heute in den psychologischen Kategorien von Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurozentrismus beschrieben wird.
Darf man Tiere jetzt also wieder „vermenschlichen“, ohne dass die Wissenschaftspolizei dazwischenhaut? Die Sache ist ein wenig komplizierter, weil der Anthropozentrismus nicht in der Zuschreibung von Gefühlen, sondern bereits im Begriff des „Vermenschlichens“ liegt, der Gedächtnis, Verstand und Gemüt, Logik, Reflexion und Individualität exklusiv für den Menschen reklamiert.
Viel eher aber sind diese beim Menschen besonders ausgeprägten Fähigkeiten keine Alleinstellungsmerkmale von Homo sapiens, sondern Kennzeichen des Lebens selbst.
Aus evolutionsbiologischer Perspektive, schreibt Karsten Brensing, sei „die Erfindung der Individualität schon recht alt“. Man habe sie schon für Einsiedlerkrebse, Seesterne oder Haie diskutiert, die vor 500 Millionen Jahren auf der Erde erschienen sind. Die Diskussion um die Gefühle der Pflanzen wiederum fängt gerade erst an – mit Peter Wohlleben in der Rolle des belächelten Alfred Brehm.
„In der Genforschung, in der Entwicklungsbiologie und in der Hirnforschung“, schreibt der Naturphilosoph Andreas Weber, „wird den Beteiligten zunehmend klar, dass sie Lebewesen nur verstehen können, wenn sie eine Kraft wieder in die Forschung einführen, die seit Hunderten von Jahren sorgfältig daraus verbannt wurde: die Subjektivität.“
Als es neulich einer datenbasierten Studie gelang, bei wild lebenden Schimpansen in Tansania ausgeprägte Persönlichkeiten nachzuweisen, war jemand schlau genug, bei der greisen Jane Goodall anzurufen, die die Tiere jahrzehntelang beobachtet hat. Neu waren ihr die Erkenntnisse nicht, nur vom Vorwurf des Anthropozentrismus war sie auf einmal freigesprochen. So wie jetzt der Bruder Grimm der Tiere.    Wieland Freund