Die Last der Entscheidung, den Historiker und Politikwissenschaftler
Achille Mbembe im August die Ruhrtriennale mit einer Rede eröffnen zu
lassen oder die ihm angetragene Ehre zu entziehen, hat Corona von den
Schultern der Verantwortlichen genommen. Die Veranstaltung ist abgesagt.
Mbembe, 1957 in Kamerun geboren und heute in Südafrika lebend, gilt als
ein Star der Postkolonial-Forschung.
Internationale Universitäten, darunter amerikanische
Elite-Hochschulen, erteilten ihm Lehraufträge. In Köln hat er 2019 die
Albertus-Magnus-Professur innegehabt. Mehrere Bücher von ihm sind ins
Deutsche übersetzt, so die „Kritik der schwarzen Vernunft“ und „Die
Politik der Feindschaft“.
Der Träger des Geschwister-Scholl- und des Ernst-Bloch-Preises ist
ein scharfer Kritiker der vermeintlichen „Festung Europa“, was ihn
hierzulande erst recht zum Eröffnungsredner prädestinierte. Bis ein
FDP-Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen der Öffentlichkeit mitteilte,
Mbembe hätte sich antisemitisch geäußert, den Holocaust relativiert, das
Existenzrecht Israels bestritten und sich in der antiisraelischen
Boykott-Bewegung betätigt.
Verschiedene Medien griffen die Vorwürfe auf, worauf der
Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, die
Triennale-Verantwortlichen aufforderte, Mbembe als Redner abzuberufen.
Was wiederum 37 jüdische und israelkritische Wissenschaftler und
Künstler veranlaßte, in einem Brief an Innenminister Horst Seehofer
(CSU) die Abberufung Kleins zu fordern. „Wir halten Herrn Kleins
Versuch, Professor Mbembe als Antisemiten hinzustellen, für unbegründet
und unangemessen, anstößig und schädlich“, heißt es darin.
Interessant ist der Streit weniger in der Sache, sondern weil er die
Widersprüche und Fallstricke aktueller Politik- und Geschichtsdiskurse
offenlegt. Mbembe strebt nicht weniger an als „die Reparatur und
Reparation der Welt“ und den „gemeinsamen Aufstieg zum Menschsein“.
Genauer gesagt geht es ihm um eine Reparatur durch Reparation, durch
einen globalen Wiedergutmachungs-Transfer von Nord nach Süd.
Das Urübel, dem die meisten Übel der heutigen Welt entspringen, war
laut Mbembe die koloniale Expansion Europas. Die Europäer hätten in den
Kolonien brutale, rassistisch grundierte Herrschaftstechniken zur
Anwendung gebracht, die schließlich den Weg zurück nach Europa gefunden
und hier zum Holocaust geführt hätten. Dabei bezieht er sich unter
anderem auf den zweiten Teil von Hannah Arendts großer
Totalitarismus-Studie.
Mbembe ist für linke Intellektuelle besonders anregend, weil er den
Antikolonialismus mit dem Antikapitalismus verbindet. Die Versklavung
des „Negers“, die absolute Auslöschung seiner Persönlichkeit für
wirtschaftliche Zwecke, stehe modellhaft für die globale Verwandlung der
Menschen in Arbeitsnomaden, so daß „eine tendenzielle Universalisierung
der conditio nigra“ stattfinde.
„Wir können eine ‘Afrikanisierung’ auch anderer Teile der Welt
beobachten. Deshalb gibt es in diesem Namen etwas, das zu
Wiedergutmachung, Rückerstattung und Gerechtigkeit auffordert.“ Auch die
antikapitalistische Spitze richtet sich ausschließlich gegen den
Westen. Das islamische und innerafrikanische Sklaverei-Wesen bleibt
außen vor.
Ausdrücklich beruft Mbembe sich auf Frantz Fanon (1925–1961), den
schwarzen Urtheoretiker der antikolonialen Befreiung. Fanon hatte den
europäischen Reichtum kurzerhand zum Eigentum der Dritten Welt erklärt.
Europa stünde genauso in deren Schuld wie Deutschland nach dem Zweiten
Weltkrieg bei den von ihm überfallenen Ländern. Daher müsse es zahlen
und zum „Sturmzentrum“ antikolonialer Veränderungen werden. Zwar wolle
man keinen „Kreuzzug des Hungers gegen Europa“ führen, aber als
Gegenleistung müsse es den „Menschen in seine Rechte einsetzen“.
Mbembe übersetzt Fanon in eine weniger militante Sprache. Wo Fanon
den Europäern für den Fall der Verweigerung mit einem „entscheidenden
und tödlichen Zusammenstoß“, mit „glühenden Kugeln und blutigen Messern“
gedroht hatte („Die Abschaffung der weißen Welt“), verweist Mbembe sanft auf das demographische Erpressungspotential Afrikas.
Mitte des 21. Jahrhunderts werde die Mehrheit der Menschen aus Afrika
stammen, als Folge von Umweltzerstörung, von wirtschaftlichen und
technologischen Entwicklungen stehe die Welt vor einem Zeitalter der
globalen Migration. Europa stehe vor der Wahl, entweder sich mit der
Massenzuwanderung abzufinden oder zu genozidalen Mitteln zu greifen.
Mbembe proklamiert ein Menschenrecht auf Mobilität. „Wie kann es
sein, daß wir Afrika zu einem Gefängnis machen, aus dem man nur unter
Lebensgefahr ausbrechen kann (…), während Europäer und andere Menschen
aus den mächtigen Staaten weltweite Reisefreiheit haben?“ Er verlangt:
„Wir müssen jedem Menschen Bürgerrechte geben. Sie müssen
verfassungsrechtlich gesichert sein, so wie es Kant in seiner Schrift
‘Zum ewigen Frieden’ formuliert hat.“
Auch diese Forderung geht ausschließlich an die westlichen
beziehungsweise europäischen Staaten, die dadurch ihre Staatlichkeit,
die Einheit von Ortung und Ordnung, aufgeben müßten. In der Praxis würde
das auf eine allgemeine Weltunordnung hinauslaufen. Mbembe aber nennt
es die „universelle Politik des Reparierens und der Pflege“ mit dem
„politisches Ziel“ einer „Welt, in der nicht nur wenige, sondern wir
alle uns frei bewegen können und die fortbesteht“. Als globales
Ordnungsprinzip der Zukunft proklamiert er eine „Ethik des Passanten“.
Zur Zeit verharre der Westen in einer „Politik der Feindschaft“ und
habe aus der Vergangenheit nichts gelernt. „Wir dachten, wir hätten uns
damit befaßt, mit dem Holocaust, daß er vorbei sei, daß wir das Lager
begraben hätten. Nein, wir haben das Lager nicht begraben, wir hatten
noch nie so viele Lager wie heute auf diesem Planeten.“ Mit den heutigen
„Lagern“ meint er die Auffanglager in Südeuropa für die Passagiere von
Carola Rackete & Co.
Bis hierher hat der sedierte deutsche Michel dem Geschwurbel
beifällig zugenickt und sich an der Vorstellung erfreut, daß seine
singuläre Holocaust- zur Keimzelle weißer Weltschuld geworden ist.
Mbembes Vorwürfe sind in der Tat nur Wiederholungen bundesdeutscher
Selbstanklagen. Auch die Holocaust-Vergleiche, die er an das frühere
Apartheid-Regime der weißen Minderheit in Südafrika anlegt, fügen sich
in diesen Rahmen ein.
Irritation erfaßt ihn aber, wenn Mbembe, von Schuld-Sentiments völlig
unberührt, einen Bogen von der Apartheid zur Politik Israels gegenüber
den Palästinensern schlägt, die er den „größten moralischen Skandal
unserer Zeit, eine der entmenschlichendsten Torturen des Jahrhunderts“,
nennt. Aus seiner Sicht war Südafrika ein Restposten und ist Israel ein
Re-Export des alten europäischen Kolonialismus. Was für ihn ein ganz
normaler historischer Vergleich ist, stellt für den geschichtspolitisch
konditionierten Deutschen eine Relativierung des Holocaust und einen
Angriff auf das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft dar.
Die Globalisierung des Holocaust zieht seine Relativierung nach sich,
so einfach, so irritierend ist das. Ungerührt antwortet Mbembe seinen
Kritikern: „Für mich hat sich die Frage einer Debatte über seine
Einzigartigkeit oder Singularität nie gestellt.“ Im aktuellen Konflikt
spalten die Holocaust-Hermeneutiker sich in Puristen und Pragmatiker.
Während die Puristen an der absoluten Singularität festhalten,
plädieren die Pragmatiker für Flexibilität und die Berücksichtigung
außereuropäischer Kontexte. Im eigenen Diskurs-Machtraum soll die
Holocaust-Fixierung unangefochten bleiben, doch global ist man zur
Relativierung bereit, sofern eine globale Befreiungsideologie das
erfordert.*
Wichtig aber sind ganz andere Fragen. Zum Beispiel: Was hat Mbembe
den Europäern namens Afrika anzubieten außer Bevölkerungsexplosion,
Korruption, fehlender Staatlichkeit, Weißen-Feindlichkeit wie in der
„Regenbogennation“ Südafrika?
Tatsächlich hat Hannah Arendt in „Elemente
und Ursprünge totaler Herrschaft“ geschrieben, daß die in Afrika
erprobten Machttechniken auf Europa zurückschlugen. Die Kolonisten, oft
der „Abhub“ (Abschaum) ihrer Herkunftsländer, hätten hier gelernt,
Völker in Rassestämme zurückzuverwandeln und das eigene Volk in die
Position einer „Herrenrasse“ zu setzen.
Allerdings sah Arendt darin – und das wird gewöhnlich unterschlagen –
ein „Absinken auf das Niveau der Eingeborenenstämme“. In einer
„weltlosen“ Zone der Gesetzlosigkeit hätten die Kolonisten das Gefühl
gehabt, daß sie sich mit ihrem Verhalten „in die schwarze Welt, deren
Götter und Beherrscher sie geworden waren“, einordneten.
„Das sinnfälligste Zeichen für die Angleichung eines weißen Volkes an
die es umgebenden schwarzen Rassestämme liegt vielleicht darin, daß die
furchtbaren Metzeleien, welche die Europäer in Afrika angerichtet
haben, sich gewissermaßen in die Tradition des afrikanischen Kontinents
selbst ohne Schwierigkeiten einfügen. Ausrottung feindlicher Stämme war
von eh und je das Gesetz afrikanischer Eingeborenenkriege gewesen.“ Hinz
*Das ist genau wie Tyho Brahes Kompromiss, mit dem er den Streit zwischen Galilei und Urban VIII. schlichten wollte.
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