Brauchen wir denn eigentlich
noch die stereotype Einteilung in eine Rechte und eine Linke? Wo stoßen
diese politischen Einordnungen an ihre Grenzen?
Ulrich Fröschle:
Zunächst könnte man sagen: »Diese Einteilungen werden objektiv
gebraucht, solange sie zu funktionieren scheinen«. Wenn man das
diskursanalytisch betrachtet, was leider viel zu selten auch einmal
gegen den Strich gemacht wird, dann zeigt sich, dass diese
Zuschreibungen, »links« und »rechts«, sich immer dann als Elemente eines
Herrschaftsdiskurses bzw. einer Diskursherrschaft erweisen, wenn sie
als Einteilungen tatsächlich greifen. In einem solchen Sinn wird die
Unterscheidung benutzt und ist funktional, solange sie dazu dienen kann,
die einen zu deklassieren und die anderen im Diskurs zu halten. Das
ist, was Foucault als Exklusions- und Inklusionsfunktion von
Redeordnungen beschrieben hat, und das schien bis jetzt auch noch
einigermaßen zu funktionieren, selbst wenn das eigentlich schon länger
ins Rutschen geraten ist.Wenn man sich zum Beispiel die sogenannte Linke, die Partei, ansieht, muss man anerkennen, dass dort diese als Exklusion gemeinten Zuschreibungen völlig beliebig geworden sind, wenn Sahra Wagenknecht als »rechts« etikettiert wird, obwohl sie genuin marxistische Positionen vertritt. Bei den Kommunisten gab es im übrigen ja schon unter Lenin die Rechts- und Linksabweichler, aber die Kritiker von Wagenknecht sind selten noch Marxisten und kennen sich ebenso selten in solchen linken Vorgeschichten aus. Es zeigt sich m.E. schon am Wagenknecht-Beispiel, dass die alte Schubladen-Einteilung nicht mehr greift, wenn es um eine adäquate Beschreibung der Debatten geht. Als Elemente eines Herrschaftsdiskurses, als Mittel einer Diskursherrschaft funktionieren sie aber nach wie vor noch einigermaßen, allerdings gerät das derzeit, wie angedeutet, ziemlich ins Rutschen. Und das hängt wiederum von der allgemeinen Lageentwicklung ab, also dem berühmten ökonomischen Sein. Was das betrifft, bin ich von der marxschen Analyse immer noch ziemlich überzeugt.
Nationale oder
konservative Narrative stützen sich gerne auf Begriffe wie »Nation« oder
»kulturelle Identität«, formulieren diese Begriffe aber meist negativ,
indem sie zum Beispiel sagen: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland.«
Warum wird so selten mit einem positiven Identitätsbegriff gearbeitet?
Ulrich Fröschle:
In Deutschland ist es ziemlich klar, warum es kaum einen positiven
Identitätsbegriff gibt, weil sich die indigenen Deutschen seit 1945 nur
als eine gebrochene kollektive Identität verstehen, ein sich selbst
stets problematisches Konzept der kulturellen Selbstbeschreibung
bevorzugen. Wenn man sich als Kollektiv vorrangig über das Stigma eines
Massenmordes definiert, ist es schwer, ein positives Selbstbild zu
entwickeln – da sind die Deutschen pikanterweise auch in ihren
avanciertesten, kosmopolitischsten Exemplaren sehr kryptovölkisch: In
Bezug auf die Kollektivschuld greift der Volksbegriff bei uns
einwandfrei. Und das garantiert auch ethnische Stabilität, auf kleiner
Flamme – denn mal unter uns: Warum sollte sich ein selbstbewußter Sohn
türkischer oder albanischer Einwanderer in ein Land bzw. Volk
integrieren, das sich selbst für den Abschaum der Menschheit hält? Ich
bliebe da lieber Albaner, proud to be an Albanian, wie es in einem auch
hierzulande verbreiteten Rap-Song namens »Albanian« von der
kosovarischen Formation »Etno Engjujt« hieß.Dagegen ist es eben schwierig, ein neues, ein positives kollektives Selbstbild jenseits des »Made in Germany« oder der Fußball-Mannschaft zu produzieren. In anderen Ländern sieht das anders aus, wenn du dir Russland oder Amerika anschaust, auch die Franzosen, Italiener, Polen oder die Israelis, dort sieht man massenweise positiv gefasste kollektive Identitätszuschreibungen, und das durchaus in unterschiedlichsten Formen.
Als Biograf von Friedrich Georg Jünger wirst
du gerne von bekannten Rechtspopulisten wie zum Beispiel Götz Kubitschek
zitiert oder sogar eingeladen. Hast du eigentlich Angst davor
instrumentalisiert zu werden?
Ulrich Fröschle:
Ich würde Götz Kubitschek nicht als Rechtspopulisten bezeichnen,
sondern als Rechtsintellektuellen. Populisten sind im Sprachgebrauch des
hegemonialen Diskurses die, die auf die Straße gehen und mit primitiven
Parolen auf einen ominösen Volkszorn zielen – es sind dies eh
Kampfbegriffe, die alles und nichts bezeichnen. Gewiss, auch
Intellektuelle können auf die Straße gehen und Massenreflexe bedienen,
aber sie tun dies in der Regel mit anderen Mitteln. Ich kenne
Kubitscheks Reden, sie sind bei Youtube problemlos nachzuverfolgen –
soweit ich das sehe, sind das besonnene, intellektuell fundierte Reden.
Man bringe mir im übrigen ernsthafte Argumente, warum ich Volksparteien
wie die CDU/CSU oder die SPD mit ihren »In-die-Fresse«-Reden etwa von
Frau Nahles nicht als populistisch bezeichnen sollte … Warum sollte ich
denn Angst davor haben, instrumentalisiert zu werden? Entscheidend ist
doch, was ich wie sage und ob mir das Wort dann im Munde herumgedreht
wird oder nicht. Warum sollte ich Angst davor haben, richtig und im
Zusammenhang zitiert zu werden? Ich diskutiere mit allen und ich rede
auch vor allen, wenn es darauf ankommt – mit gewissen Einschränkungen
allerdings. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass dem TU-Kollegen Patzelt von
wohlmeinenden Mitbürgern, die sich gewiß nicht als Populisten
betrachten, das Familienauto angezündet wurde, weil er anderer Ansicht
als sie war, dann ist das ein Punkt, wo ich sage, da könnte ich zu einem
gewissen Grade opportunistisch werden und zu manchen Dingen und Leuten
besser nichts sagen. Aber grundsätzlich widerstrebt mir das, wenn mir
jemand diktiert: »Mit dem darfst du nicht reden oder die dürfen dich
nicht zitieren, das sind Schmuddelkinder«. Denn das ist etwas, das
zutiefst freiheitsfeindlich ist. Ich glaube immer noch an die Kraft des
Arguments, wenn ich daran nicht glaubte, dann hätte ich meinen Beruf
verfehlt. Ich weiß natürlich auch als Realist, dass die Argumente nicht
immer durchdringen, aber ich will zumindest danach leben, sagen zu
können, ich produziere Schriften und daran kann ich gemessen werden, die
dürfen beurteilt werden. Jemand der darüber befindet, kann ja im
Textvergleich immer noch sagen: »Das ist eine Falschaussage« oder »das
entspricht tatsächlich dem, was er gesagt hat«. Aber ich habe überhaupt
kein Problem damit, wenn mich Sahra Wagenknecht oder Götz Kubitschek
zitieren würden. Ich halte den Kubitschek übrigens für einen integren
Mann – ich kenne ihn auch persönlich.
Bei dem
Gespräch »Streitbar! Wie frei sind wir mit unseren Meinungen?« zwischen
Uwe Tellkamp und Durs Grünbein im Kulturpalast, meldete sich auch Götz
Kubitschek und meinte, er wolle den Riss in der Gesellschaft weiter
vertiefen. Wie deutest du seine Aussage?
Ulrich Fröschle:
Ich bin nun kein Kubitschek-Deuter, da fühlen sich andere »Experten«
sicher berufener. Aber ich würde das so interpretieren, dass man bei uns
dazu tendiert, Streitfragen zuzukleistern; manche Dinge müssen aber
ausgetragen werden. Ich kann mir nur vorstellen, dass es in diese
Richtung geht, denn die Diskussion zwischen dem Romancier Tellkamp und
dem Lyriker Grünbein habe ich leider verpasst. Einen solchen Riss über
Streitfragen gibt es natürlich, das steht für mich außer Frage. Dieser
Riss verläuft meines Erachtens zwischen oben und unten, in einem
erweiterten Sinne – dies wäre meine Diagnose. Meiner Meinung nach gibt
es bei uns in der BRD eine Elite, die auf der einen Seite des Grabens
steht – wobei ich »Elite« wertneutral verwende, also nicht in dem Sinne,
ob diese Leute einen solchen Begriff durch Leistung verdienen oder
nicht, sondern einfach als Funktionsbeschreibung. Ich meine damit also
Leute, die in Machtpositionen sitzen, ganz handfest, aber auch auf eine
vermittelte und vermittelnde Weise: Es gibt nämlich auch den
idealtypischen Intellektuellen, der sich zur Elite zählt, aber nicht in
dem Sinne, dass er handfeste Macht hat – was Intellektuelle haben
können, ist Diskursmacht, und sie machen sich sehr oft gemein mit
Positionen wirtschaftlicher und politischer Eliten, alles hier bitte
idealtypisch zu verstehen. Und dann gibt es die Leute, die hierzulande
schnell mit dem Verdikt »Populismus« etikettiert werden, weil sie für
sich in Anspruch nehmen, sie sprächen für das berühmte breite Volk, also
in deren Interesse statt dem der Eliten. Das scheint so etwas wie ein
Strukturgesetz zu sein – immer suchten und suchen Intellektuelle die
Nähe zur Macht, das ist ein alter Topos, immer aber gab und gibt es auch
Intellektuelle, die sich abseits stellen, absondern, dissident
verhalten. Man kann m.E. in der heutigen BRD recht klar sehen, dass es
eine grundlegende tektonische Verschiebung im Gefüge gibt, die sich u.a.
im Wahlverhalten abzeichnet. Und das ist nicht nur in Sachsen so, man
hat das etwa auch in Bayern gesehen. Es ist also kein Ost-Phänomen nach
dem Motto: »Das sind halt die Ossis, die Abgehängten«, was übrigens im
heutigen Newspeak als »rassistisches« Narrativ eingestuft werden müsste.
Es gibt also ganz offensichtlich eine Spaltung, einen Riss, der
ausgehalten und ausgetragen werden muss, weil die Leute ja ganz
offensichtlich zu wenig offen miteinander reden, nicht selten sofort in
einen Freund-Feind-Modus verfallen. Das liegt meiner Meinung nach daran,
dass bei uns die öffentlichen Diskussionen nicht sachlich hart genug
geführt werden. Es scheint schon eine deutsche Schwäche zu sein, dass
diese Sehnsucht nach Harmonie besonders ausgeprägt ist, die aber
unversehens eine hässliche Fratze zeigen kann und sich dann in einen
Harmoniezwang verwandelt, damit als Gleichschaltung fungiert, denn
Gleichschaltung ist ja nichts anderes als die Erzwingung von Harmonie.
Dieses Harmoniebewusstsein ist bei den Deutschen ganz stark da, deshalb
wird nicht Tacheles geredet. Es wird nicht so diskutiert, dass man sagen
kann: »Gut, ich akzeptiere deine Meinung, auch wenn ich anderer Ansicht
bin, aber wir nehmen uns dann trotzdem ernst und reden weiter
miteinander.« Bei uns in Deutschland manifestiert sich der Riss leider
Gottes nach aller Schönrednerei dann trotz aller harmonischen
Verkleisterung doch so, dass der Andere plötzlich als Feind jenseits
eines scheinbar unüberwindlichen Grabens gesehen wird. Und mit dem Feind
in diesem Sinne scheint dann kein Gespräch mehr möglich zu sein. Das
ist nicht wünschenswert, aber das ist genau das, was bei uns passiert.
Es gibt ja so urkomische Veranstaltungen, die sich ernsthaft fragen:
»Darf man mit Rechten reden?« Das allein ist schon entlarvend – der
nächste Schritt wäre konsequenterweise die Frage: »Soll man Rechte
markieren?« Da gibt es eine Tendenz bei vermeintlichen Linken, man müsse
die Anderen, die Rechten nur exkludieren und möglichst hartem
Verfolgungsdruck aussetzen, dann wären die Probleme erledigt. Mir
scheint aber, dass die sogenannten Rechten nur eine Figuration, eine
Verkörperung von etwas sind, das sehr weit reicht und tief geht, auch
eine Projektionsfigur für staatsnahe, im Grunde mit der aktuellen
Regierung emotional doch sehr verbundene Leute. In der Figur des Rechten
versucht man, die eigene Delegitimierungsängste zu verdichten, zu
fixieren, um sie bekämpfen zu können. Die Leute schimpfen doch überall,
und zwar anders, als sie bisher immer geschimpft haben, und es ist
festzustellen, dass dieser Unzufriedenheit gegenüber die altgedienten
Bannwörter nicht mehr so wie früher ziehen. Es sind keineswegs
irgendwelche »Neonazis«, die allenthalben demonstrieren – gewiss sind
auch solche dabei, aber die können sich selbst unter demonstrierenden
SPD-Genossen tummeln und dort wohlfühlen. Und dieser Riss zwischen den
Leuten, die man früher die Werktätigen genannt hat, und den politischen
bzw. den Deutungseliten, dieser Riss muss erst einmal benannt, der muss
erst einmal ausgelotet werden. Das Verkleistern führt nur dazu, dass die
Probleme sich dann mit größerer Wucht zurückmelden. Das heißt nicht,
dass man sich bekämpfen muss, sondern dass man die Sachen
auszudiskutieren hat, und zwar ohne den oft zu beobachtenden Vorbehalt:
»Ich bin der Gute und du bist der Böse«, also ohne diese extreme
Moralisierung, die bei uns jedes Gespräch vergiftet.
Gerne
wird unsere Zeit mit der Weimarer Republik verglichen. Kann man da
wirklich Parallelen ziehen? Und an welchen Stellen sollten vielleicht
auch die konservativen Intellektuellen achtsam werden, wenn man
beispielsweise an die Entwicklungen der sogenannten konservativen
Revolution denkt?
Ulrich Fröschle: Damit
apostrophierst du mich ja quasi als Vertreter der konservativen
Intellektuellen. Das akzeptiere ich jetzt mal so, obwohl ich dazu meine
terminologischen Bedenken schon geäußert habe. Nein, die heutige BRD
ähnelt ganz und gar nicht der Weimarer Republik, ganz einfach deshalb,
weil die Weimarer Republik ganz anders aufgestellt war. Zum einen gab es
da sehr viele junge Männer, und zwar indigene junge Männer, trotz des
Ersten Weltkriegs, und dies hat das Klima insofern beeinflusst, als sich
diese von der Rotfront über das Reichsbanner bis hin zur SA
paramilitärisch organisierten und betätigten. Die Bedeutung des Youth
Bulge in Verbindung mit ökonomischer Perspektivlosigkeit hat Gunnar
Heinsohn ganz gut dargestellt in seinen Forschungen zur Genese von
Völkermorden. Zu einer wirklichen Eskalation, zu bürgerkriegsähnlichen
Zuständen wie in der Zwischenkriegszeit, fehlen hier die jungen Männer.
Allerdings importieren wir die uns gerade – jene jungen Männer, die in
den letzten Jahren in die BRD kamen, sind nicht selten robust in der
Auseinandersetzung, was uns sensible Indigene gelegentlich vielleicht
vor ganz konkrete diskursive Probleme stellen mag. Allerdings hat auch
unser robust-schöner Wilder prinzipiell wenig Chancen gegen die
hochgerüstete und einsatzfähige deutsche Polizei.Der Vergleich mit der Weimarer Republik ist m.E. also eher eine billige und unzutreffende Dramatisierung. In einem ganz anderen Sinn ist dieser Vergleich zudem abzulehnen: Die Zeiten waren damals viel offener in der Debattenkultur als heute. Da hat zum Beispiel der Bertolt Brecht mit dem Ernst Jünger diskutiert, ein Walter Benjamin sich mit einem Carl Schmitt auseinandergesetzt, und umgekehrt. Das ist heute alles viel spießiger und verstockter, eben weil jeder gleich fragt – und sich fragt: »Darf ich mit dem reden? Wird von denen nicht, was ich gesagt habe, instrumentalisiert?« Im Vergleich zur Weimarer Republik sind wir geistig nicht ganz so frei, und im übrigen auch nicht einmal ansatzweise so schöpferisch und interessant. Das ist das Positive an der Weimarer Republik. Das Positive heute ist, dass die Lage viel, viel stabiler ist als die Lage damals. Wobei wir uns nichts vormachen müssen – der Hauptgrund für das Kollabieren der ersten deutschen Republik war nicht eine falsche Verfassung, sondern nicht zuletzt das totale Versagen der Parteien, die damit erst der KPD und der NSDAP ihren Aufstieg ermöglichten. Das nächste war dann die Weltwirtschaftskrise, denn es ist immer der Ernst der Lage, der die Wirkung der Ideen zu einer ernsten Sache macht (Kondylis). Und eine solche Konstellation – Versagen der Parteien und Wirtschaftskrise – ist im einen Fall auch bei uns offensichtlich, im anderen latent durchaus angelegt. Wenn der erste Dominostein im Euro-System kippt, droht das gesamte Gebäude der Verschuldungspolitik zu kollabieren, und dann ist eine »revolutionäre Situation« denkbar. Aber auch dann, so glaube ich, würden sich die Konstellationen der Weimarer Zeit nicht wiederholen.
Sind die Leute heute vielleicht auch weniger fanatisch?
Ulrich Fröschle:
Fanatisch sind wir alle immer noch, aber der Fanatismus wirkt sich
nicht mehr mit dieser Brutalität aus wie in der Weimarer Republik.
Damals ging es auch um Geldentwertung, eine grassierende
Arbeitslosigkeit, Leute haben zeitweise wirklich gehungert, der Familie
war Brot zu verschaffen. 1924 ging es im übrigen auch im bewaffneten
Kampf drunter und drüber, wir denken ja meistens nur noch an den
sogenannten Hitler-Putsch, doch es gab militante Separatistenbewegungen,
kommunistische und nationalistische Putschversuche, und schließlich die
Hitlersche Farce in München. Der Fanatismus ist bei uns noch genauso
da, nur ist der in mancher Hinsicht feige geworden: Wie fanatisch und
feige muss ich sein, wenn ich einem Mann von der Universität, dem Ort
freier Rede und Gegenrede, das Auto anzünde, nur weil ich denke, der
sieht die Pegida falsch und spricht mit den falschen Leuten?
Wie
bist du dazu gekommen, die Erklärung 2018 als Erstunterzeichner zu
unterschreiben, in der gefordert wird, die »rechtsstaatliche Ordnung«
wiederherzustellen, die durch die »illegale Masseneinwanderung« verletzt
wurde?
Ulrich Fröschle: Vera Lengsfeld hat
unter anderem mir die beiden Sätze zugeschickt. Die fand ich absolut
richtig und monumental einfach, ganz klar und eindeutig, auch was die
Solidarisierung mit friedlichen Protesten betrifft. Und da hab ich
gesagt: »Na klar, da unterschreibe ich. Da gebe ich meinen Namen als
Erstunterzeichner gern her.«
Du kennst sie also persönlich?
Ulrich Fröschle:
Ja, ich kenne sie aus dem Gespräch und verfolge seit längerem, was sie
schreibt und macht. Eine ganz tolle Frau. Was sie durchgemacht hat und
was sie noch immer auf sich nimmt, das nötigt mir einfach nur größten
Respekt ab. Sie ist eine echte Dissidentin im besten Sinne – eine solche
Haltung hängt man nicht an den Nagel, wenn das System wechselt, sondern
man bleibt wachsam und kritisch aus Erfahrung. Das ist im übrigen
grundsätzlich der Wert der DDR für unsere heutige BRD – dass man wachsam
bleibt, ob sich die gelebte Normalität unter der Hand nicht verändert
zu einer monströsen Normalität, auch wenn wir meinen, wir hätten’s als
Deutsche jetzt ja endlich herrlich weit gebracht in unserer so
demokratisch-toleranten BRD.
Die Erklärung ist
ganz bewusst sehr allgemein gehalten. Was verstehst du unter »illegaler
Masseneinwanderung«? Und welche »rechtsstaatliche Ordnung« muss wieder
hergestellt werden? Ich persönlich halte die Formulierung für recht
schwammig. Ich kann mir darunter nicht sehr viel vorstellen oder eben zu
viel ... ?
Ulrich Fröschle: Gemeint ist
genau das, was da steht. Rechtsstaatlichkeit muss wieder hergestellt
werden, die ist partiell nicht mehr gegeben. Die unkontrollierte
Masseneinwanderung muss beendet werden, weil sonst unser Staatswesen in
absehbarer Zeit kollabiert. Es herrscht eine rechtsstaatswidrige
fundamentale Ungleichbehandlung, wenn ich mich bei Verkehrskontrollen
als Staatsbürger mit einem Personaldokument ausweisen muss, bei selbst
geringfügigen Ordnungswidrigkeiten Ordnungsgelder bezahlen darf oder
bestraft werde, und gleichzeitig wird an den Grenzen keine
Identitätsfeststellung unternommen und faktischer Rechtsbruch nicht
sanktioniert. Auf diese Weise sind islamische Terroristen in ihr
Einsatzgebiet nach Deutschland und via Deutschland nach Frankreich
gekommen – mit der bekannten Folge zahlreicher Terroropfer.Die Erosion des Rechtsstaates in Deutschland hat meiner Auffassung nach aber schon vor dem eklatanten und von Frau Merkel nachweislich selbst eskalierten Ausnahmezustand des Jahres 2015 eingesetzt. Für mich war der Casus mit den Griechenlandkrediten, der sogenannten Rettungspolitik, gegeben, wo in einer Art und Weise Entscheidungen durchgewunken wurden, die mich eher an einen Maßnahmenstaat denn einen Rechtsstaat erinnert haben. In diesem Zusammenhang ist immerhin wenigstens noch ein Bundespräsident zurückgetreten.Das Problem, das sich bei uns in der BRD auftut, besteht in einer demonstrativen Legalität der Verfahren, während die Legitimität dieses staatlichen Handelns offensichtlich zerfällt. Und das trifft den Kern unseres Gemeinwesens. Die Geschichte mit der ominösen Griechenlandrettung war für mich persönlich ein wichtiger Punkt: Ich habe damals dem Bundestagsabgeordneten meines Wahlkreises geschrieben und ihn mit Gründen aufgefordert, gegen diese Kredite zu stimmen und sich auch entsprechend öffentlich, also im Bundestag, zu erklären. Das ganze habe ich zweimal getan und nicht einmal eine Antwort bekommen – alles ist im übrigen so gekommen, wie es die Kritiker dieser aktionistischen politischen Schnellschüsse prognostiziert hatten. Der Abgeordnete hat sich in den Abstimmungen selbstverständlich der Disziplin seiner Fraktion, nicht der seines Gewissens und seiner Kritik gebeugt. Die Erosion der Legitimität nahm für mich genau dort damals rasant an Fahrt auf, angesichts der gesamten deutschen Politik, die die EU betrifft. Die Masseneinwanderung seit 2015 hat das dann weiter eskaliert – die Fakten liegen hier doch auch klar auf der Hand. Der Fall des Irakers, der kürzlich die jüdische Deutsche getötet hat, ist doch von einer absurden Deutlichkeit – bei seiner Einreise ist er offenbar nicht zureichend kontrolliert worden; bei der Flucht aus Deutschland in sein Heimatland, in den Irak zurück, ist er dort aber an der Grenze offenbar richtig kontrolliert und sogleich festgenommen worden. Das heißt, im Irak funktioniert das Grenzregime, in Deutschland nicht. Gleichzeitig schicken wir Truppen in den Irak, um dort Rechtsstaatlichkeit herzustellen, sind aber nicht in der Lage, diese im eigenen Land zu gewährleisten.Eine weitere Sache ist, dass es unterschiedliche Rechtsprechungsauffassungen zu geben scheint, die hier um sich greifen. Nehmen wir das Beispiel des Totschlägers von Köln, der jüngst auf Bewährung frei gelassen wurde, und vergleichen das mit dem Durchgreifen des Staates in Sachen Rundfunkgebühren, die sich im Newspeak u.a. Demokratieabgabe nannte. Das sind selbstverständlich populistische Argumente, wie der Akademiker sagt – aber dass diese Erscheinungen als populistisch adressiert werden, verweist doch vor allem auf darauf: dass das Vertrauen in den Rechtsstaat bei sehr vielen – zu vielen – Leuten, eben beim Populus, dem Volk, geschwunden ist. Und wenn die Legitimität eines Staates erodiert, wenn das Vertrauen der Leute in die Rechtssicherheit des Alltags schwindet, wenn das Gefühl wächst, im Falschen zu leben, dann sind erfahrungsgemäß die Tage des betreffenden Staates gezählt – und daran kann uns eigentlich allen nichts liegen, denn wir leben hier nach wie vor in vergleichsweise paradiesisch-sicheren Zuständen.
In der Lesereihe
»Lesetrieb – Lesekreis für lebendige Literatur an der TU Dresden«, die
du zusammen mit Studenten organisiert hast, bist du eine Kooperation mit
dem Kulturhaus Loschwitz eingegangen. Nachdem Susanne Dagen die Charta
2017 aufgesetzt hat, sind Studenten zu dir gekommen und wollten die Nähe
zum Kulturhaus meiden. Wie wertest du diese Distanzierung?
Ulrich Fröschle:
Wenn ich das richtig erinnere, hat mich deswegen eine ehemalige
Studentin angesprochen und dies auch an die Studenten des damals
aktuellen Lektürezirkels herangetragen. Ich glaube aber nicht, dass das
mit der Charta 2017 zu tun hatte – war das nicht schon vorher? Ich habe
daraufhin mit den Studenten jedenfalls diskutiert und ihnen dargelegt,
dass uns das Kulturhaus Loschwitz bereits seit über zehn Jahren
uneigennützig als Lektürezirkel unterstützt
(www.lesetrieb.wordpress.com). Michael Bormann und Susanne Dagen haben
uns immer äußerst großzügig den Raum und die Logistik zur Verfügung
gestellt, und da kann man doch eigentlich erwarten, dass die Leute, wenn
sie denn schon eine solche Entscheidung gegen die erneute
Zusammenarbeit fällen wollen, sich wenigstens vorher einmal mit Susanne
Dagen und Michael Bormann unterhalten, um sich selbst ein Bild zu
verschaffen – et audiatur altera pars. Dies hatte aber keiner gemacht.
Und da habe ich gesagt: »Das mache ich nicht mit«. Das wäre menschlich
unter aller Kanone. Ich habe im übrigen selbst meine Erfahrungen mit
Denunziationen im beruflichen Umfeld sammeln dürfen und bin von daher
sensibilisiert, wie man so schön sagt. Wir haben dann die Veranstaltung
mit dem Leipziger Autor Clemens Meyer wie immer im Kulturhaus Loschwitz
abgehalten, mit großem Publikumsandrang übrigens. Die Studenten wurden
meiner Ansicht nach hier zu einer sogenannten Intervention veranlasst,
haben aber intellektuell angemessen und charakterlich sauber reagiert,
indem sie dies zur Diskussion stellten und sich dann teilweise auch mit
Susanne Dagens Stellungnahmen befassten, um sich ihre eigene Meinung
dazu zu bilden. Was die Charta 2017 betrifft, habe ich diese auch
unterschrieben, allerdings nicht als Erstunterzeichner, denn ich hätte
gern noch am ersten Entwurf mit herumgebastelt, und das ging mir dann zu
schnell.
Was hat dich dann aber letztlich doch daran überzeugt?
Ulrich Fröschle:
Genau das gleiche, was ich im Hinblick auf Patzelts Erfahrungen gesagt
habe: Autos anzünden, den Bücherstand des Antaios-Verlags auf der
Frankfurter Buchmesse demolieren, oder den Stand und die Auslagen der
Zeitschrift »Tumult« ebendort zu beschädigen, Gewalt gegen
weltanschauliche Gegner, das geht doch nicht, zumal nicht unter all den
zivilisierten Leuten auf der Buchmesse – sollte man meinen. Wenn dann
noch dazukommt, dass in fast allen Presserzeugnissen zu diesen
Buchmessevorfällen das Bild einer gegen Kubitschek pöbelnden Dumpfbacke
die Runde macht und diese als Rechtsradikaler ausgewiesen wird, kann es
doch nicht schwer für einen Intellektuellen sein, gegen solche Auswüchse
Stellung zu beziehen, oder? Dagegen – wie auch gegen das skandalöse
Verhalten der etablierten Führungsfiguren auf dieser Buchmesse – muss
man doch protestieren, egal ob nun Linke oder Rechte oder die Zeugen
Jehovas Objekt solcher Einschüchterungs- und Ausgrenzungsversuche sind.
Das geht einfach nicht, das ist auch eine Frage des Glaubwürdigkeit
unserer sonst so hochgehaltenen Werte, und da hatte die Susanne Dagen
vollkommen recht: Wenn wir jetzt nicht einschreiten, wie lange wollen
wir denn warten und worauf genau, bis wir es dann für angemessen halten,
unseren Einspruch einzulegen? Auch die Wahl des Titels – Charta 2017 –
trage ich voll mit; wir brauchen nicht auf noch dürftigere Zeiten, gar
einen neuen Sozialismus zu warten, um an Havel als Verteidiger von
persönlichen und politischen Freiheiten anknüpfen zu dürfen. Man darf
Anfängen wehren, auch wenn diese aus einer vermeintlich richtigen
Richtung kommen.Vielen Dank für das Gespräch! Prof. Dr. Ulrich Fröschle lehrt am Institut für Germanistik der TU Dresden. Er diente sechs Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr und absolvierte dort eine Ausbildung zum Truppenoffizier. In dieser Zeit entdeckte er sein Interesse für die Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger. Er arbeitete zunächst als Unternehmensberater, später studierte er Germanistik und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der TU Dresden und dissertierte zu dem Thema »Friedrich Georg Jünger und der radikale Geist. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit« (Thelem, Dresden 2008). Zur Zeit arbeitet er an dem Buch »Die Fremden und das Andere im Science-Fiction-Film«. Dresdner Kulturmagazin
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