Stationen

Sonntag, 10. Mai 2020

Die Pfaffen lügen immer hemmungsloser

Die Predigt des EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm zum 8. Mai stellt eine Herausforderung dar. Eine Herausforderung insofern, als schwer zu entscheiden ist, ob das, was er da beim Gottesdienst zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Berliner Dom gesagt hat, nur undurchdacht und kitschig war, oder ob es sich um eine Art theologischer Machtdemonstration handelte.
Nehmen wir zu Gunsten Bedford-Strohms vorläufig ersteres an.

Dann bleibt aber eine Menge an Verkürzungen und Verbiegungen der Lehre, die nicht auf sich beruhen können. Gleich zu Beginn sprach er fälschlich von der Gewalt als „Ursünde“. Davon ist in der biblischen Überlieferung keine Rede. Die Ursünde bestand im Ungehorsam der Menschen gegen Gott. Der Brudermord Kains an Abel – der „Aufhänger“ der Predigt, man scheut sich von Thema zu sprechen – war eine Folge. Und die Bestrafung des Brudermordes führte keineswegs – wie Bedford-Strohm suggerierte – dazu, daß die Gewalt zum Erliegen kam.
Gott verfluchte Kain und legte fest, daß die Tötung Kains „siebenfältig gerächt“ (1. Mose 4.15) werden sollte. Sein Nachkomme Lamech überbot sogar noch diesen Overkill: „Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal.“ (1. Mose 4.24) Nach dem Brudermord verschwand die Gewalt nicht mehr aus der Schöpfung, auch nicht nachdem Gott die Kainiten mit der Sintflut vernichtet hatte.
Im noachitischen Bund wurde ausdrücklich festgelegt, daß zukünftig auf Gewalt mit Gegengewalt zu antworten sei: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.“ (1. Mose 9. 6)

Nur weil Bedford-Strohm diese unangenehmen Wahrheiten verschwieg, fiel ihm die Übertragung leicht, mit der er seine – nicht die biblische – Botschaft an die Hörer brachte: daß „Deutschland“, daß „wir“, daß „unser Volk“ wie Kain ist, daß nicht nur die „deutsche Verantwortung“, sondern die deutsche „Schuld“ bleibt, weil „Wir … ganz Europa und weite Teile der Welt ins Elend gestürzt“ haben. Wir sind „gezeichnet“ – eigentlich gebrandmarkt – wie Kain gezeichnet war. Aber wenigstens hat Gott „uns vor Rache geschützt“.
Bedford-Strohm hat in einem Nebensatz selbst auf die Zerstörung des Doms hingewiesen, in dem die Gedenkstunde stattfand. Und man fragt sich, wie er darauf kommen konnte, in diesem und in anderen Akten unserer Kriegsgegner – der Bombardierung unserer Städte, der Wegnahme unserer Ostgebiete, der Ermordung, Vergewaltigung, Vertreibung von Millionen unserer Landsleute, der Versklavung unserer Männer, Frauen und Halbwüchsigen bis in die 1950er Jahre – keine Racheakte zu sehen.

Aber mehr Präzision hätte nur den Fluß der Beredsamkeit gehindert, der hurtig dahin führte, daß Gott zwar nicht „vergißt“, aber immerhin „vergibt“, und unsere „ehemaligen Feinde“, weniger nachtragend, „zu Freunden geworden“ sind.
Bei genauerer Betrachtung ist auch das nur eine Floskel. Das „Wir durften ihnen wieder in die Augen sehen“ gibt jedenfalls weder Verzeihen noch Anerkennung her, bestenfalls eine Art Bewährung unter Aufsicht, sofern wir bereit sind, „uns für eine Welt einzusetzen, in der alle Menschen in Würde leben können und in der Gewalt endlich überwunden wird“. Da weder das eine noch das andere je durch menschlichen oder deutschen Einsatz erreicht werden kann, bleibt unser Strafregister ungelöscht.

Wem noch nicht aller christlicher Glaube abhandengekommen ist, der wird vor dieser Konsequenz zutiefst erschrecken. Wenn sich in der Kirche trotzdem kein Widerspruch erhebt, ist das nicht nur mit dem rapiden Niveauverlust der evangelischen Theologie zu erklären, sondern auch mit dem Desinteresse der Gemeinden. Deshalb kann das Establishment des deutschen Protestantismus ungestört so agieren, wie es das tut. In seinen Reihen hat man lange begriffen, daß sich die „Welt“ nicht mehr für das interessiert, was man eigentlich sagen müßte. Also sagt man das, was die „Welt“ gerne hören will.
Diese Anbiederung ist kein Novum, sondern eine alte Versuchung, der die Evangelischen immer wieder nachgegeben haben. Was wiederum nahelegt, daß wohl doch die zweite Annahme im Hinblick auf die Motivlage Bedford-Strohms zutreffen dürfte und es ihm um eine theologische Machtdemonstration ging. Gemeint ist eine Macht, die aus der Schuldzuweisung resultiert. Die kommt zwar nicht donnernd, sondern demütig daher. Aber das verbirgt ihre Unerbittlichkeit nicht, so wenig wie die Tatsache, daß das „wir“, das den Prediger scheinbar einbezieht, letztlich doch ein „ihr“ ist und ein wohliges „Danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner“ (Lukas 18. 11).
Luther hat davon gesprochen, daß in der Not Gott „Wundermänner“ schicken kann. Heute wäre man schon dankbar für irgendeinen bestallten Protestanten, der den Mut aufbrächte, das zu wiederholen, was Joachim Gauck – evangelischer Geistlicher, Bürgerrechtler in der DDR, später Bundespräsident – von der „neurotischen Fokussierung auf Schuld“ gesagt hat. Die sei „ungesund“, weil „objektiv Nicht-Schuldige in einen Schuldgestus gerieten“, für den es keine Grundlage gebe. Sie müsse deshalb mit Zwang und Überredung aufrechterhalten werden, was letztlich zur Zerstörung jedes Nationalgefühls führe, das auch zu den guten Gaben Gottes zählt.  Weißmann

Ein merkwürdiger Nebeneffekt der Predigten von Leuten wie Bedford-Strohm und Woelki ist, dass man plötzlich Verständnis für die Russen bekommt, die dem Pfaffentum im Oktober 1917 ein für alle mal ein Ende bereiten wollten.
Aber nichts ist gegen Bigotterie und Frömmelei gefeit. Die heuchlerischen Herrschergesten der heutigen Priesterkaste beruhen ja gerade auf dem bolschwewistischen Evangelium, das 1917 verkündet wurde, und Säkularisierung schützt nicht vor Glaubenskriegen und bekennerischer Kriecherei; sie werden nur "alternativloser", denn der Undeterminiertheitsspielraum der christlichen Religion, die immer als Überlaufbecken fungieren konnte, ist ja nicht mehr da.

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