Während ich spätabends gemütlich vor dem Computer sitze, war es am vergangenen Wochenende vor exakt 26 Jahren
um die gleiche Zeit doch eher ungemütlich für mich.
Rostock-Lichtenhagen, Sonnenblumenhaus. Überall Rauch, Feuerschein, der
durch die Fenster drang, Gejohle des entfesselten Pöbels vor dem Haus.
Im obersten Stockwerk war es den Vietnamesen
in der Zwischenzeit gelungen, das obere Schloss der Stahlgittertür zu
knacken, die auf das Dach führte. Wir hängten uns an die Tür, und es
gelang uns, sie aufzubiegen. Durch einen schmalen Schlitz gelangten wir
so auf das Dach, Frauen und Kinder zuerst. Wir waren gerettet.
Wir drehten noch etwa eine Stunde weiter, dann fuhren wir in unser
Hotel und feierten unseren ersten Geburtstag. Seitdem haben wir uns
jedes Jahr getroffen, nicht nur das Team, sondern auch Vietnamesen und
der damalige Ausländerbeauftragte von Rostock. Natürlich war die Freude
immer groß, sich wiederzusehen. 2017 war der 25. Jahrestag und Rostock
feierte den Anlass eine ganze Woche lang. Wir waren alle eingeladen,
doch ich konnte und wollte nicht und schrieb den anderen folgenden, wie
ich finde, harmlosen, aber offenen Brief.
Liebe Freunde,
leider ist es mir nicht möglich, nach Rostock zu kommen. Habe
nicht nur die Kinder an der Backe, sondern muss auch arbeiten und zu
guter letzt bauen wir gerade ein Haus. Es geht wirklich nicht. Muss auch
ehrlich gestehen, dass ich der Flüchtlingsproblematik mittlerweile sehr
kritisch gegenüberstehe, und um die wird es in Rostock ganz sicher
vorwiegend gehen. Ich kann Euch auch in wenigen Zeilen erklären, was
mich stört.
Es wurden hunderttausende Menschen ins Land gelassen, mit
genügend Geld, um Schlepper zu bezahlen, von denen nur ein geringer Teil
wirklich Anspruch auf Asyl hat. Dies hat mittlerweile in Deutschland zu
erheblichen Sicherheitsproblemen geführt. Man klopft sich gegenseitig
auf die Schulter, feiert sich selbst und freut sich ob der humanitären
Großleistung, während das Land mit Kriminalitätsproblemen und
Terrorismus kämpft, die man dafür gerne verdrängt. Das ist verlogen und
in meinen Augen falsch.
Die wirklich bedürftigen Familien oder Frauen mit Kindern hängen
mangels Geld für einen Schlepper weiterhin in elenden libanesischen,
jordanischen und türkischen Flüchtlingslagern. Um die kümmert sich
keiner. Die Gelder wurden sogar noch reduziert, sie sind ja weit weg und
die Medien ducken sich weg.
Die Familienväter dort haben, im Gegensatz zu denen die hier zu
uns ohne Familien kamen, Verantwortung gezeigt und haben ihre
Angehörigen nicht im Stich gelassen. Man hätte mit den Milliarden, die
jetzt für Wirtschaftsflüchtlinge in Deutschland ausgegeben werden, dort
problemlos ALLE unterstützen und ihnen dort ein menschenwürdiges Leben
ermöglichen können, hätte zusätzlich noch Verfolgte, Waisen, Witwen mit
Kindern und Familien einfach einfliegen lassen können.
Es gibt also keinen Grund, auf die deutsche Vorgehensweise stolz
zu sein. Sie ist zutiefst inhuman, denn sie belohnt das Recht des
Stärkeren und lässt die Schwachen im Stich. Nur so ist es zu einer
Spaltung der Gesellschaft gekommen, die die Rechten stärkt. Und unsere
Regierung tut alles, um den Riss noch zu verstärken.
Mittlerweile kann man in Deutschland nicht mal mehr darüber
diskutieren, ohne gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden. Auch
dazu schweigt die Presse, man hat gar keine Lust mehr zu differenzieren,
sondern fällt bei jedem, der auch nur „aber“ sagt, gleich das
Naziurteil.
Liebe Freunde, ihr wisst, dass ich kein Nazi bin und nie einer
sein werde, aber dennoch kommt immer wieder der Vorwurf in
Diskussionen. Habt viel Spaß in Rostock. Ich freue mich aufs nächste
Mal, wenn wir wieder unter uns sind.
Mit ganz lieben Grüßen
Jürgen
Eisiges, mediales Schweigen. Nicht einer hat geantwortet. Nicht einer
hat Fragen gestellt. Nicht einer wollte diskutieren. Im 26. Jahr
erhielt ich keine Einladung mehr. Keine Mail. Nichts. Totenstille. Ich
existiere anscheinend nicht mehr, bin für sie ein Paria, sonst müsste
ich jetzt schon wieder auf dem Weg nach Rostock sein. Man wird
ausgestoßen, weil man die Wahrheit schreibt.
Freunde, die man seit mindestens 25 Jahren kennt, hätte ich völlig
anders behandelt. Ich wäre auf sie zugegangen. Jeder wahre Freund
verdient es, gehört zu werden, bevor man ihn verurteilt. Ich habe auch
einen von ihnen nicht verurteilt, als Stasivorwürfe aufkamen. Es war mir
egal, es war mein Freund.
Liebe Freunde, damals wurden wir mit Preisen überhäuft und gefeiert,
weil wir rein zufällig in diesem Haus mit den Vietnamesen eingesperrt
waren. Das war unsere ganze Leistung. Wir waren keine Helden. Aber mit
Preisen ist es wie mit Bomben und Granaten: Es trifft meistens die
Unschuldigen, in diesem Falle uns. Feiert Euch dafür ruhig weiter. Viel
Spaß dabei. Podzkiewitz
Zum Autor: Jürgen Podzkiewitz,
Jahrgang 1954, ist ein deutscher Filmemacher und Regisseur. 1992 war er
bei den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen mit den
ZDF-Journalisten Dietmar Schumann und Thomas Euting und über 100
Vietnamesen im dortigen Sonnenblumenhaus eingeschlossen und drehte die
dramatischen Bilder ihrer Flucht aus dem brennenden Haus – Bilder, die
um die Welt gingen. Das ZDF-Team wurde dafür unter anderem mit
der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für
Menschenrechte ausgezeichnet.
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