Stationen

Montag, 6. Juli 2020

Baltische Geschichte

Der Religionswandel im Baltikum erklärt sich nicht aus einem Kulturwandel, der ältere Vorstellungen schiedlich-friedlich in neue überführt hat. Religion als eine entscheidende „Potenz“ (Jacob Burckhard) der Geschichte hängt immer mit den beiden anderen – Herrschaft und Kriegführung – zusammen. Zwar gibt es heute eine Tendenz, sich den Einzug der Viehzüchter aus dem Vorderen Orient, die auf Jäger und Sammler trafen, dann das Vordringen der Indoeuropäer, als Auslöser eines Prozesses vorzustellen, der eine „Mosaikkultur“ (Harald Haarmann) entstehen ließ. Aber im historischen Vergleich erscheint ein glimpflicher Ablauf doch unwahrscheinlich. Das gilt vor allem für den Zusammenstoß zwischen Eingesessenen und Indoeuropäern, die auch in anderen Gebieten Eurasiens ihre Herrschaft gewaltsam errichteten.

Eine wesentliche Ursache dafür lag in der kriegerischen Grundstruktur ihrer Gemeinschaften. Männliche Tugenden gaben den Ausschlag und Hierarchie spielte eine wesentliche Rolle. Die Indoeuropäer trafen in Europa auf eine Kultur, die demgegenüber friedlich gestimmt war, auf die Mutter als Zentrum der Familie konzentriert und eher egalitär ausgerichtet. Die schon erwähnte Marija Gimbutas sprach von der Zivilisation „Alteuropas“, und viele ihrer Annahmen über deren erstaunliches Niveau im Hinblick auf Technologie, Siedlungsformen, Bevölkerungsdichte sind in den letzten Jahrzehnten durch archäologische Funde im Südosten und Osten unseres Kontinents bestätigt worden.
Wenn es den im Vergleich dazu barbarischen Indoeuropäern gelang, die Oberhand zu gewinnen, hat das mit einem Phänomen zu tun, das der heute weithin vergessene Soziologe Franz Oppenheimer (er war unter anderem der akademische Lehrer Ludwig Erhards) als „Überlagerung“ bezeichnete. Oppenheimer setzte gegen die Annahme der Aufklärer, daß der Staat durch einen „Gesellschaftsvertrag“ entstanden sei, die These, daß er als Ergebnis einer gewaltsamen Unterwerfung oder schleichenden Machtübernahme betrachtet werden müsse. In der Vergangenheit hätten sich solche Prozesse häufig in der Weise vollzogen, daß Hirtennomaden in ein Gebiet von Bauernvölkern eindrangen, diese entweder sofort in Botmäßigkeit zwangen oder aber nach und nach in eine Art Hörigkeit überführten.




Die kulturelle Unterlegenheit der Wandernden gegenüber den Seßhaften wirkte sich paradoxerweise zu Gunsten ersterer und zu Ungunsten letzterer aus. Das habe wesentlich mit der Aggressivität der Unzivilisierten und dem Pazifismus der Zivilisierten zu tun. Aber es spiele auch eine Rolle, daß Hirten, die große Herden auf dem Marsch führten, diese Art von Herrschaftswissen unschwer auf große Menschengruppen übertragen konnten. Man muß sich die Situation, die im Baltikum nach dem Eindringen der Indoeuropäer entstand, nicht nach dem Muster eines Kastensystems vorstellen, aber schon die Dominanz der Herrenreligion und die Abdrängung der Glaubensvorstellungen der Alteuropäer spricht für einen „Klassenstaat“ im Sinne Oppenheimers.

Entsprechende Abläufe dürften in der Frühgeschichte eher die Regel als die Ausnahme gewesen sein. Was den eigentlichen baltischen Siedlungsraum bis zum frühen Mittelalter angeht, sind wir in jedem Fall auf Spekulationen angewiesen. Das gilt, obwohl schon antike Autoren von der Existenz der Balten wußten, die für den Handel mit dem begehrten Bernstein bis nach Griechenland und Ägypten eine erhebliche Rolle spielten.
Fest steht immerhin, daß der von ihnen kontrollierte Bereich – es gibt die These, daß alle Flußnamen zwischen Berlin und Moskau baltischen Ursprungs waren – unter dem Druck von Germanen und Slawen schrumpfte und die Abdrängung in Richtung Ostseeküste zur Folge hatte.
Dies führte zu einer relativen Isolierung, die das Heidentum konservierte und erschwerte das Ausgreifen des Christentums. Erst nach der politischen Stabilisierung Zentraleuropas im 10. und 11. Jahrhundert änderte sich das.
Die Unterwerfung der Balten war eng mit der Durchsetzung des Christentums verknüpft, das – wie oft im Mittelalter – als „Religion zu Pferde“ (Alexander Rüstow) erschien. Die Expansion der Dänen wie des Deutschen Ordens und der Schwertbrüder betrachtete man als „Kreuzzüge“. Bekämpfung der Heiden und Schwertmission gingen Hand in Hand mit der Errichtung neuer Herrschaftsordnungen. Allerdings vertraten jetzt die Eindringlinge eine höhere Kultur, was ihnen die Möglichkeit gab, ihre Macht nicht nur auf das Gewaltverhältnis zu gründen. Ein Faktor, der auch erklärt, warum die so entstandene Lage bis zum Ende des Ersten Weltkriegs keine grundsätzliche Veränderung erfuhr, obwohl zwischenzeitlich Schweden und Polen, dann Rußland das ganze oder große Teile des Baltikums unter ihre Kontrolle brachten.  Karlheinz Weißmann

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