Zum 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation wird wieder der
Vorschlag laut, den 8. Mai als "Tag der Befreiung" zum gesetzlichen
Feiertag zu deklarieren, was er im fortschrittlicheren Deutschland
bekanntlich längst war. Ich möchte keinem einzigen NS-Opfer zu nahe
treten, aber allen anderen, die mit diesem erpresserischen Vorschlag
daherkommen, desto mehr. Der 8. Mai ist ein durch und durch ambivalentes
Datum; mit den Worten von Theodor Heuss war Deutschland damals "erlöst
und vernichtet" zugleich, und wer nur der Erlösten gedenkt, verhöhnt die
Vernichteten. Nicht nur das mörderische NS-Regime fuhr zur Hölle,
sondern Deutschland wurde sowohl als eigenständiger Staat als auch
buchstäblich zerschlagen. Es gab Millionen Deutsche, die befreit, aber
eben auch Millionen, die nicht befreit wurden.
Ich habe mehrfach darüber geschrieben (etwa hier oder hier)
und halte die Idee, die Eroberung Osteuropas und Mitteldeutschlands
durch Stalins Terrorsystem als "Befreiung" zu feiern, für pervers. Hier
tritt eine Mentalität zutage, die keinerlei Differenz mehr erträgt und
eine Exkulpation des Kommunismus in den Kauf nimmt, um Deutschland
geschichtspolitisch zu erledigen. Denn darauf läuft es hinaus: Mit der
Nobilitierung des Sieges der Alliierten zum Nationalfeiertag würde
praktisch jede Verbindung zum Deutschland vor Hitler durchtrennt. Man
würde außerdem Abertausende vertriebene, ermordete, vergewaltigte und
ausgebombte Zivilisten zur Quantité négligeable erklären und
buchstäblich auf Gräbern von Kindern feiern. Jede Empathie gegenüber den
Opfern der Sieger, sofern sie zum Einspruch gegen eine solche selektive
Gedenklogik führte, würde aber als NS-"Relativierung" (was immer das
sein soll) und in nächster Stufe als NS-Sympathisantentum stigmatisiert
und kriminalisiert. Es wäre der ultimative Triumph Kreons über Antigone
bei gleichzeitiger Exkommunikationsdrohung gegen Sophokles. Es wäre eine
Art historischer Selbstmord, eine Rückkehr in die DDR.
Im
Übrigen kamen weder die Sowjets noch die Amerikaner oder die Briten
seinerzeit auf den Gedanken, den Sieg über Deutschland als Befreiung zu
betrachten. Die bekannte Direktive JCS 1067 der US-amerikanischen
Generalstabschefs an den Kommandeur der
US-Streitkräfte in Deutschland und Militärgouverneur über die
amerikanische Besatzungszone vom April 1945 begann ganz unsentimental
mit den Worten: "Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner
Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat." Als man Churchill
Fotos von zerbombten deutschen Städten zeigte, murmelte er nichts von
"Befreiern", sondern von "Barbaren", womit er diesmal nicht die Krauts
meinte. Sogar Väterchen Stalin machte einen Untershied und ließ, nachdem
seine Truppen ihre Kirmes aus Siegesrausch und Vergeltungsdrang beendet
hatten, die Losung ausgeben: "Die Hitler kommen und gehen, aber das
deutsche Volk bleibt." Doch wie Sir Winston ebenfalls und wahrscheinlich
letztgültig feststellte, hat man diese Deutschen entweder an der Kehle,
oder sie lecken einem die Stiefel. ...
...
Zuletzt verschmilzt der Sinn der deutschen 'Selbst'-Anklage mit dem
der 'Selbst'-Anklagen der Freunde im Westen: Sie dienen nahezu
unmittelbar der Stärkung des Glaubens, es sei, was als
Neo-Imperialismus, als kalte Interessens- und Machtpolitik
kapitalistischer Eliten erscheinen könnte, im Eigentlichen nichts als
die Realisierung der endlich errungenen, wahrhaft universalen
praktischen Wahrheit, der von aller schäbigen Affektion und Modifikation
durch bloß partikulare Interessen endlich ganz und gar gereinigten
Antwort auf die Frage 'Was tun?' (Kant – und Lenin 1902!). Jener
angeblich absoluten Wahrheit, m. a. W., die auch schon die Grundlage des
Terreur der Jakobiner ausmachte.
Dabei setzt die 'Selbst'-Anklage
zunächst darauf, als echte Selbstanklage aufgefasst zu werden: Wer die
eigenen Ahnen so vernichtender Kritik aussetzt, rechnet heimlich auf
Effekt gerade bei einem Publikum, bei dem noch Geltung hat, was etwa
auch der Aufklärer Lessing noch seinen Nathan als sicheren gemeinsamen
Untergrund aller, auch der fundamentalsten Kontroverse formulieren lässt
(Nathan der Weise, „Ringparabel“, 3. Aufzug, 7. Auftritt, V.
1980–1986):
Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? […]
Wie kann ich meinen Vätern weniger
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. –
Sieh,
meine Wahrheit ist so ernst, das gibt ein solcher 'Selbst'-Kritiker zu
verstehen, dass in ihrem Angesicht selbst so ein altehrwürdiger
Grundsatz in den Staub sinkt! Meine Gerechtigkeit ist erhaben über die
Bande des Blutes! Gerade wem diese Bande viel bedeuten, dem muss die
'Objektivität' und Prinzipientreue desjenigen, der sogar seine Ahnen
verdammt, Ehrfurcht abnötigen. Ein Kollektiv, das zu solchem Urteil über
sein eigenes früheres Tun fähig ist, von dem, so muss ein
traditionalistisches Publikum zu denken verführt sein, werden die
angeprangerten Untaten dann ja fürderhin nicht mehr zu erwarten sein.
Selbstverständlich
wird eine solche Reaktion in der Konfrontation mit dem realen
(non-verbalen) Agieren des 'Freien Westens' unweigerlich zu
Enttäuschungen führen.
In Wahrheit ist aber die Erwartung, der
'Freie Westen', der seine Vergangenheit doch in dermaßen kritischem
Licht ausstellt, müsse aus den selbst eingestandenen Fehlern und Sünden
gelernt haben, nicht einfach nur blauäugig, sondern greift v. a. am
innersten Wesenskern der hinter den historischen 'Selbst'-Anklagen
stehenden Ideologie vorbei: Ihrem tiefsten Sinn nach sind sie überhaupt
keine reflexiven Urteile der Form 'Wir haben damals das-und-das falsch
gemacht', sondern bestehen in einem Rückzug aus dem angeklagten 'Wir', ja letztlich in einer Problematisierung jedes 'Wir' als solchem (Hervorhebung
von mir – M.K.). Das Scheißen auf die eigenen Ahnen nährt einen
Individualismus, durch den es schließlich überhaupt unmöglich wird, sich
noch irgendeinem lebendigen, handlungsfähigem Kollektiv von einigem
Gewicht zugehörig zu fühlen; einen Individualismus, der in der
Konsequenz die Vernichtung nicht nur der durch 'primordiale Bindungen'
(Clifford Geertz) gestifteten Kollektive (Familie, Volk, die Religion,
in die man „hineingeboren“ wurde) betreibt, sondern des Kollektiven
überhaupt, als etwas das Individuelle wesensmäßig Übersteigendes; eine
extreme revisionary metaphysics (Strawson), die einen Sturmangriff auf
unser Kategoriensystem führt.
Was dieser Sturmangriff übriglassen
will, ist bestenfalls eine zum Abstraktum degenerierte Menschheit. Eine
hohle Phrase, die alles und nichts besagt, deren Antonym 'Unmensch'
mithin leicht an jeden Beliebigen zu heften ist, der Anstalten zu
irgendeiner Form von partikularistisch-kollektivistischem Widerstand
macht." bei MK
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