Baldersheim,
St. Georgstraße 12: "Hier wohnte Alfred Eck, geb. am 7. August 1910. Er
starb für die Rettung von Baldersheim vor den Schrecken des Krieges.
Ermordet am 7. April 1945 von der SS." Die Gedenktafel ist verwittert,
die Schrift kaum noch lesbar. Nur die wenigen Alten im 450-Seelen-Dorf
wissen mit dem Namen noch etwas anzufangen. "Aufgehängt haben sie ihn,
mittags um halb ein Uhr in Aub." Daran erinnern sich die Leute noch und
auch daran, daß die Leiche drei Tage am Galgen hängen mußte. Dann erst
durfte sie abgenommen und in Aub beigesetzt werden. Nach 14 Tagen wurde
sie ausgegraben und der Familiengruft im zwei Kilometer entfernten
Baldersheim übergeben. Der Retter sollte seine ewige Ruhe haben.
Sie
dauerte etwas mehr als vierzig Jahre. Dann buddelte man zwar nicht die
Leiche, aber die Geschichte wieder aus, und die schob sich wie ein Keil
zwischen die Ortsteile Aub und Baldersheim, zwischen die Bürger, die
Verwandtschaft, die Freunde, letztlich die Gemeinde und die Behörde.
Alles
fing damit an, daß die neuerrichtete Auber Grundschule, von den Bürgern
sehnlichst gewünscht, fast fertiggestellt war und nur noch einen Namen
brauchte. Bürgermeister Bernhard Menth von der CSU
war um einen Patron auch nicht verlegen. "Nikolaus-Marschall-Schule"
sollte das Vorzeige-Objekt heißen. 2,7 Millionen Mark hatte es gekostet,
zu 75 Prozent hatte es der Freistaat Bayern bezahlt. War es da nicht
naheliegend, einen großen Sohn der Stadt aus dem 19. Jahrhundert zu
ehren, der es im bayerischen Kultusministerium zu Ansehen gebracht
hatte? Mehr noch: Nikolaus Marschall war sogar einer der Vorkämpfer der
bayerischen Volksschulreform. Keinen würdigeren Namen hätte die Schule
tragen können. Oder?
Doch,
meinte der CSU-Stadtrat Kilian Angermaier, ein gebürtiger Würzburger
und geschichtspolitisch sensibler Mann. Ihm gefiel der
"historisch-verstaubte" Vorschlag, zumal in einem Jahr, in dem man wie
in keinem anderen der Schrecken des vor vierzig Jahren zu Ende
gegangenen Krieges gedachte, überhaupt nicht. Er brachte mutig einen
Gegenvorschlag auf den Tisch: "Die Schule soll Alfred-Eck-Schule
heißen."
Der
Auber Stadtrat, dem neun Mandatsträger der CSU und drei Vertreter einer
liberalen Bürgerpartei angehören, stimmte mit 10 : 3 für Angermaiers
Vorschlag. Was die CSU-Stadträte dabei gedacht haben, wird man wohl nie
erfahren. Bürgermeister Menth jedenfalls sagte: "Ich habe den Vorschlag
mitgetragen." Als Stadtrat Angermaier kurz nach dem Beschluß nach Fürth
verzog, hatte er das gute Gefühl, ein Stück Geschichte aufgearbeitet zu
haben. Aber anscheinend nur er, denn die Auber und Baldersheimer Bürger
hatten von nun an keine ruhige Nacht mehr.
Was
Kilian Angermaier, in Aub nur "Bürger auf Zeit", nicht bedacht haben
mag, war, daß menschliche Tugenden und Untugenden, daß Neid, Mißgunst,
Eifersucht in den engen Mauern einer kleinen Stadt üppiger wuchern als
anderswo. Alfred Eck wurde in den folgenden Wochen und Monaten nicht
etwa zu einem späten Politikum, er wurde zu einem "auferstandenen"
Bürger, der wie zu seinen Lebzeiten plötzlich Freunde und Feinde hatte.
Feinde wohl etwas mehr. Denn der junge Alfred Beck war jemand gewesen,
der gern gegen den Strom schwamm.
"Was,
der? Der soll geehrt werden?" Als es die letzte Bäuerin im Herbst 1985
erfuhr und auch der letzte Stammtisch-Besserwisser wußte, wie die neue
Schule in Aub heißen sollte, war aus dem Retter von Baldersheim über
Nacht der Verräter an seiner Heimat geworden.
Die
Männer am Biertisch, alle über 80 Jahre alt und vom Vaterlandsgedanken
immer noch beseelt: "Der is’ zu Recht aufg’hängt wor’n, zu Recht." Dann
ziehen sie an ihren Zigarren, paffen genüßlich den Dampf in die rauchige
Stube und sagen: "Es war ja noch Krieg, oder?" Die Welt der tapferen
alten Männer, die noch in den letzten Apriltagen des Jahres 1945
gekämpft haben, als gelte es die Welt zu retten, wollte aus den Fugen
geraten. "Wenn es überhaupt noch ein Recht gibt, dann darf diese Schule
nie Eck-Schule heißen. Denn der war ein Deserteur."
Ein
Verräter also? Es ist schwer, die Geschichte auf den Punkt zu bringen.
Die Männer waren im April 1945 an der Front, und die Frauen haben nicht
viel gesehen. Die wenigen Männer aber, die nicht zum Krieg eingezogen
wurden und die zu Hause die Landwirtschaft besorgten, haben wohl viel,
wenn nicht gar alles gesehen, aber sie sagen nichts mehr. Sie schweigen
sich so hartnäckig aus, wie es nur Menschen tun können, deren Gefühle
zutiefst verletzt wurden. Denn zumindest zwei von ihnen, beide heute
über 80 Jahre alt, haben an der Rettung von Baldersheim ebenso
mitgewirkt wie Alfred Eck. Ihr Zusammenwirken hat letztendlich die
Rettung für Baldersheim gebracht. Alfred Eck wurde von den Deutschen
mitgenommen, erst danach konnten zwei ebenso tapfere Baldersheimer
Männer den Amerikanern entgegengehen – mit weißen Fahnen. Sie wurden auf
die ersten beiden Panzer gesetzt und mit entsichertem Gewehr im Rücken
durch Baldersheim gefahren. Wie viele Retter zählt also nun die kleine
Gemeinde? Einen? Drei?
Die
Aussagen sind widersprüchlich. Sicher ist nur soviel, daß Alfred Eck in
den letzten Kriegstagen einen Gefangenentransport von Albanien nach
Deutschland zu führen hatte. Danach bekam er Heimaturlaub, wurde krank
und ging nicht mehr zur Truppe zurück. "Weil er es gar nicht mehr
konnte, denn die Amerikaner standen doch schon vor Baldersheim", sagen
die Freunde. "Weil er ein Feigling war und sich im Keller versteckt
hat", sagen die Gegner.
In
der Nacht zum 7. April muß Alfred Eck aber zu den Amerikanern
übergelaufen sein, ihnen den Weg durch die Minensperrgürtel gezeigt
haben und dann auf die fünf deutschen Soldaten zugegangen sein, die das
Dorf vor den herannahenden Amerikanern verteidigen sollten. Er forderte
sie auf, die Kämpfe einzustellen, um weiteres, sinnloses Blutvergießen
zu verhindern. Die deutschen Soldaten haben Alfred Eck daraufhin festgenommen, auf
dem Weg nach Aub halbtot geprügelt und ihn Stadtkommandant Major Busse
überstellt. Der ließ ihn am nächsten Tag aufhängen. Wegen Verrat,
Fahnenflucht und Volksschädigung. Aus dem Tagebuch des Ortspfarrers:
"Die Leiche wies am ganzen Körper schwere Striemen auf."
Doch
damit war der Krieg in Aub nicht zu Ende. Major Busse forderte zum
Kampf bis zum letzten Blutstropfen auf. Der Gehorsam läßt sich heute
umrechnen: 14 junge Soldaten liegen auf dem Auber Friedhof beerdigt. Sie
starben auf den Trümmern von Aub und waren überwiegend zwischen 17 und
19 Jahre alt. 1949 wurde Major Busse vom Landgericht Würzburg
zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen Verfahrensfehler in der
Prozeßabwicklung und wegen Körperverletzung verurteilt. Er hätte nicht
zulassen dürfen, daß die Soldaten den Gefangenen schlagen. Das
Todesurteil als solches aber war "rechtens".
Als
Stadtrat Kilian Angermaier im Herbst 1985 den Vorschlag einbrachte, die
Schule nach Alfred Eck zu benennen, wollte er eines ganz sicher nicht:
der Familie Eck neues Leid zufügen. Und dennoch ist genau dies in einer
Weise geschehen, wie es wiederum nur in der kleinbürgerlichen Enge
möglich ist. Als Bürgermeister Menth der Familie Eck den Beschluß des
Stadtrates persönlich überbrachte und die Genehmigung zur Namensgebung
einholte, waren Hans und Sebastian Eck unendlich stolz. Die beiden
Brüder damals: "Es ist für uns eine große Ehre." Doch zu diesem
Zeitpunkt wußten weder der Stadtrat noch die Familie Eck, daß die
Namensgebung nicht Sache der Kommune ist, sondern in der Zuständigkeit
der Regierung liegt. Dort muß sie beantragt und per Verordnung gestattet
werden. Der zuständige Schulamtsdirektor ist aufgefordert, zuvor eine
Stellungnahme abzugeben, die auch die Hintergründe des Namens und der
mit ihm verbundenen Geschichte erleuchtet.
Von
nun an läuft die Geschichte zweigleisig. Der Neid im Dorf wuchs, und
die Gegner brachten immer neue persönliche Angriffe gegen den "Retter
von Baldersheim" vor. Schulamtsdirektor Fritz Schäffer war seinerseits
fleißig, allerdings weniger emotional als deutsch-gründlich. Als die
Stimmung auf dem Höhepunkt war, teilte er Bürgermeister Menth mit, daß
er schwerste Bedenken gegen die Namensgebung habe, da ja eine
"Verurteilung von Alfred Eck erfolgt ist". Überdies, so Fritz Schäffer,
sei es fraglich, ob einer Grundschule ein solcher Name angemessen wäre.
Das Geschichtsbewußtsein der Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren wäre wohl noch nicht in entsprechendem Maße ausgeprägt.
In
welcher Weise Dr. Johannes Timmermann, Studiendirektor zu München,
Geschichtsfachberater in den Münchner Gymnasien und Lehrbeauftragter für
Geschichtsdidaktik an der Universität München, in das Rad der
Geschichte in Aub eingegriffen hat, bleibt zum Teil ungeklärt.
Bei der
Auber Kirchweih 1985 soll er am Biertisch jedenfalls gesagt haben, die
Namensgebung sei ein "Schildbürgerstreich des Stadtrates". Ob dem so ist
oder ob der kluge Mann aus München nur verärgert war, weil seine, dem
Bürgermeister überbrachte "Marschall-Idee" überstimmt wurde, muß im
Dunstkreis von Gerücht und Wahrheit bleiben.
Schildbürgerstreich!
Deserteur! Die Familie Eck war mitten ins Herz getroffen und zog kurz
entschlossen die Genehmigung zur Namensgebung zurück. Doch der Stadtrat
kämpfte jetzt nicht etwa für seinen Beschluß, sondern hob ihn
erleichtert auf. So jedenfalls glauben es die Familienangehörigen
interpretieren zu müssen. Und die Regierung von Unterfranken in
Würzburg: "Die Frage, wie wir letztendlich entschieden hätten, stellt
sich uns nicht. Der Antrag wurde ja zurückgezogen."
Wohl
vor der Zeit. Und damit die Geschichte rund wird: Bei der Einweihung im
Oktober 1986 lachte über der Grundschule eitel Sonnenschein. Kein
Festredner streifte auch nur im mindesten die Problematik der
verhinderten Namensgebung.
November
1986. Hans Eck liegt auf der Intensivstation einer Würzburger Klinik.
Er konnte mit der Tatsache leben, daß sein Bruder damals "zu Recht"
aufgehängt wurde. Daß er jetzt als Verräter von Baldersheim gilt, mehr
noch, als Anstifter zum Untergang von Aub, das verkraftet der alte Mann
nicht mehr. Sein Sohn Reiner: "Irgendwie bricht ihm das das Herz." Denn
hartnäckig hält sich in Aub die böse Meinung, daß die Amerikaner wohl
Baldersheim geschont haben, als Reaktion auf die Hinrichtung von Alfred
Eck aber Aub in Schutt und Asche legten. Die "große Ehre" der
Namensgebung hat sich in ein Familienleid umgewandelt, das emotional gar
nicht mehr faßbar ist.
41
Jahre nach Kriegsende scheint Alfred Eck nunmehr wirklich zur Ruhe zu
kommen. Ein Lehrer an der besagten Grundschule: "Alfred Eck – das ist
für uns kein Thema." Ein paar junge Leute auf dem Dorfplatz: "Alfred Eck
– das ist doch alles bloß Schmarren." Friedrich Heppel, der Wirt im Gasthaus zum Lamm:
"Er war ein gutaussehender, hilfsbereiter Mann, klug, lebensfroh. Aber
laßt ihn jetzt in Frieden ruhen." Daß er seinem Mädchen 1943 einen Brief
geschrieben hat, in dem stand: "Hoffentlich ist dieser unselige Krieg
bald zu Ende", das weiß der Wirt auch noch. Und wenn es nach ihm ginge,
dürfte die Schule Alfred-Eck-Schule heißen. ZEIT
35 Jahre später
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