Stationen

Sonntag, 19. Juli 2020

Die Schlamperei im Geiste

Das „Sprachregime“ des Literaturwissenschaftlers, Philosophen und Marketing-Experten Michael Esders ist das Buch der Stunde und darüber hinaus eine der wichtigsten politischen Publikationen seit Rolf Peter Sieferles „Migrationsproblem“. Es ist – soviel vorweg – unerlässlich, um den Bolero des Irrsinns zu begreifen, der seit Jahren als Politische Korrektheit, Gender- und Klima-Ideologie, als „Kampf gegen Rechts“ und Willkommenskultur durch das Land tobt und sich gegenwärtig als Antirassismus zu ohrenbetäubender Lautstärke steigert.

Wie kommt es, dass Menschen mehrheitlich einer Politik zustimmend beipflichten, die sich so offenkundig gegen ihre Lebensinteressen richtet und absehbar zur Selbstzerstörung eines leidlich funktionierenden Gemeinwesens führt? Die NS-Vergangenheit, der verinnerlichte Schuldkomplex oder die allgemeine Dekadenz, so Enders, liefern dafür nur partielle Erklärungen.
Entscheidend sei die „Macht der politischen Wahrheitssysteme“, von denen der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Nachgang der sogenannten „Ausschreitungen“ in Chemnitz 2018 sprach. Sie konstituiert einen „smarten Totalitarismus der Vielfalt und Differenz“, der vom Medienapparat verwirklicht und durch Sanktionen beziehungsweise Sanktionsdrohungen gestützt wird.

Im ersten Kapitel beschreibt und analysiert Esders die Struktur und Funktionsweise dieser Systeme. Die geballte Medienmacht modelliert ein verzerrtes, ideologisiertes Abbild der Realität und trägt es im 24-Stunden-Betrieb in die Öffentlichkeit mit der Folge, dass die Wahrnehmungen, welche die fünf menschlichen Sinne mitteilen, allmählich außer Kraft gesetzt werden und das Denken und Empfinden sich in die offizielle Matrix einfügt.
Gustave Le Bon hatte die vorschnelle Verallgemeinerung, die spontane Verknüpfung oberflächlich zusammenhängender Sachverhalte, die emotionale Aufwallung, kurzum: die Schlamperei im Geiste, als Merkmale der Psychologie der Massen festgestellt.
Diese spontanen Reaktionen werden von den Wahrheitssystemen formalisiert und professionalisiert.
Der berühmt-berüchtigte Satz, dass eine Lüge, um geglaubt zu werden, nur oft genug wiederholt werden muss, wird durch die Hirnforschung bestätigt. Die permanente Aktivierung der entsprechenden neuronalen Schaltkreise führt zu ihrer Verfestigung, so dass aus den größten Verrücktheiten geglaubte Wahrheiten, ja physische Tatsachen werden, die sich gegen alle Einwände und kognitive Dissonanzen behaupten.
Begriffe werden emotional aufgeladen – „geframet“ –, also gezielt mit positiven oder negativen Assoziationen verbunden. Absolut negativ besetzt sind die „Grenze“ und die „Abschottung“, die mit Bildern toter Kinder oder der Berliner Mauer verbunden werden. Der entscheidende Unterschied zwischen diktatorischer Einsperrung nach innen und schützender Abschließung nach außen wird dabei genauso manipulativ verwischt wie die technische Tatsache, dass herabgelassene Schotten auf einem leckgeschlagenen Schiff lebensrettend sein können.
Durch solche auf Dauerfeuer gestellte sprachlich-semantische Tricks wird die Aufhebung der eigenen Grenzen und damit der Staatlichkeit zunächst zum moralischen und schließlich sogar zum einzig verfassungskonformen Imperativ erhoben. Die „moralische Kohärenz“ ersetzt die Logik und das Kriterium der Widerspruchsfreiheit einer Aussage.
Damit gerät das freie Denken – nach Kant der eigenständige Gebrauch des Verstandes – zunehmend unter Verdacht. Es ist nur folgerichtig, dass der Königsberger Philosoph im Zuge der „Black Lives Matter“-Kampagne ebenfalls in das Visier der Bilderstürmer geraten ist. Der Vorgang korrespondiert mit allgemein sinkenden Bildungsstandards.

Wenn selbst Studenten keine mehrteiligen Sätze sinnentnehmend lesen, geschweige denn bilden können, ist das ein Hinweis, dass den nachwachsenden Funktionseliten die Fähigkeit zu logischen Verknüpfungen abhanden gekommen ist. Der Rückgriff zum simplen Gut-Böse-Raster ist nur konsequent.
Das Sprachregime ist antitopisch – gegen eine „ortende Begriffssetzung“ gerichtet. Positiv besetzt sind Begriffe wie „Eine Welt“, „Weltoffenheit“ oder „Menschheit“, während „Staat“, „Nation“, „Volk“ als willkürlich ausgrenzende Konstrukte unter Verdacht stehen. Die ideologische und emotionale Grundierung dieser semantischen Verschiebungen liefert die „Hypermoral“, die Ausweitung der Familienmoral auf das „globale Dorf“. Ihren Narrativen geht Esders im zweiten Kapitel nach.
Eine Variante ist die Kreierung künstlicher Mythen und mythischer Gestalten wie Greta Thunberg, eine andere die Personalisierung zur Beglaubigung ideologischer Wunschvorstellungen. Beispielhaft sind die Geschichten von syrischen Flüchtlingen, die prallgefüllte Geldbörsen auffinden, sie brav bei der Polizei abliefern und edelmütig auf Finderlohn verzichten. Solcher Haltungs-Journalismus à la Relotius & Co. hat die Hypermoral in eine Hyperfaktizität überführt. Die „Fake News“ waren bereits ein Instrument der Wahrheitssysteme, als noch niemand die Präsidentschaft Donald Trumps für möglich hielt.

Im dritten, dem anspruchsvollsten Kapitel, geht Esders den philosophisch-linguistischen Ursprüngen dieser aggressiven Sprachpolitik nach. Ihre Wurzeln identifiziert er bei den Theoretikern der französischen Postmoderne, die die verborgene oder verdrängte Bedeutung sprachlicher Zeichen durch die Dekonstruktion überkommener Diskurse und das Herausarbeiten der Differenz zur Geltung bringen wollten. Das ursprünglich berechtigte Anliegen wurde von der politischen Linken bis zum Exzess gesteigert.
Kollektive Verbindlichkeiten, die Geschlechter-Binarität und die Sprache selbst werden zu faschistoiden Zumutungen verklärt. Sprachverbote, ideologische Neologismen und Gendersterne formieren sich zu Orwells „Neusprech“. Unterm Strich läuft es darauf hinaus, erfahrbare Sachverhalte und Zusammenhänge unaussprechlich, schließlich undenkbar und Menschen zu Zombies zu machen, die nicht mehr wissen, wer sie sind.
Esders erforscht in tiefgründiger Weise ein stringentes, gegen die Wirklichkeit immunes Verfahren, einen Mechanismus der „stählernen Beliebigkeit“, der mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks fortschreitet – was freilich nicht vollständig erklärt, warum er akzeptiert wird. Denn im Unterschied zu früheren Totalitarismen fehlt ihm ein plausibles Zukunftsversprechen.*

Offenbar spielen auch transzendente Bedürfnisse und kulturmorphologische Entwicklungen eine Rolle. Esders hat einen signifikanten Baustein für die noch zu schreibende Theorie des postmodernen Totalitarismus geliefert, der vor unseren Augen Gestalt annimmt. Ein schwieriges, ein brisantes, ein unverzichtbares Buch!   Thorsten Hinz


*Es ist sehr wohl ein "plausibles Zukunftsversprechen" vorhanden: die Klimarettung, eine lebenswerte Zukunft für die Generation Greta, Ende des Artensterbens, Weltfrieden durch das Kollektivprojekt Klimarettung, saubere Energie durch Wasserstoff und Sonne, und endlich Gerechtigkeit für die Dritte Welt, weil die Erste Welt sonst am Geokaust zugrunde geht. Die ganze Liste der Dummheiten, die Annalena Baerbock rauf- und runterrattern kann. Die klassenlose Gesellschaft war auch nicht plausibler.

Deutschland befindet sich, seit Joschka Fischer während der Bemühungen um einen ständigen UNO-Sitz sagte, Wir-sind-wieder-wer gäbe es mit ihm nicht, bzw. seit 2011, spätestens aber seit 2015 im Gutwerdungs- und Unschuldtaumel und wähnt sich auf Grund der Vorreiterrolle, die den Bundesbürgern eingeredet wird, auch noch auf einem Triumphzug bei gleichzeitiger hypermoralischer Unterjochung Ungarns und anderer Schurkenstaaten (wie zum Beispiel Italien, das die Deutschen als verhinderte Holländer genüsslich von Rutte an die Kandare nehmen lassen).

Andere Länder dagegen haben wenig Grund, diesen Zirkus Merkalli nicht mitzumachen. Die Migranten werden im Zweifel nach Deutschland durchgewunken, das Gegendere ist mal eine lustige Abwechslung in Ländern, wo die traditionellen Geschlechterrollen noch lebendig sind und wird sowieso nur in Deutschland und Skandinavien mit der Verbohrtheit von Besessenen durchgezogen, die längst verlernt haben, worauf es im Leben ankommt. Greta ist süß und außerdem Schwedin wie IKEA, Volvo und der Nobelpreis, also das Feinste vom Feinsten, Amerika wurde schon immer verleumdet... Also so viel hat sich andernorts nicht geändert. Nur in Deutschland wird von Merkel seit 2011 auf einmal mehr und mehr eingelöst, was die Medien seit Jahrzehnten gefordert hatten. Nur in Deutschland werden die schreiendsten Widersprüche hingenommen. Das hat wirklich mit dem verinnerlichten Schuldkomplex und der Wiedergutwerdungssehnsucht und -trance der Deutschen zu tun: für diese Verheißung, die Merkel dem Bundesbürger wie eine Karotte dem Esel vor die Nase hält, sind die Deutschen zu allem bereit. Und natürlich wegen des Wohlstand, den Deutschland als einziges Land der EU seit der Lehman-Krise genießt!

Ein wichtiger Grund der Durchsetzungskraft der dekonstruierenden Diskurse besteht außerdem in der Ignoranz und Unwissenschaftlichkeit heutiger wissenschaftsgläubiger "Wissenschaftler", wie sie besonders beim Thema Klimawandel deutlich wird. In dieser Hinsicht ist die One-World bereits verwirklicht, denn überall auf der Welt ist die Wertschätzung Karl Poppers eine Ausnahme. Da handelt es sich in der Tat um eine beunruhigende kulturmorphologische Entwicklung.

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