Rund 150 vor allem englischsprachige Wissenschaftler, Künstler, Journalisten haben in der US-Zeitschrift Harper’s Magazine
einen offenen Brief über „Gerechtigkeit und offene Debatte“
veröffentlicht. Darunter sind internationale Schwergewichte wie die
Schriftsteller Margaret Atwood, Louis Begley, Salman Rushdie, die
Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling, der Politologe Francis Fukuyama und
die Linguisten Noam Chomsky und Steven Pinker.
Sie prangern das stickige Debattenklima, die Praxis „öffentlicher
Beschämung und Ausgrenzung“ von Meinungsdissidenten an sowie „die
Tendenz, komplexe politische Fragen in einer täuschenden moralischen
Gewißheit aufzulösen“. Sie konstatieren eine Melange aus
Konformitätsdruck, Zensur, Selbstzensur und purer Existenzangst.
Sie beschreiben die Praxis der „Cancel Culture“, des systematischen
Boykotts unliebsamer Personen mit dem Ziel ihrer Annullierung aus dem
öffentlichen Leben. Man vertreibt sie von Lehrstühlen, vom Sendeplatz,
aus Zeitungen, Verlagen, aus sozialen Netzwerken, durchaus vergleichbar
mit den „Säuberungen“ in ehedem kommunistischen Ländern. Die Methode,
die soziale, psychische und physische Existenz des Andersdenkenden in
einen Kriegsschauplatz zu verwandeln, anstatt sich mit seinen Argumenten
auseinanderzusetzen, ist auch in Deutschland längst zur gängigen Übung
geworden.
Bemerkenswert ist der Brief aber auch deshalb, weil die Unterzeichner
vor dem Zeitgeist, dem diese Praxis entspringt, einen Kniefall machen.
Indirekt zwar, aber deutlich identifizieren sie sich mit den Intentionen
der „Black Lives Matter“-Bewegung und distanzieren sich von den
weltweiten „Kräften des Illiberalismus“, die „mit Donald Trump einen
mächtigen Verbündeten (haben), der eine echte Bedrohung für die
Demokratie darstellt“.
Den Fanatikern wird bedeutet, daß sie auf derselben Seite stünden und
die „Cancel Culture“ in ihrem Fall die Falschen treffe. Die Initiatoren
haben strikt darauf geachtet, daß nur Linke und Liberale, aber keine
Konservativen oder Rechten den Brief unterschreiben, obwohl sie von der
Ausgrenzung zuerst und am meisten betroffen sind. Genutzt haben die
Distanzierungs- und Unterwerfungsgesten ihnen nicht. Das Kesseltreiben,
das gegen sie einsetzte, hat bereits zu ersten Absetzbewegungen geführt;
zwei Unterzeichner haben ihre Unterschrift schon zurückgezogen.
Der Brief ist widerständig und zugleich ein Dokument der Furcht und
Inkonsequenz. Die Autoren ignorieren, daß die jahrelange Anhäufung jener
widerwärtigen Quantitäten, die sie aufzählen, längst in eine neue
Qualität umgeschlagen ist. Die liberale Gesellschaft, die sie
beschwören, ist heute eine Untote, die Monster gebiert. Um deren
Verhalten und Denkweise zu verstehen, muß man nur die Schriften,
Prognosen und Analysen, die in den 20er, 30er und 40er Jahren über die
Massengesellschaft, den Massenwahn und totalitäre Verirrungen verfaßt
wurden, als aktuelle Studien über die Gegenwart lesen.
Karl Jaspers sah 1931 ein „existentielles Plebejertum“ gegen das
„Selbstsein“ wirken: Die Menschen der Massengesellschaft hätten sich
mehrheitlich damit abgefunden, als Objekte der selbstgeschaffenen
Apparate – der Institutionen, Parteien, Medien, des Sozialstaats – zu
existieren und sich mit der Auslöschung der Persönlichkeit und des
selbständigen Denkens einverstanden erklärt.
Parallel zu dieser Rückabwicklung einer ganzen kulturellen
Entwicklung träten quasi-religiöse, absolutistische Instinkte in den
Vordergrund. Seine Schülerin Hannah Arendt spitzte das zu einer
Charakterisierung des Massenmobs zu, der nicht differenzieren und
diskutieren wolle, sondern nur die Wahl zwischen „Hosianna!“ oder
„Kreuzige ihn!“ kenne und sich schlagartig zum Lynchmob formiere.
Mit dem Dritten Reich, so die Große Erzählung unserer Zeit, hätte
diese Entwicklung ihre schlimmstmögliche Zuspitzung und mit dessen
Niederlage 1945 auch ihre Läuterung erfahren. Mit dem Sieg der liberalen
Mächte des Westens hätten die fanatischen Masseninstinkte eine flexible
und dauerhafte Einhegung erfahren. Der Zusammenbruch des Kommunismus
1989 schien diese Darstellung zu besiegeln. Damals präsentierte Francis
Fukuyama die These vom „Ende der Geschichte“, das gleichbedeutend war
mit dem weltweiten Sieg der offenen Gesellschaft.
Doch die Vision einer Welt ohne Grenzen, der freien Warenströme, der
globalen Menschenrechte, in der die Staaten nur noch
durchrationalisierte Verwaltungseinheiten der Neuen Weltordnung sein
sollten, setzte eine nivellierende und autoritäre Dynamik frei, die den
Fanatismus aus seiner Einhegung entließ. Mit dem Ergebnis, daß er jetzt
als moralisches Jakobinertum die Gesellschaft inklusive der Liberalen
vor sich hertreibt.
Es ist ein bitterer Treppenwitz, wenn der mitunterzeichnende
Politikwissenschaftler Yascha Mounk, der kürzlich noch verlangte, die
Kritiker der multikulturellen Transformation Europas „richtig zu
bestrafen“, sich jetzt von einer „Kultur der Angst“ umstellt sieht.
Es geht nicht nur um den Mob auf der Straße und im Internet. Eine
Armada halbgebildeter sogenannter Experten für irgendwas, Journalisten
und Karrierepolitiker hält die Schaltstellen der öffentlichen
Kommunikation besetzt und verschmilzt mit der Staatsmacht.
Die Simplifizierung, Infantilisierung und Sentimentalisierung der
politischen, medialen und sogar akademischen Diskurse zeigt, daß die
oberen Etagen von Staat und Gesellschaft ebenfalls von der Mentalität
des Massenmobs beherrscht werden. Begriffe wie „Rechtsstaat“ oder
„liberale Demokratie“ zerfallen davor zu Staub. Eine Rückkehr zum fairen
Meinungsstreit, den die Unterzeichner das offenen Briefes verlangen,
kann und wird es unter diesen Umständen nicht mehr geben. Hinz
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