Stationen

Freitag, 8. Mai 2020

Wer nur der Erlösten gedenkt, verhöhnt die Vernichteten

Zum 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation wird wieder der Vorschlag laut, den 8. Mai als "Tag der Befreiung" zum gesetzlichen Feiertag zu deklarieren, was er im fortschrittlicheren Deutschland bekanntlich längst war. Ich möchte keinem einzigen NS-Opfer zu nahe treten, aber allen anderen, die mit diesem erpresserischen Vorschlag daherkommen, desto mehr. Der 8. Mai ist ein durch und durch ambivalentes Datum; mit den Worten von Theodor Heuss war Deutschland damals "erlöst und vernichtet" zugleich, und wer nur der Erlösten gedenkt, verhöhnt die Vernichteten. Nicht nur das mörderische NS-Regime fuhr zur Hölle, sondern Deutschland wurde sowohl als eigenständiger Staat als auch buchstäblich zerschlagen. Es gab Millionen Deutsche, die befreit, aber eben auch Millionen, die nicht befreit wurden.

Ich habe mehrfach darüber geschrieben (etwa hier oder hier) und halte die Idee, die Eroberung Osteuropas und Mitteldeutschlands durch Stalins Terrorsystem als "Befreiung" zu feiern, für pervers. Hier tritt eine Mentalität zutage, die keinerlei Differenz mehr erträgt und eine Exkulpation des Kommunismus in den Kauf nimmt, um Deutschland geschichtspolitisch zu erledigen. Denn darauf läuft es hinaus: Mit der Nobilitierung des Sieges der Alliierten zum Nationalfeiertag würde praktisch jede Verbindung zum Deutschland vor Hitler durchtrennt. Man würde außerdem Abertausende vertriebene, ermordete, vergewaltigte und ausgebombte Zivilisten zur Quantité négligeable erklären und buchstäblich auf Gräbern von Kindern feiern. Jede Empathie gegenüber den Opfern der Sieger, sofern sie zum Einspruch gegen eine solche selektive Gedenklogik führte, würde aber als NS-"Relativierung" (was immer das sein soll) und in nächster Stufe als NS-Sympathisantentum stigmatisiert und kriminalisiert. Es wäre der ultimative Triumph Kreons über Antigone bei gleichzeitiger Exkommunikationsdrohung gegen Sophokles. Es wäre eine Art historischer Selbstmord, eine Rückkehr in die DDR.

Im Übrigen kamen weder die Sowjets noch die Amerikaner oder die Briten seinerzeit auf den Gedanken, den Sieg über Deutschland als Befreiung zu betrachten. Die bekannte Direktive JCS 1067 der US-amerikanischen Generalstabschefs an den Kommandeur der US-Streitkräfte in Deutschland und Militärgouverneur über die amerikanische Besatzungszone vom April 1945 begann ganz unsentimental mit den Worten: "Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat." Als man Churchill Fotos von zerbombten deutschen Städten zeigte, murmelte er nichts von "Befreiern", sondern von "Barbaren", womit er diesmal nicht die Krauts meinte. Sogar Väterchen Stalin machte einen Untershied und ließ, nachdem seine Truppen ihre Kirmes aus Siegesrausch und Vergeltungsdrang beendet hatten, die Losung ausgeben: "Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt." Doch wie Sir Winston ebenfalls und wahrscheinlich letztgültig feststellte, hat man diese Deutschen entweder an der Kehle, oder sie lecken einem die Stiefel.   ...

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Zuletzt verschmilzt der Sinn der deutschen 'Selbst'-Anklage mit dem der 'Selbst'-Anklagen der Freunde im Westen: Sie dienen nahezu unmittelbar der Stärkung des Glaubens, es sei, was als Neo-Imperialismus, als kalte Interessens- und Machtpolitik kapitalistischer Eliten erscheinen könnte, im Eigentlichen nichts als die Realisierung der endlich errungenen, wahrhaft universalen praktischen Wahrheit, der von aller schäbigen Affektion und Modifikation durch bloß partikulare Interessen endlich ganz und gar gereinigten Antwort auf die Frage 'Was tun?' (Kant – und Lenin 1902!). Jener angeblich absoluten Wahrheit, m. a. W., die auch schon die Grundlage des Terreur der Jakobiner ausmachte.
Dabei setzt die 'Selbst'-Anklage zunächst darauf, als echte Selbstanklage aufgefasst zu werden: Wer die eigenen Ahnen so vernichtender Kritik aussetzt, rechnet heimlich auf Effekt gerade bei einem Publikum, bei dem noch Geltung hat, was etwa auch der Aufklärer Lessing noch seinen Nathan als sicheren gemeinsamen Untergrund aller, auch der fundamentalsten Kontroverse formulieren lässt (Nathan der Weise, „Ringparabel“, 3. Aufzug, 7. Auftritt, V. 1980–1986):

Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? […]
Wie kann ich meinen Vätern weniger
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. –

Sieh, meine Wahrheit ist so ernst, das gibt ein solcher 'Selbst'-Kritiker zu verstehen, dass in ihrem Angesicht selbst so ein altehrwürdiger Grundsatz in den Staub sinkt! Meine Gerechtigkeit ist erhaben über die Bande des Blutes! Gerade wem diese Bande viel bedeuten, dem muss die 'Objektivität' und Prinzipientreue desjenigen, der sogar seine Ahnen verdammt, Ehrfurcht abnötigen. Ein Kollektiv, das zu solchem Urteil über sein eigenes früheres Tun fähig ist, von dem, so muss ein traditionalistisches Publikum zu denken verführt sein, werden die angeprangerten Untaten dann ja fürderhin nicht mehr zu erwarten sein.
Selbstverständlich wird eine solche Reaktion in der Konfrontation mit dem realen (non-verbalen) Agieren des 'Freien Westens' unweigerlich zu Enttäuschungen führen.

In Wahrheit ist aber die Erwartung, der 'Freie Westen', der seine Vergangenheit doch in dermaßen kritischem Licht ausstellt, müsse aus den selbst eingestandenen Fehlern und Sünden gelernt haben, nicht einfach nur blauäugig, sondern greift v. a. am innersten Wesenskern der hinter den historischen 'Selbst'-Anklagen stehenden Ideologie vorbei: Ihrem tiefsten Sinn nach sind sie überhaupt keine reflexiven Urteile der Form 'Wir haben damals das-und-das falsch gemacht', sondern bestehen in einem Rückzug aus dem angeklagten 'Wir', ja letztlich in einer Problematisierung jedes 'Wir' als solchem (Hervorhebung von mir – M.K.). Das Scheißen auf die eigenen Ahnen nährt einen Individualismus, durch den es schließlich überhaupt unmöglich wird, sich noch irgendeinem lebendigen, handlungsfähigem Kollektiv von einigem Gewicht zugehörig zu fühlen; einen Individualismus, der in der Konsequenz die Vernichtung nicht nur der durch 'primordiale Bindungen' (Clifford Geertz) gestifteten Kollektive (Familie, Volk, die Religion, in die man „hineingeboren“ wurde) betreibt, sondern des Kollektiven überhaupt, als etwas das Individuelle wesensmäßig Übersteigendes; eine extreme revisionary metaphysics (Strawson), die einen Sturmangriff auf unser Kategoriensystem führt.
Was dieser Sturmangriff übriglassen will, ist bestenfalls eine zum Abstraktum degenerierte Menschheit. Eine hohle Phrase, die alles und nichts besagt, deren Antonym 'Unmensch' mithin leicht an jeden Beliebigen zu heften ist, der Anstalten zu irgendeiner Form von partikularistisch-kollektivistischem Widerstand macht."     bei MK



Herr Dr. Gauland, Politiker anderer Parteien haben empört auf Ihre Äußerungen zum 8. Mai reagiert. Cem Özdemir von den Grünen wirft Ihnen vor, auf der falschen Seite der Barrikade zu stehen. Bedauern Sie die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai?
Alexander Gauland: Das ist völlige Unsinn. Ich bedauere nicht die deutsche Kapitulation. Ich habe nur gesagt, daß der 8. Mai kein Tag zum Feiern und auch kein Freudentag ist. Sicher, für diejenigen, die in den KZs eingesperrt waren, war es eine Befreiung. Aber für viele Millionen Deutsche bedeutete das Kriegsende auch die Vertreibung aus und den Verlust der Heimat. Der Tag ist sehr ambivalent.
 Was meinen Sie damit, die totale Niederlage habe für Deutschland auch den „Verlust von Gestaltungsmöglichkeit“ bedeutet?
Gauland: Daß wir uns für eine gewisse Zeit nicht mehr selbst regieren konnten und ein geteiltes Land und Volk waren.
Wie Sie wissen, steht die AfD beim Thema Nationalsozialismus und Umgang mit der deutschen Vergangenheit stets unter besonderer Beobachtung. Hätten Sie Ihre Worte zum 8. Mai da nicht besser auf die Goldwaage legen müssen?
Gauland: Das sehe ich nicht so. Ich habe mich in meinen Äußerungen auf Richard von Weizsäcker bezogen, der 1985 sagte, der 8. Mai sei für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Und ich sehe beim besten Willen nicht, was daran nun verwerflich sein soll.
Sie meinen von Weizsäckers Rede anläßlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes, in der er sagte: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ Warum ist eine solche Ansicht heute offenbar nicht mehr vertretbar, was hat sich geändert?
Gauland: Das Verständnis für historische Zusammenhänge ist offensichtlich völlig verlorengegangen. 1985 gab es viele CDU-Politiker, die haben von Weizsäckers Rede scharf kritisiert, um es vorsichtig zu formulieren. Da fielen auch Wörter wie „Verrat“. Ich habe die Rede damals für richtig gehalten und sie stets verteidigt. Und heute wird man für genau diese Aussagen als „Faschist“ bezeichnet. Wer so argumentiert, den kann ich nicht mehr ernst nehmen.
Es ist, wie Boris Palmer kürzlich gesagt hat. Wir können in diesem Land keine intellektuelle Auseinandersetzung auf inhaltlicher Ebene mehr führen. Es wird stets Haltung verlangt. Und wer nicht die richtige Haltung hat, mit dem soll nicht diskutiert werden. Man darf zwar alles sagen, aber wenn man bei bestimmten Fragen nicht die richtige vorgefertigte Meinung hat, wird man ausgegrenzt. So entsteht ein Klima der Intoleranz, bei dem man sich – wie hat es Herr Özdemir gesagt – auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade gegenübersteht.
Was verbinden Sie persönlich mit dem 8. Mai?
Gauland: Wir waren in einem kleinen Ort bei Chemnitz. Leider hat eine Abteilung der Wehrmacht mit einem fanatischen Leutnant kurz vor dem 8. Mai versucht, diesen Ort als Festung zu verteidigen. Das führte dazu, daß die Rote Armee, nachdem sie ihn eingenommen hatte, dort ausgiebig plündern durfte. Diese Rache habe ich erlebt. Ich konnte mit ansehen, wie mein Vater sich abmühte, meine Mutter vor der Vergewaltigung zu bewahren, was ihm zum Glück auch gelang. Viele andere Frauen hatten weniger Glück, ich konnte sie schreien hören.
Daß die Sieger des Zweiten Weltkriegs dessen Ende feiern, ist verständlich. Aber sollten Besiegte wirklich ihre Niederlage feiern?
Gauland: Der Sender Sputnik hat mich gerade gefragt, ob ich am 9. Mai in Rußland an einer Parade zum Tag des Sieges teilnehmen würde. Ich habe das verneint, mit der Begründung, daß das für uns Deutsche kein Feiertag ist. Die Russen haben jedes Recht, ihren Sieg zu feiern und dürfen sich natürlich freuen. Aber als Angehöriger des Volkes, das damals besiegt wurde, kann ich da nicht mitfeiern. Das gilt auch für ähnliche Veranstaltungen in der Normandie, wo ja beispielswiese Frau Merkel teilgenommen hat.
Laut der Linken waren die Deutschen in der NS-Zeit Täter und keine Opfer. Aber können Täter denn eigentlich befreit werden?
Gauland: Sie haben völlig recht. Ja, es gab damals deutsche Täter. Es gab aber auch viele Deutsche, die selbst Opfer wurden, ohne jemals zuvor Täter gewesen zu sein, die sogar nie Hitler gewählt hatten. Deswegen gibt es kein Volk der Täter. Und wenn man von Befreiung spricht, dann heißt das ja, daß die Deutschen vorher unfrei waren. Man kann aber schlecht schuldig sein, wenn man unfrei war. Das zeigt, wie falsch und schief das gesamte Bild vom „Tag der Befreiung“ ist.
Sind die Alliierten Ihrer Ansicht nach als Befreier gekommen?
Gauland: Sie sind natürlich ursprünglich als Besatzer gekommen. Eine Befreiung war gar nicht ihr Ziel, schon gar nicht die der Deutschen. Sie haben sich aber im Laufe der Zeit teilweise auch zu Befreiern entwickelt. Zum Beispiel, indem sie uns die Möglichkeit zur demokratischen Entwicklung gaben. Oder auch mit wirtschaftlichen Hilfen wie dem Marshall-Plan. Und selbst in der Spätphase der DDR waren die dortigen Sowjetsoldaten nicht mehr nur Besatzer, sondern gehörten einfach dazu und haben am Ende die friedliche Revolution möglich gemacht.
Wenn der 8. Mai pauschal als „Tag der Befreiung“ gefeiert wird, verwischen dann nicht auch die Unterschiede, wie sich die einzelne Siegermächte gegenüber den Besiegten verhalten haben?
Gauland: Natürlich haben sich die einzelnen Besatzungsmächte unterschiedlich verhalten. Aber darum geht es bei der heutigen Frage um die Bewertung des 8. Mai nicht. Es geht um uns Deutsche selbst. Und für uns ist dieser Tag höchst ambivalent. Es war eine absolute Niederlage, die sowohl befreiende Elemente hatte, aber auch Elemente des Verlustes. Des Verlustes der Heimat der Ostdeutschen.
Wie sollten die Deutschen Ihrer Ansicht nach den 8. Mai begehen?
Gauland: Als Tag der Erinnerung an das Ende einer Epoche, die für eine begrenzte Zeit zur Daseinsverfehlung der Deutschen geworden ist. Daran sollten wir immer erinnern. Ebenso an das Elend des Kriegs und die Verbrechen der eigenen Führung. Die Erinnerung daran müssen wir wachhalten. Feiern sollten wir das aber nicht. Vielmehr sollten wir bei der Erinnerung nicht vergessen, daß auf diese Zeit eine neue Zeit folgte, in der wir ein anderes Deutschland wurden und auch neue Freunde gewannen.   JF

Man höre auch Herrn von Gottberg bitte zu.

Und man führe sich zu Gemüte, was Steinmeier und Bedford-Strohm in ihrer Gewissenlosigkeit und abgebrühten Heuchelei so gewieft übergehen:


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