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Freitag, 29. Mai 2020

Aub vor 75 Jahren



Baldersheim, St. Georgstraße 12: "Hier wohnte Alfred Eck, geb. am 7. August 1910. Er starb für die Rettung von Baldersheim vor den Schrecken des Krieges. Ermordet am 7. April 1945 von der SS." Die Gedenktafel ist verwittert, die Schrift kaum noch lesbar. Nur die wenigen Alten im 450-Seelen-Dorf wissen mit dem Namen noch etwas anzufangen. "Aufgehängt haben sie ihn, mittags um halb ein Uhr in Aub." Daran erinnern sich die Leute noch und auch daran, daß die Leiche drei Tage am Galgen hängen mußte. Dann erst durfte sie abgenommen und in Aub beigesetzt werden. Nach 14 Tagen wurde sie ausgegraben und der Familiengruft im zwei Kilometer entfernten Baldersheim übergeben. Der Retter sollte seine ewige Ruhe haben. 

Sie dauerte etwas mehr als vierzig Jahre. Dann buddelte man zwar nicht die Leiche, aber die Geschichte wieder aus, und die schob sich wie ein Keil zwischen die Ortsteile Aub und Baldersheim, zwischen die Bürger, die Verwandtschaft, die Freunde, letztlich die Gemeinde und die Behörde.
Alles fing damit an, daß die neuerrichtete Auber Grundschule, von den Bürgern sehnlichst gewünscht, fast fertiggestellt war und nur noch einen Namen brauchte. Bürgermeister Bernhard Menth von der CSU war um einen Patron auch nicht verlegen. "Nikolaus-Marschall-Schule" sollte das Vorzeige-Objekt heißen. 2,7 Millionen Mark hatte es gekostet, zu 75 Prozent hatte es der Freistaat Bayern bezahlt. War es da nicht naheliegend, einen großen Sohn der Stadt aus dem 19. Jahrhundert zu ehren, der es im bayerischen Kultusministerium zu Ansehen gebracht hatte? Mehr noch: Nikolaus Marschall war sogar einer der Vorkämpfer der bayerischen Volksschulreform. Keinen würdigeren Namen hätte die Schule tragen können. Oder?
Doch, meinte der CSU-Stadtrat Kilian Angermaier, ein gebürtiger Würzburger und geschichtspolitisch sensibler Mann. Ihm gefiel der "historisch-verstaubte" Vorschlag, zumal in einem Jahr, in dem man wie in keinem anderen der Schrecken des vor vierzig Jahren zu Ende gegangenen Krieges gedachte, überhaupt nicht. Er brachte mutig einen Gegenvorschlag auf den Tisch: "Die Schule soll Alfred-Eck-Schule heißen."
Der Auber Stadtrat, dem neun Mandatsträger der CSU und drei Vertreter einer liberalen Bürgerpartei angehören, stimmte mit 10 : 3 für Angermaiers Vorschlag. Was die CSU-Stadträte dabei gedacht haben, wird man wohl nie erfahren. Bürgermeister Menth jedenfalls sagte: "Ich habe den Vorschlag mitgetragen." Als Stadtrat Angermaier kurz nach dem Beschluß nach Fürth verzog, hatte er das gute Gefühl, ein Stück Geschichte aufgearbeitet zu haben. Aber anscheinend nur er, denn die Auber und Baldersheimer Bürger hatten von nun an keine ruhige Nacht mehr. 



Was Kilian Angermaier, in Aub nur "Bürger auf Zeit", nicht bedacht haben mag, war, daß menschliche Tugenden und Untugenden, daß Neid, Mißgunst, Eifersucht in den engen Mauern einer kleinen Stadt üppiger wuchern als anderswo. Alfred Eck wurde in den folgenden Wochen und Monaten nicht etwa zu einem späten Politikum, er wurde zu einem "auferstandenen" Bürger, der wie zu seinen Lebzeiten plötzlich Freunde und Feinde hatte. Feinde wohl etwas mehr. Denn der junge Alfred Beck war jemand gewesen, der gern gegen den Strom schwamm. 

"Was, der? Der soll geehrt werden?" Als es die letzte Bäuerin im Herbst 1985 erfuhr und auch der letzte Stammtisch-Besserwisser wußte, wie die neue Schule in Aub heißen sollte, war aus dem Retter von Baldersheim über Nacht der Verräter an seiner Heimat geworden. 

Die Männer am Biertisch, alle über 80 Jahre alt und vom Vaterlandsgedanken immer noch beseelt: "Der is’ zu Recht aufg’hängt wor’n, zu Recht." Dann ziehen sie an ihren Zigarren, paffen genüßlich den Dampf in die rauchige Stube und sagen: "Es war ja noch Krieg, oder?" Die Welt der tapferen alten Männer, die noch in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 gekämpft haben, als gelte es die Welt zu retten, wollte aus den Fugen geraten. "Wenn es überhaupt noch ein Recht gibt, dann darf diese Schule nie Eck-Schule heißen. Denn der war ein Deserteur."
Ein Verräter also? Es ist schwer, die Geschichte auf den Punkt zu bringen. Die Männer waren im April 1945 an der Front, und die Frauen haben nicht viel gesehen. Die wenigen Männer aber, die nicht zum Krieg eingezogen wurden und die zu Hause die Landwirtschaft besorgten, haben wohl viel, wenn nicht gar alles gesehen, aber sie sagen nichts mehr. Sie schweigen sich so hartnäckig aus, wie es nur Menschen tun können, deren Gefühle zutiefst verletzt wurden. Denn zumindest zwei von ihnen, beide heute über 80 Jahre alt, haben an der Rettung von Baldersheim ebenso mitgewirkt wie Alfred Eck. Ihr Zusammenwirken hat letztendlich die Rettung für Baldersheim gebracht. Alfred Eck wurde von den Deutschen mitgenommen, erst danach konnten zwei ebenso tapfere Baldersheimer Männer den Amerikanern entgegengehen – mit weißen Fahnen. Sie wurden auf die ersten beiden Panzer gesetzt und mit entsichertem Gewehr im Rücken durch Baldersheim gefahren. Wie viele Retter zählt also nun die kleine Gemeinde? Einen? Drei? 

Die Aussagen sind widersprüchlich. Sicher ist nur soviel, daß Alfred Eck in den letzten Kriegstagen einen Gefangenentransport von Albanien nach Deutschland zu führen hatte. Danach bekam er Heimaturlaub, wurde krank und ging nicht mehr zur Truppe zurück. "Weil er es gar nicht mehr konnte, denn die Amerikaner standen doch schon vor Baldersheim", sagen die Freunde. "Weil er ein Feigling war und sich im Keller versteckt hat", sagen die Gegner.
In der Nacht zum 7. April muß Alfred Eck aber zu den Amerikanern übergelaufen sein, ihnen den Weg durch die Minensperrgürtel gezeigt haben und dann auf die fünf deutschen Soldaten zugegangen sein, die das Dorf vor den herannahenden Amerikanern verteidigen sollten. Er forderte sie auf, die Kämpfe einzustellen, um weiteres, sinnloses Blutvergießen zu verhindern. Die deutschen Soldaten haben Alfred Eck daraufhin festgenommen, auf dem Weg nach Aub halbtot geprügelt und ihn Stadtkommandant Major Busse überstellt. Der ließ ihn am nächsten Tag aufhängen. Wegen Verrat, Fahnenflucht und Volksschädigung. Aus dem Tagebuch des Ortspfarrers: "Die Leiche wies am ganzen Körper schwere Striemen auf."
Doch damit war der Krieg in Aub nicht zu Ende. Major Busse forderte zum Kampf bis zum letzten Blutstropfen auf. Der Gehorsam läßt sich heute umrechnen: 14 junge Soldaten liegen auf dem Auber Friedhof beerdigt. Sie starben auf den Trümmern von Aub und waren überwiegend zwischen 17 und 19 Jahre alt. 1949 wurde Major Busse vom Landgericht Würzburg zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen Verfahrensfehler in der Prozeßabwicklung und wegen Körperverletzung verurteilt. Er hätte nicht zulassen dürfen, daß die Soldaten den Gefangenen schlagen. Das Todesurteil als solches aber war "rechtens". 

Als Stadtrat Kilian Angermaier im Herbst 1985 den Vorschlag einbrachte, die Schule nach Alfred Eck zu benennen, wollte er eines ganz sicher nicht: der Familie Eck neues Leid zufügen. Und dennoch ist genau dies in einer Weise geschehen, wie es wiederum nur in der kleinbürgerlichen Enge möglich ist. Als Bürgermeister Menth der Familie Eck den Beschluß des Stadtrates persönlich überbrachte und die Genehmigung zur Namensgebung einholte, waren Hans und Sebastian Eck unendlich stolz. Die beiden Brüder damals: "Es ist für uns eine große Ehre." Doch zu diesem Zeitpunkt wußten weder der Stadtrat noch die Familie Eck, daß die Namensgebung nicht Sache der Kommune ist, sondern in der Zuständigkeit der Regierung liegt. Dort muß sie beantragt und per Verordnung gestattet werden. Der zuständige Schulamtsdirektor ist aufgefordert, zuvor eine Stellungnahme abzugeben, die auch die Hintergründe des Namens und der mit ihm verbundenen Geschichte erleuchtet.
Von nun an läuft die Geschichte zweigleisig. Der Neid im Dorf wuchs, und die Gegner brachten immer neue persönliche Angriffe gegen den "Retter von Baldersheim" vor. Schulamtsdirektor Fritz Schäffer war seinerseits fleißig, allerdings weniger emotional als deutsch-gründlich. Als die Stimmung auf dem Höhepunkt war, teilte er Bürgermeister Menth mit, daß er schwerste Bedenken gegen die Namensgebung habe, da ja eine "Verurteilung von Alfred Eck erfolgt ist". Überdies, so Fritz Schäffer, sei es fraglich, ob einer Grundschule ein solcher Name angemessen wäre. Das Geschichtsbewußtsein der Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren wäre wohl noch nicht in entsprechendem Maße ausgeprägt. 

In welcher Weise Dr. Johannes Timmermann, Studiendirektor zu München, Geschichtsfachberater in den Münchner Gymnasien und Lehrbeauftragter für Geschichtsdidaktik an der Universität München, in das Rad der Geschichte in Aub eingegriffen hat, bleibt zum Teil ungeklärt. 
Bei der Auber Kirchweih 1985 soll er am Biertisch jedenfalls gesagt haben, die Namensgebung sei ein "Schildbürgerstreich des Stadtrates". Ob dem so ist oder ob der kluge Mann aus München nur verärgert war, weil seine, dem Bürgermeister überbrachte "Marschall-Idee" überstimmt wurde, muß im Dunstkreis von Gerücht und Wahrheit bleiben.
Schildbürgerstreich! Deserteur! Die Familie Eck war mitten ins Herz getroffen und zog kurz entschlossen die Genehmigung zur Namensgebung zurück. Doch der Stadtrat kämpfte jetzt nicht etwa für seinen Beschluß, sondern hob ihn erleichtert auf. So jedenfalls glauben es die Familienangehörigen interpretieren zu müssen. Und die Regierung von Unterfranken in Würzburg: "Die Frage, wie wir letztendlich entschieden hätten, stellt sich uns nicht. Der Antrag wurde ja zurückgezogen."
Wohl vor der Zeit. Und damit die Geschichte rund wird: Bei der Einweihung im Oktober 1986 lachte über der Grundschule eitel Sonnenschein. Kein Festredner streifte auch nur im mindesten die Problematik der verhinderten Namensgebung.
November 1986. Hans Eck liegt auf der Intensivstation einer Würzburger Klinik. Er konnte mit der Tatsache leben, daß sein Bruder damals "zu Recht" aufgehängt wurde. Daß er jetzt als Verräter von Baldersheim gilt, mehr noch, als Anstifter zum Untergang von Aub, das verkraftet der alte Mann nicht mehr. Sein Sohn Reiner: "Irgendwie bricht ihm das das Herz." Denn hartnäckig hält sich in Aub die böse Meinung, daß die Amerikaner wohl Baldersheim geschont haben, als Reaktion auf die Hinrichtung von Alfred Eck aber Aub in Schutt und Asche legten. Die "große Ehre" der Namensgebung hat sich in ein Familienleid umgewandelt, das emotional gar nicht mehr faßbar ist.
41 Jahre nach Kriegsende scheint Alfred Eck nunmehr wirklich zur Ruhe zu kommen. Ein Lehrer an der besagten Grundschule: "Alfred Eck – das ist für uns kein Thema." Ein paar junge Leute auf dem Dorfplatz: "Alfred Eck – das ist doch alles bloß Schmarren." Friedrich Heppel, der Wirt im Gasthaus zum Lamm: "Er war ein gutaussehender, hilfsbereiter Mann, klug, lebensfroh. Aber laßt ihn jetzt in Frieden ruhen." Daß er seinem Mädchen 1943 einen Brief geschrieben hat, in dem stand: "Hoffentlich ist dieser unselige Krieg bald zu Ende", das weiß der Wirt auch noch. Und wenn es nach ihm ginge, dürfte die Schule Alfred-Eck-Schule heißen.  ZEIT

35 Jahre später 

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