Herr Gauland, starten wir mit einer aussenpolitischen Standortbestimmung. Was halten Sie von US-Präsident Donald Trump?
Ganz falsch ist der Versuch der deutschen Medien, den
US-Präsidenten als Vollidioten darzustellen. Der Mann ist kein
Vollidiot. Er setzt amerikanische Interessen durch, wie er sie sieht,
und das macht er nicht mal ungeschickt. Ich erinnere mich an die Zeit,
als schon US-Präsident Lyndon Johnson von Bundeskanzler Ludwig Erhard
mehr Militärausgaben wollte. Es hat immer wieder die Kritik gegeben, die
Deutschen würden zu wenig für die Verteidigung tun. Durch diese
oberflächlich moralisierende Dauerkritik an Trump hat sich Deutschland
blockiert, seinen Zugang zu diesem Präsidenten erschwert. Alle denken in
die gleiche Richtung. Dieser Verzicht auf sachliche Analyse ist
schädlich.
Er sagte, Deutschland sei der «Sklave Russlands».
Man profitiere von günstigem Gas aus dem Osten, während die Amerikaner
die Verteidigungsausgaben bezahlen sollten. Alles falsch?
Das ist tatsächlich Quatsch. Es muss deutsches Interesse sein, eine sichere Versorgung durch russisches Erdgas zu haben.
Wie sehen Sie den Handelskrieg gegen China und die EU?
Wir sind noch im normalen nationalen Interessengerangel, was
für die Deutschen einigermassen unbegreiflich ist, weil man ihnen
eingeredet hat, es gebe keine nationalen Interessen mehr, schon gar
keine deutschen, höchstens europäische. Das sind Phrasen, die nur
überdecken, was es immer gab: nationale Interessen und ihre kluge oder
weniger kluge Durchsetzung.
Wie beurteilen Sie Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron?
Er macht genau dasselbe wie Trump, nur etwas eleganter.
Klassisch französisch eben. Man ersetzt die fehlende Stärke der
französischen Wirtschaft durch eine europäische Dimension, bläht sie
sozusagen auf. Das war schon die Uridee bei der Gründung der EU. Die
französische Interessenpolitik wurde seit dem Zweiten Weltkrieg über den
europäischen Resonanzboden gespielt. Wir Deutschen machten gerne mit,
weil wir so, moralisch erledigt nach der Hitler-Diktatur, als «Europäer»
wieder auf die politische Bühne zurückkehren konnten.
Ist Macron ein Schaumschläger?
Das kann ich nicht beurteilen. Aber der Erfolg gibt ihm zu
einem gewissen Grad recht. Er hat Reformen eingeleitet, an denen alle
vorher gescheitert sind. Für die Franzosen scheint er innenpolitisch ein
Gewinn zu sein. Aussenpolitisch muss man aufpassen, dass man seine
Politik nicht in einem gleichsam altruistischen europäischen
Wertehorizont sieht, sondern eben als eleganten Ausdruck französischer
Interessen.
Ungarns Premier Viktor Orbán?
Ungarn ist ein durch den Vertrag von Trianon in einer Weise
geschädigtes Land, wie es sich nicht einmal mit dem vergleichen lässt,
was der Versailler Vertrag mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg
machte. Ungarn hat rund zwei Drittel seines Staatsgebiets verloren. Es
gibt tiefe historische Verletzungen. Orbán stärkt den Nationalstolz der
Ungarn, indem er darauf rekurriert, dass die Ungarn einmal die
europäische Abwehrfront gegen den Islam waren. Orbán sagt den Europäern:
Ihr könnt gerne mehr Flüchtlinge aufnehmen, ich nehme sie nicht auf,
schon gar nicht auf Geheiss von Brüssel oder Berlin, denn wir wissen,
was Unterdrückung heisst. Das finde ich völlig richtig. Ob das, was er
sonst noch innenpolitisch macht, richtig ist, das kann ich nicht
beurteilen.
Sie loben Orbán, dabei war er 2015 ein
Hauptverursacher der deutschen Migrationsmisere, als er die in Budapest
gestrandeten Flüchtlinge einfach nach Deutschland abschob. Warum
kritisieren Sie ihn nicht dafür?
Weil ich ihn verstehen kann. Er konnte die Migranten nur
deshalb abschieben, weil Frau Merkel die Grenzkontrollen aufhob. Orbán
handelte im Interesse seines Landes, und ich kann ihm keinen Vorwurf
machen, dass er die Fehler der deutschen Politik ausnützte. Ich wehre
mich grundsätzlich dagegen, dass wir uns ständig in die Innenpolitik
anderer Länder einmischen. Wir sollten Ländern, die mit uns in der Nato
sind, mehr innenpolitische Freiräume gewähren.
Wie sehen Sie Putin?
Er macht russische Interessenpolitik, und er hat enorm viel
geleistet. Unter Vorgänger Jelzin bekamen die Rentner auf dem Land keine
Renten mehr. Jetzt funktioniert das wieder. Putin hat einige Dinge
gemacht, die dem alten russischen Traum einer europäischen Grossmacht
mindestens wieder Nahrung geben. Das ist, von ihm aus gesehen, eine
kluge Politik. Dass er die Krim zurückgeholt hat, was im Westen Stürme
der Entrüstung auslöst, das kann mich nicht berühren. Die Krim hat nie
zur Ukraine gehört, Katharina die Grosse, die Potemkinschen Dörfer, Sie
kennen das. Der besoffene Chruschtschow verschenkte seinerzeit die Krim
an die Ukraine, was ja sogar für die Sowjetunion eine Art Rechtsbruch
bedeutete. Russland ist eben immer ein Reich geblieben, und die alte
zaristische Tradition spielt noch eine grosse Rolle. Putin ist ein
Vertreter dieser dem Westen völlig fremden und von ihm zutiefst
abgelehnten Agenda, die wir gar nicht mehr richtig verstehen können.
Russland ist aus seiner Geschichte erklärbar, und da reiht sich Putin
sinnvoll ein in die Tradition russischer Grossmachtpolitik.
Geht von Putin eine konkrete Bedrohung aus?
Ob es objektiv eine Bedrohung gibt, weiss ich nicht.
Subjektiv allerdings kann ich mir vorstellen, dass es in den baltischen
Staaten ein Bedrohungsgefühl gibt. Ich glaube nicht, dass Putin zum
Beispiel Polen wieder erobern möchte. Ich weiss allerdings nicht,
inwieweit die russische Führungselite innerlich auf das Baltikum
verzichtet hat. Es gibt dort, besonders in Estland, grosse russische
Minderheiten. Ob Putin nun dieses Baltikum, dessen Völker
ausschlaggebend waren bei der Zerstörung der Sowjetunion, zurückhaben
will, da habe ich meine grossen Zweifel, aber ich kann die subjektive
Furcht in einigen baltischen Staaten verstehen.
Brexit, Grossbritannien: Was ist da die entscheidende Erkenntnis?
Dass die Briten die Kontrolle zurückhaben wollen darüber,
wer mit ihnen lebt, das kann ich nachvollziehen. Ob sie das erreichen,
was sie sich vorstellen, da habe ich meine Zweifel. Grossbritannien
alleine ist nicht mehr das Grossbritannien von Elizabeth I., das in die
Welt ausgreifen konnte. Die Vorteile, die sich die Briten durch ein
stärker imperiales Handeln mit Neuseeland, Australien und den USA
ausmalen, treten vielleicht ein, vielleicht auch nicht.
Ihr Eindruck von Theresa May?
Wenn ich mir die Konservative Partei in ihrer Zerrissenheit
vor Augen halte, dann macht sie es ganz ordentlich. Man nennt das
muddling through, durchwursteln.
Sie sind ein belesener und gebildeter Mann: An
welche Zeit erinnert Sie die Gegenwart? Kehren wir zurück in die
Machtbalance-Politik souveräner Nationalstaaten wie im 19. Jahrhundert?
Zwischen 1815 und 1914 beherrschte Europa die Welt. China
spielte keine Rolle. Das ist heute völlig anders. Aber es kehrt zurück
mit aller Vorsicht eine interessengeleitete Staatenpolitik, wie es sie
im 19. Jahrhundert gab. Die Phrase vom «regelbasierten
Multilateralismus» kann mir ja auch kein Mensch richtig erklären. Den
Glauben, dass Staaten keine Interessen haben, dass Staatenpolitik
überholt ist, den habe ich nie gehabt. Aber durch die Beseitigung der
Teilung der Welt in zwei festgefügte Machtblöcke entsteht nun, ohne dass
man das gleichsetzen könnte, eine neue multipolare Machtordnung, wie
sie von 1815 bis 1939 bestand. Und diese Machtordnung funktioniert nach
zum Teil anderen Regeln als die bipolare Welt.
Kürzlich hielten Sie eine Bundestagsrede, in der Sie
die Kanzlerin als Totalversagerin zum Rücktritt aufforderten. Fragen
wir mal anders: Was hat Frau Merkel richtig gemacht?
Wenn Sie es am Massstab deutschen Interesses messen, dann
hat sie sehr wenig richtig gemacht. Wenn Sie es am Massstab ihrer
persönlichen Machterhaltung messen, hat sie eine Menge richtig gemacht,
denn sie ist immer noch dran. Auch wenn sie die letzten Wahlen verloren
hat, hat sie sich immer wieder durch geschickte Wendungen, die ich zum
Teil völlig verfehlt finde, ihre Macht gesichert. So gesehen, ist sie
als Politikerin nicht wirklich gescheitert. Wenn ich mir anschaue, was
sie konkret gemacht hat, ist das für Deutschland allerdings ein
Scheitern. Und da rede ich jetzt nicht nur von der Migrationspolitik.
Nehmen Sie die Energiepolitik, diesen Irrsinn, der viel mehr kostet als
versprochen wurde. Oder schauen Sie sich die trostlose Bundeswehr an,
die Abschaffung der Wehrpflicht, die sogenannte Friedensdividende. Man
ist immer dem Falschen nachgerannt, ohne nach den Alternativen zu
fragen. Blättern wir weiter zurück. Da gab es eine Rede des damaligen
Ministers Wolfgang Schäuble: Deutschland werde niemals für die Schulden
anderer Staaten zahlen. Jetzt machen wir es ununterbrochen.
Frau Merkel hat Sie politisiert: ohne Merkel kein Gauland, keine AfD?
Der Bruchpunkt war für mich die Griechenland-Rettung und die
Schamlosigkeit, mit der frühere Versprechungen weggewischt wurden unter
der Überschrift «Wir müssen Europa retten». Das war damals der Moment,
da auch die innere Veränderung der CDU sichtbar wurde. Ich war im
sogenannten Berliner Kreis, einer Gruppe konservativer CDUler. Da gab es
vor fünf Jahren ein Treffen mit dem späteren Gesundheitsminister
Hermann Gröhe, der uns mitteilte: «Also bilden Sie sich nicht ein, dass
Sie noch irgendeine Chance bei uns haben. Gehen Sie in Ihre
Kreisverbände, arbeiten Sie dort. Dass Sie noch eine institutionelle
Rolle bei uns spielen, das ist vorbei.» Das war die Haltung, man wollte
diese konservative CDU gar nicht mehr: «Um Gottes willen keine
kontroversen Themen!», die würden nur die Wähler der anderen
mobilisieren.
Man hat Sie rausgeschmissen.
Richtig. Ich ging mit meinem Freund Konrad Adam aus dem
Konrad-Adenauer-Haus raus, das Essen war übrigens sauschlecht gewesen,
und ich sagte zu ihm: «Da ist nichts mehr, das war’s.» Und Adam gab mir
recht. «Es ist vorbei.»
Das war der Urknall der AfD.
Ja, aber alleine hätte ich das nie geschafft. Als Nächstes
rief mich Konrad Adam an, er habe einen jungen Professor kennengelernt,
Bernd Lucke. Und dieser Lucke hatte eine enorme Energie. Er war der
Managertyp, der ich so gar nicht bin. Wir trafen uns in Neu-Isenburg, da
habe ich zum ersten Mal gedacht, «es muss eine Basis in der Bevölkerung
für eine neue Partei geben.» Denn dieser Bürgersaal war übervoll. Die
Leute waren zum Teil aus dem Ruhrgebiet gekommen.
Mit welchem Motiv sind Sie in die AfD eingestiegen?
Man sagt Ihnen nach, es sei die gekränkte Eitelkeit gewesen nach diesem
demütigenden Quasirausschmiss. Sie wollten es Merkel heimzahlen.
Dieses Motiv gab es überhaupt nicht. Ich kann der CDU doch
überhaupt nichts vorwerfen. Ich habe eine sehr gute Pension, war
Staatssekretär, ich habe mich nicht im Streit von diesem Amt getrennt.
Ich hatte nichts gegen die CDU oder gegen Frau Merkel, ich habe die
Politik für falsch gehalten.
Wie kamen Sie auf den Namen «Alternative für Deutschland»?
Anders als viele auch bei uns war ich nie ein Anhänger von
Margaret Thatcher. Ihren Satz «There is no alternative» (Tina), fand ich
immer eine Zumutung. Und dann kam die Merkel und sagte, zu ihrer
Politik gebe es keine Alternative. So kam dieser Begriff ins Spiel.
Bleiben wir bei Frau Merkel. Hat sie es wirklich so
schlecht gemacht? Es stimmt, sie führte die CDU nach links, aber warum?
Weil sie mit einem Rechtskurs abgewählt worden wäre und dann die Linken
an die Macht gekommen wären. Dieses grössere Übel verhinderte sie durch
eine gewisse Linksverschiebung der CDU.
Das wird gesagt, aber ist es auch richtig? Ich bezweifle es.
Nehmen Sie nur die Energiewende: Eigentlich gab es die schon, nur
vernünftiger. Was Gerhard Schröder und Jürgen Trittin ausgehandelt
hatten, war besser. Warum Merkel plötzlich alles auf den Kopf stellte,
habe ich nie verstanden. In einem aber lag sie richtig, das gebe ich
gerne zu: Merkel erkannte, dass die Republik nach 1968 nach links
gerutscht war. Diesem Zeitgeist trug sie Rechnung. Nur habe ich nie
begriffen, warum sie auf eine aktive Führung des Landes verzichtete und
ihre Partei auf eine Weise ideologisch entkernte, so dass sie eigentlich
zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Was sie machte, war überschiessend,
keinesfalls notwendig.
Sie erwähnten die Griechenland-Rettung. Auch hier:
Ein deutscher Regierungschef muss doch alles unternehmen, um ein
Auseinanderbrechen des Euro und der EU zu verhindern. Merkel wollte
dieses Risiko nicht eingehen. Ist doch nachvollziehbar.
Das sehe ich anders. Griechenland hat die Wirtschaftsdaten
gefälscht. Die Griechen haben sich den Beitritt mit illegalen Methoden
erschlichen. Selbst ein Ureuropäer wie Wolfgang Schäuble sagte, der Euro
sterbe nicht an den Griechen, man solle sie rauslassen. Ihre These ist
nur dann richtig, wenn damals ernsthaft geglaubt worden wäre, dass ein
Austritt der Griechen den Euro oder gar die EU zerstört hätte. Genau das
aber war nicht der Fall. Man hat stattdessen die Regeln gebrochen.
Migrationspolitik: Hätten die Deutschen denn im
Sommer 2015 mit Schäferhunden und Strumtruppen die europäischen Grenzen
notfalls gewaltsam sichern sollen. Das zu fordern, ist vor dem
Hintergrund der verheerenden Geschichte – zwei Weltkriege, Völkermord,
Holocaust – schlicht weltfremd.
Nein, überhaupt nicht. Auch hier hat sie sich angezogen, was
kein Mensch gefordert hat. Die Flüchtlinge saßen im Budapester Bahnhof
fest. Die Kanzlerin musste sie doch nicht haben wollen. Die bayerische
Polizei wäre bereitgestanden. Niemand hätte den Deutschen gesagt, sie
seien wieder Nazis, nur weil sie ihre Grenzen sichern.
Merkel nahm die Flüchtlinge auf, um einen Teil der
historischen deutschen Schuld zu tilgen. Der einstige Völkermörder als
humanitärer Weltmeister.
Ich weiss nicht, ob Merkel darüber nachgedacht hat. Ich
würde es für völlig falsch halten. Niemand sagt heute, was für ein gutes
Land Deutschland sei. Und ich halte jetzt mal in aller Deutlichkeit
fest: Diesen Auschwitz-Komplex können Sie nicht abstreifen, niemals, da
können Sie machen, was Sie wollen.
Redet Frau Merkel eigentlich mit Ihnen?
Nein. Das interessiert sie nicht; ich würde jetzt auch den Sinn selber nicht mehr sehen.
Hat sich das Meinungsklima dank der AfD in Deutschland erweitert oder verengt?
Beides. Es wird offener geredet und diskutiert. Das haben
wir hinbekommen. Gleichzeitig löste das aber einen unglaublichen Hass
bei vielen aus, es gab eine Verhärtung. Im Bundestag beantworten
SPD-Abgeordnete manchmal unsere Zwischenfragen nicht, mit der
Begründung, Rechtsradikalen gebe man keine Antwort. Das zeigt deutlich,
wie sich das Klima verändert hat: Wir sind die Guten, und das dort, die
AfD, das sind die Verbrecher, das ist das Gesindel, das nicht da
reingehört.
Was heisst das für die Mitgliederwerbung?
Das ist inzwischen ein echtes Problem. Es ist schon ein Problem, Hotelzimmer zu finden.
Aber in den Umfragen sind Sie im Allzeithoch.
Wir sollen es nicht übertreiben, aber wir sind bei 15 Prozent.
Sie sind gleichauf mit der Traditionspartei SPD. Werden Sie auch überschätzt?
Es ist vor allem ein massiver Verfall der SPD. Solange sich
die SPD nicht klar wird, wen sie eigentlich vertritt, wird das immer
schlimmer werden. Sie haben auf der einen Seite die Funktionäre, die
diese ganze Willkommenspolitik mitgemacht haben, und sie haben auf der
anderen Seite die Menschen, die die SPD mal vertreten hat, die
Verkäuferin bei Aldi oder den Bandarbeiter bei Ford. Die sind jetzt
grossenteils bei uns. Die SPD verliert, weil sie die Menschen, die wenig
Geld haben, nicht mehr vertritt.
Was ist die AfD eigentlich? Partei, Bewegung, Sammelsurium, «gäriger Haufen», wie Sie einmal sagten?
Ich bleibe beim gärigen Haufen. Die Partei ist zutiefst
demokratisch, leicht anarchistisch mit einer tiefen Abneigung gegen
straffe Führung. Frühere Führungen sind daran gescheitert, dass Einzelne
alleine ganz oben stehen wollten. Bernd Lucke wurde sofort abgewählt.
Frauke Petry wollte allein Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin sein.
Die Zusammenarbeit mit mir lehnte sie ab. Diesen Alleingang wollte die
Partei nicht.
Wie stabil ist die heutige Führung?
Alice Weidel, Jörg Meuthen und ich, wir verstehen uns sehr
gut. Es funktioniert. Die shakespearschen Dramen sind vorbei, auch wenn
es zuletzt Turbulenzen bei der AfD-Stiftung gab. Doch auch die haben wir
gemeistert.
Was sind die grössten Erfolge, was die grössten Misserfolge der AfD?
Die grössten Erfolge sind, dass wir im Oktober praktisch in
allen Parlamenten vertreten, dass wir zweistellig stabil angekommen sind
in der politischen Landschaft und dass es uns gelungen ist, über viele
Häutungen hinweg einen stabilen Markenkern in die Politik zu tragen. Die
Fragen, die nicht mehr diskutiert werden durften, die werden jetzt
diskutiert, zwar mit Zorn, mit Hass, aber es ist wieder möglich,
Grundsatzfragen, die in Deutschland angeblich für alle Zeiten gelöst
waren, anzusprechen. Das ist die grösste Leistung der AfD.
Und die Misserfolge?
Leider gehen unsere Führungswechsel immer wieder einher mit
Verlusten, mit dem Versuch, Leute auszuschliessen. Frauke Petry musste
sich öffentlich von uns trennen, ebenso Lucke. Wir sind noch nicht in
der Lage, Führungswechsel normal demokratisch zu vollziehen, sondern sie
gehen immer mit Aufwallungen einher.
Reden wir über Björn Höcke, diese Reizfigur, diesen
Provokateur aus Thüringen, der immer wieder Kontroversen auslöst und in
den Medien als verkappter Nazi angeprangert wird. Sie kennen und
verteidigen ihn. Was hat es mit Höcke auf sich?
Höcke ist zum einen ein sehr kluger, gebildeter Mann, mit
dem Sie sehr gut über historische Dinge diskutieren können. Er hat für
viele Leute in der Partei, aber nicht für die Mehrheit etwas
Charismatisches. Das heisst: Er erreicht Menschen über Bauch und Seele,
die ich nicht erreiche . . .
. . . die Sie erreichen wollen?
Wenn ich Reden halte, dann muss ich an den Kopf appellieren.
Ich bin nicht einer, der von sich aus Charisma hat. Höcke hat das. Und
das führt aber auf der anderen Seite dazu, dass er Bewunderer hat, die
ihn so bewundern, dass mir das manchmal zu viel wäre. Das löst dann aber
auch Widerstand aus bei Leuten, die ihn für den leibhaftigen
Gottseibeiuns halten. Für die einen Ekstase, für die anderen der Teufel
in Menschengestalt. Beides ist töricht und ergibt dann ein
unausgewogenes Bild. Wenn er vernünftig redet, ist er ein grosser Gewinn
für die Partei, das grosse Zugpferd im Osten. Er hat sich in letzter
Zeit sehr zurückgehalten, da habe ich mehr verbockt. Man kann ihm gar
nichts vorwerfen. Deshalb ist es mir auch gelungen, mit der
Unterstützung vieler Leute, das Parteiausschlussverfahren gegen ihn
aufzuheben. Der Vorstand war einstimmig dafür.
Kürzlich sagte Höcke in einer grossen Rede: «Die
Deutschen entscheiden sich, nicht mehr Schaf, sondern Wolf zu sein.» Das
ist der Wortgebrauch eines Leitartikels von Nazi-Propagandaleiter
Goebbels aus dem Jahr 1928, als er von den Deutschen als «Wolf» sprach,
der in eine «Schafherde» einbricht. Darf man einem Mann, der solche
Worte verwendet, politische Verantwortung übertragen?
Das sind Sprüche für seine Fans, denen er sich als
unerschrockener, verlässlicher Kämpfer präsentiert. Mehr steckt nicht
dahinter. Höcke gebraucht Metaphern und redet manchmal über Themen, wo
auch ich sagen würde: «Das hätten wir jetzt lieber gelassen.» Er ist ein
deutscher Romantiker. Er liebt sein Deutschland, heiss und innig, macht
sich auch ein Deutschland zurecht, das es vermutlich schon lange nicht
mehr gibt. Ja, er kann sich sehr in den Mittelpunkt stellen, ist aber
sehr anständig. Niemand wird von hinten in die Brust geschossen. Mit den
Formulierungen haben Sie recht.
Man wirft Ihnen vor, Sie tolerierten das nur, weil es Wählerstimmen bringt. Wo ziehen Sie die Linie des Erträglichen?
Die Frage stellt sich tatsächlich, aber die Linie wurde eben
nie überschritten. Was ich in der Partei gar nicht mag: dass immer
wegen irgendeines falschen Worts sofort nach Parteiausschluss gerufen
wird. Da bin ich grosszügiger. Wir hatten kürzlich einen Fall, als
Beatrix von Storch bei einer Messerattacke irrtümlich die Muslime
beschuldigte. Sie entschuldigte sich aber und zog den Eintrag zurück.
Sie sollte abgemahnt werden. Und obwohl Frau von Storch nicht meine
Freundin ist, habe ich gesagt: «Hört auf, wir wollen niemand abmahnen,
der sich von sich aus entschuldigt hat.» So denke ich auch bei Höcke.
Vor wenigen Wochen machten Sie selber den Höcke, als
Sie die zwölf Jahre der Nazi-Diktatur als «Vogelschiss» bezeichneten.
Sechs Millionen tote Juden, sechzig Millionen Kriegstote und ein
Verbrecherregime, das seinesgleichen sucht – alles nur ein lästiger
«Vogelschiss», den man mit einer Handbewegung abwischt? Als ich das las,
dachte ich: «Welcher Vogel hat denn jetzt Gauland ins Hirn . . . ?» Sie
verstehen, was ich meine.
Ich habe das wirklich nicht als Bagatellisierung verstanden,
und ich hätte nie gedacht, dass das so aufgefasst wird, denn wenn Sie
die ganze Rede lesen, sehen Sie, dass ich nichts verharmlost habe.
Bilder in der Politik sind wichtig, die bleiben hängen. Was wollten Sie mit dieser Rede zum Ausdruck bringen?
Ich wollte den Leuten sagen, dass es eine grosse
deutschjüdische Tradition gibt, die wir verteidigen müssen. Gerade in
diesem Zusammenhang war der «Vogelschiss» für mich eine Bezeichnung für
tiefe Verachtung. Keineswegs eine Bagatellisierung. Und ehrlich gesagt,
da ist dann auch ein Bohei darum gemacht worden. Ich habe mir mal
überlegt: Mein Vater ist 1933 von den Nazis entlassen worden, weil er
einen sozialdemokratischen Beamten nach dem 30. Januar noch befördert
hatte. Wenn mein Vater 1933 «Vogelschiss» zu den Nazis gesagt hätte,
wäre er ins KZ gekommen. 1944 wurde er verhört, weil er einige Offiziere
im Umfeld des Hitlerattentats persönlich kannte. Hätte er da den Nazis
«Vogelschiss» gesagt, hätten sie ihn an die Wand gestellt. Und heute
soll dieses Wort ein Extremfall der Bagatellisierung sein? Da kann ich
nur sagen: «Die haben sie nicht mehr alle.» Als mir jemand sagte, einen
Vogelschiss könne man so leicht abwischen, habe ich sofort zugegeben:
«Okay, ja, wenn man es so sieht, war es ein Fehler.»
In Ihrem Buch «Anleitung zum Konservativsein» haben
Sie geschrieben, konservative Parteien müssten aufpassen, dass sie nicht
von Rechtsradikalen übernommen werden. Das sei schon in der Hitlerzeit
das grosse Drama gewesen. Heute kämpfen Sie selber mit diesem Problem.
Wie viel Rechtsextreme gibt es in der AfD? Sind Sie selber einer
geworden, ohne es zu merken?
Es gibt keine Rechtsextremen in der Partei, und ich bin sicher selber keiner.
Definieren Sie Rechtsextremismus.
Rechtsextrem heisst Führerprinzip, also Ablehnung aller
demokratischen Wahlen und Ablehnung unserer staatlichen Ordnung und des
Grundgesetzes. In allen Punkten können Sie der AfD gar keine Vorwürfe
machen. Führerprinzip: Das gibt’s gerade bei uns überhaupt nicht. Es
gibt aber den Versuch, uns in die rechtsextreme Ecke zu drängen, um uns
mundtot zu machen.
Die Leute um Höcke schwelgen in der Frage: Was ist
deutsch? Da wird dann mit irgendwelchen völkischen Theorien jongliert.
Was bringt dieses Germanengeraune? Seit Hunderten von Jahren versuchen
die Deutschen zu definieren, was deutsch ist. Geschafft hat es noch
niemand. Die Deutschen waren immer schon viel zu vielfältig, um sich auf
eine einengende Definition zu einigen.
Da haben Sie recht. Ich glaube auch nicht, dass es zu definieren ist.
Friedrich der Grosse nahm viele Ausländer mit
Handkuss in Preussen auf, Hugenotten, Juden, Schweizer, Hauptsache, sie
arbeiteten nicht für den Feind. Ist nicht genau diese Offenheit
«deutsch»? Ein offener Patriotismus der Leistung?
Völlig einverstanden. Nur, es gibt eben eine neue deutsche
Geschichte der Zuwanderung. Früher kamen die «Fremden» aus Kulturen, die
uns zumindest ähnlich waren. Sie waren alle irgendwie Europäer und von
daher sehr viel leichter integrierbar. Das stimmt eben heute nicht mehr.
Für mich ist die kulturelle Verwandtschaft wichtig. Man sollte nicht
massenweise Menschen aus ganz fremden Kulturen importieren. Ein Höcke
würde da vielleicht weitergehen. Für ihn ist wichtig, dass einer in
Deutschland geboren ist. Diese biologischen Wurzeln des Deutschtums sind
für mich nicht wichtig.
Man sagt Ihnen nach, Sie seien ein Bewunderer von Bismarck. Ist Bismarck für Sie ein Leitmodell fürs 21. Jahrhundert?
Manche in unserer Partei nehmen das Bismarck-Deutschland als
Referenzmodell. Ich wäre da sehr vorsichtig, weil die Innenpolitik
Bismarcks in vielem falsch war. In der Aussenpolitik ist Bismarck
durchaus inspirierend. Keinen vor den Kopf stossen, klug alle
zusammenhalten – das war seine Aussenpolitik nach 1870. Man darf dem
nicht sklavisch folgen, aber ein aufgeklärtes nationales Interesse, kein
«Deutschland, Deutschland über alles»: Das ist nachahmenswert.
In Deutschland prallen heute, hoch interessant, zwei
Identitäten aufeinander: Nach dem Krieg war Europa für die Deutschen
der Vaterlandsersatz, die sichere politische Rückfallposition, im
Zweifel für Europa. Seit einigen Jahren produziert Europa schwere
Krisen. Der Aufstieg Ihrer Partei ist ein Symptom für ein wachsendes
Unbehagen gegenüber der EU in Deutschland. Die AfD steht für den Wunsch
nach mehr Nationalstaat. Gleichzeitig löst für viele Deutsche der
Nationalstaat alte, gutbegründete Ängste aus. Wie will die AfD dieses
Dilemma überwinden? Was ist Ihre Alternative zum kriselnden
EU-Deutschland?
Richtig, nach dem Krieg war den Deutschen moralisch das
Rückgrat gebrochen. Europa, das war das Ersatzvaterland. Auch ich war
einmal sehr Europa-begeistert als junger Mann. Nur muss ich heute zur
Kenntnis nehmen: Den europäischen Nationalstaat will kein europäisches
Volk. Das Aufgeben meiner eigenen nationalen Identität zugunsten eines
Konstruktes, das niemals Realität werden wird, weil die anderen dieses
Konstrukt nicht wollen, ist kein sinnvoller Weg. Margaret Thatcher
sagte: «Nur weil die Deutschen ihr Land nicht mehr lieben, müssen sie
nicht allen anderen austreiben, ihr Land zu lieben.» Das Bündnis der
Nationalstaaten ist in Europa das gelebte Modell, und alle Versuche von
Herrn Juncker, eine Art europäische Überidentität zu schaffen, sind
schon längst gescheitert.
Was also schwebt Ihnen konkret vor?
Die Europäer müssen selbstverständlich zusammenarbeiten,
denn sie sind schwächer geworden im Weltmassstab. Deshalb plädiere ich
für eine vernünftige Zusammenarbeit auf den Gebieten, auf denen wir es
dringend brauchen. Es müssen dort auch nicht immer alle mitmachen. Ich
will keine Verfestigung in einer falschen Staatsidee. Es gibt keine
europäische Öffentlichkeit, keinen europäischen Demos.
Geht es der AfD um die Rückgewinnung der
vollständigen nationalen Souveränität Deutschlands? Oder wollen Sie die
EU mit klugen Reformen verbessern?
Da würden Sie verschiedene Antworten aus der Partei hören.
Es geht um die Rückgewinnung staatlicher Souveränität, aber nur dort, wo
die Vergemeinschaftung eine Katastrophe ist, Stichwort Währung,
Stichwort Grenzen. Auch die Schnapsidee, eine europäische
Staatsanwaltschaft einzuführen, bekämpfen wir. Daneben soll es aber eine
reissfeste Zusammenarbeit geben. Der gemeinsame Markt ist eine gute
Idee. In der AfD gibt es Stimmen, die da rauswollen, die auch aus der
Nato rauswollen. Ich glaube, der gemeinsame Markt hat uns genützt. Aber
die Überhöhung des gemeinsamen Marktes zur politischen Währungsunion war
falsch. Ich möchte zurück zu den alten EWG-Positionen. Ein
Nato-Austritt wäre völlig falsch. Das würde bei unseren Nachbarn Fragen
aufwerfen, die wir weder beantworten können noch wollen. EU: ja, aber
kein Einheitsbrei.
Personenfreizügigkeit innerhalb der EU, ja oder nein?
Ja. Wo es Missbräuche gibt, zum Beispiel die Überweisung von
deutschem Kindergeld nach Rumänien, muss man dies beseitigen.
Verändern, aber nicht alles zumachen.
Kommen wir zu Ihnen. Sie waren als junger CDU-Mann auf dem progressiven Flügel. Was ist seither mit Ihnen passiert?
Nichts. Früher, in den siebziger Jahren, war ich der enge
Mitarbeiter des CDU-Oberbürgermeisters in Frankfurt, einer damals sehr
links geprägten Stadt. Es gab viele Sozialdemokraten in führenden
Stellungen, vor allem in der Kultur. Ich riet ab, auf Konfrontation zu
gehen. Nicht um mich anzupassen, aber um unsere Ziele zu erreichen. Das
war eine ganz andere Aufgabe als heute die Oppositionspolitik der AfD.
Zwei interessante, äusserst gegensätzliche Figuren
prägen Ihr Denken, der konservative britische Philosoph Edmund Burke und
Charles-Maurice Talleyrand, der wendige Franzosen-Politiker aus der
napoleonischen Zeit. Erklären Sie.
Talleyrand steht für mich für eine äusserst kluge Politik
der Staatsräson. Ihm wird ja vorgeworfen, er habe mit jedem Regime
paktiert, aber er hat eben nur so weit paktiert, wie das jeweilige
Regime dem nationalen Interesse diente. Als Talleyrand, damals
Aussenminister Napoleons, sah, dass der Kaiser ein europäisches Reich
schaffen wollte, war das für ihn Grössenwahn, nicht mehr französisches
Interesse. Er verriet ihn und fädelte mit dem Zaren Napoleons Sturz ein.
Talleyrands Leitstern war die Staatsräson.
Edmund Burke?
Er war kein so kluger Politiker, aber er steht für mich für eine kluge Interpretation, was heute konservativ ist.
Was ist das Wesentliche?
Ein Wandel, der aber nicht begriffen wird als etwas, was um
jeden Preis sein muss. Man schaut ununterbrochen: Was geht nicht mehr,
was müssen wir anpassen? Darin steckt auch ein skeptisches Menschenbild.
Burke war nie der Meinung, dass alle Menschen gut seien, er war auch
nicht der Meinung, dass alle schlecht seien. Er fand nur, dass man die
Institutionen, die man hat, nicht einfach wegrasieren soll, um alles auf
einem weissen Blatt Papier neu aufzustellen. Er forderte das, was man
hat, vernünftig weiterzuentwickeln. Er sah früh, dass aus der
Französischen Revolution mit ebendieser Tabula-rasa-Politik die Diktatur
hervorgehen würde, die dann mit Napoleon auch kam.
Wer spricht Sie mehr an?
Talleyrand ist unübersichtlicher, Burke ist klarer. Als
Figur fasziniert mich Talleyrand mehr mit seinen Wandlungen. Burke hat
immer auf der richtigen Seite gestanden. Er war ein sehr moralischer
Mensch, das war Talleyrand überhaupt nicht. Er aber ist die
interessantere Figur, weil er in einer sehr unübersichtlichen Zeit
anhand kluger Maximen die richtigen Entscheidungen getroffen hat.
Kann man die Deutschen eigentlich mit ihrer Geschichte, mit sich selbst versöhnen?
Eine Versöhnung mit den furchtbaren zwölf Jahren schaffen
Sie nicht. Sie können versuchen, zu erklären, wie es dazu gekommen ist.
Ich sehe keinen Ansatz für eine Versöhnung. Sechs Millionen Juden
umzubringen, das kriegen Sie nicht mehr von der Haut gekratzt. Das ist
so furchtbar, und, klar, je mehr sich das historisiert, mag es schwächer
werden. Aber wir stehen immer wieder vor der gleichen Frage: Wie konnte
1933 jemand ans Ruder kommen, den wir unter normalen Umständen als
absoluten Schwerverbrecher wegsperren?
Wie lautet Ihre Erklärung?
Das ist nicht so schwierig. Die Niederlage im Ersten
Weltkrieg ist vom deutschen Bürgertum nie verkraftet worden. Die haben
sich dann geflüchtet ins Dolchstossmärchen. Aber es war eben ein
Märchen, denn der angebliche Dolchstoss kam erst nach dem Entscheid der
Heeresleitung, die weisse Fahne zu schwenken. Es war dann ein
Riesenfehler – aber ich mache niemandem einen Vorwurf –, die Republik
einzuführen, weil Deutschland im Bürgertum damals noch monarchistisch
gesinnt war. Der Kaiser hatte verspielt, der Kronprinz auch. Ich hätte
mir vorstellen können, dass unter dem vernünftigen Prinz Max von Baden
als Reichsverweser der Kaiserenkel eine gute Rolle hätte spielen können.
Das wurde versäumt. So stiess ein Bürgertum, das die Niederlage nicht
verkraftet hatte, auf eine Politik, die mit dem, was war, etwas anfangen
musste. Ich habe grosse Achtung vor den damaligen demokratischen
Politikern und Staatsmännern, wie Rathenau und Stresemann, weil sie eine
realistische bismarcksche Politik unter dem Gesetz des verlorenen
Krieges versucht haben. Vielleicht wäre es gutgegangen, wenn wir keine
Wirtschaftskrise gehabt hätten. In der Wirtschaftskrise war Deutschland
mental nicht mehr widerstandsfähig. Und natürlich wusste 1933 niemand,
dass Hitler sechs Millionen Juden umbringen wird. Der Mann ist doch
nicht gewählt worden wegen seiner Verbrechen, sondern weil die Leute
fälschlicherweise, zum Teil im Elend, glaubten: Wenn einer noch etwas
machen kann, dann vielleicht er.
Sie sind einer der am meisten angefeindeten Politiker Deutschlands. Wie gehen Sie damit um?
Nun ja, da gewöhnt man sich dran. Ich habe einen Grossteil
meiner Familie verloren, weil die sich mit mir nicht mehr sehen lassen
würden. Und ich habe auch viele Freunde verloren, Gesprächspartner.
Meine Tochter, evangelische Theologin, eher links, ist ganz gegen meine
Politik, aber wir haben immerhin noch Kontakt, gehen gelegentlich auf
Reisen.
Wie motivieren Sie sich?
Mich erbittert nur die Gesprächsverweigerung. Als ich 1977
nach Frankfurt kam, gab’s Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit. Ich
hatte bei meiner Anstellung zur Bedingung gemacht, dass man mich auch
mit den Linken reden lasse. Ich wollte nicht, dass man mir dies
verbieten würde. Auf bürgerlicher Seite waren die Vorbehalte enorm. Die
Linken wollten damals die Welt umstürzen. Der Stabschef von Fischer war
bei Pol Pot, das waren die schlimmsten Leute, aber ich habe immer mit
denen geredet, und ich habe gerne mit denen geredet. Und ausgerechnet
die kommen jetzt zu mir und sagen mir: «Mit Ihnen, mit dir können wir
nicht reden.» Da sagt man sich: «Bei so viel Unvernunft ist halt nichts
mehr zu machen.»
Was ist in diesem Moment Ihr wichtigstes politisches Anliegen?
Dass sich Deutschland nicht so verändert, wie das Frau
Merkel offensichtlich vorhat. So wie sie die schwarzrotgoldene Fahne in
die Ecke geschmissen hat, so denkt sie über dieses Land, und das
entsprechende Handeln wollen wir ihr so schwer wie möglich machen. Roger Köppel
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