Der Bundesinnenminister Horst Seehofer hat einen längeren Text über Staat und Religion in der Welt
(Ausgabe vom 23. August) veröffentlicht (oder veröffentlichen lassen).
Der ist aufschlußreich. Aufschlußreich wegen seiner Belanglosigkeit.
Das heißt, man kann den meisten Feststellungen Seehofers ohne Problem
zustimmen: der, daß der Bedeutungsverlust der Kirchen unaufhaltsam ist,
aber man sich von der Annahme fortschreitender Säkularisierung
verabschieden muß; der, daß der Wiederaufstieg des Islam zu der Einsicht
zwingt, welche Potenz dem Religiösen nach wie vor innewohnt; der, daß
sich durch diese Wahrnehmung irritiert oder bedroht zu fühlen, legitim
ist, aber nicht weiter führt; der, daß es auch nicht reicht, auf die
weltanschauliche Neutralität des Staates zu hoffen, man vielmehr die
eigene – Seehofer meint die christliche – religiöse Überlieferung
anerkennen und pflegen sollte.
Im übrigen bietet Seehofer jedem Geschmack etwas, wenn es um die
Referenzen geht, zitiert die Enzyklika Quadragesimo Anno wie Jürgen
Habermas und paraphrasiert auch das Böckenförde-Paradoxon: „Der
freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er
selbst nicht garantieren kann.“
Kontext nicht berücksichtigt
Ohne Zweifel hätten die Ausführungen Seehofers an Klarheit gewonnen,
wenn er den Kontext einbezogen hätte, in den Böckenförde seinen Satz
gestellt hat: „Das ist das große Wagnis, das er,“ gemeint ist der
freiheitliche, säkularisierte Staat, „um der Freiheit willen,
eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur
bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von
innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der
Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese
inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln
des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne
seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in
jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den
konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Das bedeutet nichts anderes, als daß der freiheitliche Staat auf
bewußter, letztlich im christlichen Glauben oder zumindest dem
christlichen Ethos gründender, Bürgerschaft und der relativen
Geschlossenheit der modernen Nation beruhte, für die der christliche
Gedanke der Brüderlichkeit auf das Politische übertragen wurde. Diese
beiden Fundamente seiner Existenz hat der freiheitliche Staat aber im
Namen von Selbstbestimmung und Rationalität immer weiter abgebaut.
Ein Prozeß, der allmählich in sein letztes Stadium eintritt, was
nicht nur den Eindruck zunehmender Desintegration unserer Gesellschaften
erklärt, sondern auch die wachsende Zahl der obrigkeitlichen Eingriffe
in das Privatleben, mit denen die Einzelnen zur Konformität erzogen oder
gezwungen werden sollen. Das alles im Namen einer vom Staat verordneten
Zivilreligion, deren Dogmen mit einer Erbitterung verteidigt werden,
die jedem Ketzerjäger der Vergangenheit Ehre gemacht hätte.
Der „freiheitliche Staat“
Böckenförde war vorsichtig genug, diese Entwicklungsmöglichkeit nur
anzudeuten, nämlich daß der Staat „auf säkularisierter Ebene … in jenen
Totalitätsanspruch“ zurückfallen könnte, „aus dem er in den
konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat“. So wie er auch zu
kaschieren wußte, daß von seinem Lehrer Carl Schmitt die Einsicht
übernommen war, daß der moderne Staat aus den „konfessionellen
Bürgerkriegen“ des 16. und 17. Jahrhunderts hervorging.
Allerdings handelte es sich dabei nicht – wie Böckenförde suggeriert –
um den „freiheitlichen“, sondern um den „Polizeistaat“, vulgo:
Absolutismus. Also jene radikale Zusammenfassung der Gewalt in einer
Hand, veranstaltet zu dem Zweck, den seit der Kirchenspaltung
andauernden Konflikt der Religionsparteien zu beenden, indem man einer
unter Kontrolle des Königs das Monopol verschaffte oder verschiedene zu
einem Nebeneinander zwang. Der „freiheitliche Staat“ war erst möglich,
als auf diesem Weg die Konflikte „neutralisiert“ werden konnten und sich
die Leidenschaften der Menschen anderem zuwandten.
Liberalismus vs. Islamismus
Das heißt der Liberalismus profitierte von einem ganz illiberalen
Erbe, war aber nicht im Stande, ein eigenes Ordnungskonzept zu
entwickeln. Ein Sachverhalt, der so lange zu verleugnen war, als die
Bestände es hergaben. Aber durch die aktuelle Konfrontation mit dem
Islamismus, der letzten gegen die westliche Moderne gerichteten
„Widerstandsbewegung“ (Ernst Nolte) wurde der Substanzverlust
unübersehbar. Die Versuche, das Problem durch Appeasement oder
Korruption des Gegners in den Griff zu bekommen, hatten bisher keinen
Erfolg und werden auf Grund von Demographie und Destabilisierung der
islamischen Welt auch in Zukunft keinen Erfolg haben.
Vor allem aber zeigt sich, daß der Liberalismus einer starken
kulturellen und mithin kultisch begründeten Identität nichts
entgegensetzen kann. Es ist deshalb durchaus denkbar, daß die Vagheit
und der resignative Ton in Seehofers Argumentation nur ein Hinweis
darauf ist, daß der Europäische Sonderweg in die Religionslosigkeit an
sein Ziel kommt oder sich Max Webers düstere Erwägung bewahrheitet, daß
nicht die Säkularisierung das letzte Wort behalte, sondern „am Ende
dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige
Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden“. Weißmann
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.