Der Religionswandel im Baltikum erklärt sich nicht aus einem
Kulturwandel, der ältere Vorstellungen schiedlich-friedlich in neue
überführt hat. Religion als eine entscheidende „Potenz“ (Jacob
Burckhard) der Geschichte hängt immer mit den beiden anderen –
Herrschaft und Kriegführung – zusammen. Zwar gibt es heute eine Tendenz,
sich den Einzug der Viehzüchter aus dem Vorderen Orient, die auf Jäger
und Sammler trafen, dann das Vordringen der Indoeuropäer, als Auslöser
eines Prozesses vorzustellen, der eine „Mosaikkultur“ (Harald Haarmann)
entstehen ließ. Aber im historischen Vergleich erscheint ein
glimpflicher Ablauf doch unwahrscheinlich. Das gilt vor allem für den
Zusammenstoß zwischen Eingesessenen und Indoeuropäern, die auch in
anderen Gebieten Eurasiens ihre Herrschaft gewaltsam errichteten.
Eine wesentliche Ursache dafür lag in der kriegerischen Grundstruktur
ihrer Gemeinschaften. Männliche Tugenden gaben den Ausschlag und
Hierarchie spielte eine wesentliche Rolle. Die Indoeuropäer trafen in
Europa auf eine Kultur, die demgegenüber friedlich gestimmt war, auf die
Mutter als Zentrum der Familie konzentriert und eher egalitär
ausgerichtet. Die schon erwähnte Marija Gimbutas sprach von der
Zivilisation „Alteuropas“, und viele ihrer Annahmen über deren
erstaunliches Niveau im Hinblick auf Technologie, Siedlungsformen,
Bevölkerungsdichte sind in den letzten Jahrzehnten durch archäologische
Funde im Südosten und Osten unseres Kontinents bestätigt worden.
Wenn es den im Vergleich dazu barbarischen Indoeuropäern gelang, die
Oberhand zu gewinnen, hat das mit einem Phänomen zu tun, das der heute
weithin vergessene Soziologe Franz Oppenheimer (er war unter anderem der
akademische Lehrer Ludwig Erhards) als „Überlagerung“ bezeichnete.
Oppenheimer setzte gegen die Annahme der Aufklärer, daß der Staat durch
einen „Gesellschaftsvertrag“ entstanden sei, die These, daß er als
Ergebnis einer gewaltsamen Unterwerfung oder schleichenden
Machtübernahme betrachtet werden müsse. In der Vergangenheit hätten sich
solche Prozesse häufig in der Weise vollzogen, daß Hirtennomaden in ein
Gebiet von Bauernvölkern eindrangen, diese entweder sofort in
Botmäßigkeit zwangen oder aber nach und nach in eine Art Hörigkeit
überführten.
Die kulturelle Unterlegenheit der Wandernden gegenüber den Seßhaften
wirkte sich paradoxerweise zu Gunsten ersterer und zu Ungunsten
letzterer aus. Das habe wesentlich mit der Aggressivität der
Unzivilisierten und dem Pazifismus der Zivilisierten zu tun. Aber es
spiele auch eine Rolle, daß Hirten, die große Herden auf dem Marsch
führten, diese Art von Herrschaftswissen unschwer auf große
Menschengruppen übertragen konnten. Man muß sich die Situation, die im
Baltikum nach dem Eindringen der Indoeuropäer entstand, nicht nach dem
Muster eines Kastensystems vorstellen, aber schon die Dominanz der
Herrenreligion und die Abdrängung der Glaubensvorstellungen der
Alteuropäer spricht für einen „Klassenstaat“ im Sinne Oppenheimers.
Entsprechende Abläufe dürften in der Frühgeschichte eher die Regel
als die Ausnahme gewesen sein. Was den eigentlichen baltischen
Siedlungsraum bis zum frühen Mittelalter angeht, sind wir in jedem Fall
auf Spekulationen angewiesen. Das gilt, obwohl schon antike Autoren von
der Existenz der Balten wußten, die für den Handel mit dem begehrten
Bernstein bis nach Griechenland und Ägypten eine erhebliche Rolle
spielten.
Fest steht immerhin, daß der von ihnen kontrollierte Bereich –
es gibt die These, daß alle Flußnamen zwischen Berlin und Moskau
baltischen Ursprungs waren – unter dem Druck von Germanen und Slawen
schrumpfte und die Abdrängung in Richtung Ostseeküste zur Folge hatte.
Dies führte zu einer relativen Isolierung, die das Heidentum konservierte
und erschwerte das Ausgreifen des Christentums. Erst nach der
politischen Stabilisierung Zentraleuropas im 10. und 11. Jahrhundert
änderte sich das.
Die Unterwerfung der Balten war eng mit der Durchsetzung des
Christentums verknüpft, das – wie oft im Mittelalter – als „Religion zu
Pferde“ (Alexander Rüstow) erschien. Die Expansion der Dänen wie des
Deutschen Ordens und der Schwertbrüder betrachtete man als „Kreuzzüge“.
Bekämpfung der Heiden und Schwertmission gingen Hand in Hand mit
der Errichtung neuer Herrschaftsordnungen. Allerdings vertraten jetzt
die Eindringlinge eine höhere Kultur, was ihnen die Möglichkeit gab,
ihre Macht nicht nur auf das Gewaltverhältnis zu gründen. Ein Faktor,
der auch erklärt, warum die so entstandene Lage bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs keine grundsätzliche Veränderung erfuhr, obwohl
zwischenzeitlich Schweden und Polen, dann Rußland das ganze oder große
Teile des Baltikums unter ihre Kontrolle brachten. Karlheinz Weißmann
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