Chaim Noll ist der Sohn von Dieter Noll, und dessen Namen kennt jeder, der in der DDR die Schule besucht hat: Noll senior schrieb den zweibändigen Roman "Die Abenteuer des Werner Holt", Teil eins war Pflichtlektüre in der Oberstufe (eine der wenigen aus dem realsozialistischen Staatsgatter stammenden Pflichtlektüren, die man als Schüler nicht nur angeödet las) und mit zwei Millionen verkauften Exemplaren der wohl bekannteste Roman der DDR. Das Buch wurde verfilmt, und auch den Film kannte drüben praktisch jeder. Die Handlung spielt während der Höllenfahrt des Dritten Reiches, es geht um die Verführbarkeit junger Menschen durch ein totalitäres Regime, und das Besondere an diesem Werk bestand darin, dass keine Kommunisten darin vorkamen und das Personal trotzdem nicht besonders negativ gezeichnet war. Der Landser Holt hätte man selber gewesen sein können.
Dieter Noll trat 1946 in die KPD ein, in den 1960ern war er Mitglied der SED-Bezirksleitung Berlin. 1961, ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Bandes, erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, zwei Jahre später folgte der Nationalpreis der DDR. Damit zählte der Schriftsteller zwar nicht direkt zur Nomenklatura, aber zu den privilegierten Staatskünstlern. Das nur vorab für die via Eurovison zugeschalteten Zuhörer aus dem Westen.
Chaim kam 1954 als Hans Noll zur Welt, das heißt, er erlebte noch das Berlin vor dem Mauerbau. Rübergemacht hat er 1984. Von diesen dreißig Jahren erzählt das Buch. Ein Teil der Handlung spielt im Prenzlauer Berg, in Straßen, wo auch ich mich herumtrieb, und es fallen viele DDR-spezifische Begriffe, die ich kenne, aber auch einige, die ich vergessen hatte: das Karree etwa, wie wir damals die Häuserblocks nannten ("Ick jeh nur ums Karree!")*, der Schusterjunge, wie nicht nur ein Brötchen, sondern auch eine bekannte Kneipe im Prenzlauer Berg hieß, der Wriezener Güterbahnhof, wo die Transporte der Neueinberufenen zur NVA abgingen, oder der Gasheizkörper "Gamat 3000", obwohl ich diese Dinger selber in Nebenjob-Nachtschichten emailliert und gestanzt habe ("Ich hab gestanzt heut Nacht/ Die ganze Nacht heut Nacht!").
Der spezielle Reiz an Nolls Buch besteht für einen Zögling der "Ehemaligen" darin, dass lauter weiland aus Presse und Funk bekanntes Personal auftaucht, nur eben aus umgekehrter Perspektive betrachtet, von innen. Hier verkehren Ministertöchter, Professoren, Schauspieler, Museumsdirektoren, Regisseure, Chefredakteure, Architekten, Künstler, Schriftsteller, Funktionäre – die Kulturschickeria der DDR. (Mein Vater leitete zwar den Ostberliner Möbelhandel, aber für Kontakte zur Nomenklatura reichte das nicht.)
Nina Hagen ist in der Schule Nolls Banknachbarin, später kommt Tamara Danz, die als Sängerin der Rockband "Silly" Karriere machen wird, in seine Klasse. Noll studiert zunächst Mathematik, später Kunst und Kunstgeschichte. Er heiratet die Tochter von Werner Klemke, Professor für Buchgrafik und Typografie an der Hochschule für Bildende und Angewandte Kunst in Berlin-Weißensee und einer der bekanntesten Illustratoren der DDR (er gestaltete unter anderem die Titelbilder der populären Zeitschrift Das Magazin). Es ist eine Welt der Westwagen, Westmöbel, Westklamotten, Westtantiemen, Westbücher, Westzeitungen, eine Welt mit Zehn-Zimmer-Wohnung (oder wie es in der DDR hieß: Zehn-Raum, wobei eine Zehn im Land der Ein- bis Dreiraum-Wohnungen offiziell nicht existierte), Haushälterin und Haus auf Hiddensee. Eine Parallelgesellschaft, dem normalen Ostdeutschen verschlossen, deren Angehörige privilegiert, aber machtlos waren. Die Tochter von Heinrich Mann erscheint zum Besuch; Hermann Henselmann, der Erbauer der Stalinallee, lädt zu Tisch; Wieland Herzfelde durchschreitet das Proszenium; Markus Wolf zeigt sich kurz im Bühnenhintergrund; der Staatsfassadenmaler Walter Womacka, dessen "Paar am Strand" in Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." nicht ganz zu Unrecht als "Brechmittel" figuriert, aber gleichwohl bei uns daheim in Reproduktion an der Wand hing (hier das Original):
Von den Briefmarken auf Tante Lis Briefen kannte ich dieses Bild. Als Kind mochte ich diesen Malstil ganz gern. |
..., dieser Walter Womacka also protegiert den Erzähler, obwohl der als Querulant bekannt ist, an der Kunsthochschule; Hans-Georg Ponesky, eine Art Thomas Gottschalk der DDR, umdienert aufs Abstoßendste einen hohen Kulturfunktionär, weil der über seine nächste Sendung verfügt; Mimen wie Winfried Glatzeder oder die Darsteller des "Werner Holt"-Films (Monika Woytowicz!) klingeln an der Tür ... Als Noll an der Komischen Oper arbeitet, lernt er Walter Felsenstein und seine Frau Maria kennen, "eine mit Privilegien überhäufte, von der Bevölkerung mit verhaltener Empörung bedache Österreicherin, die auf ihrem Anwesen Marienhof in Glienicke Pferde und Huskys hielt, später immer größere und exotischere Tiere, Kragenbären, sogar einen Grizzly", und die regelmäßig "in einem riesigen amerikanischen Wagen" voller Kaffee, Schnaps, Süßigkeiten und Zigaretten an der Oper vorfährt, um die Haushandwerker für Privatarbeiten auf ihrem Anwesen zu entschädigen.
Das ist alles vorbei und weitgehend vergessen, aber hochinteressant für einen, der dort gelebt hat, ohne mit diesem Milieu je zu tun zu bekommen.
"Unter uns, im fünften Stock des Hauses, lebte der Schriftsteller Hermann Kant, damals verheiratet mit der Schauspielerin Vera Oelschlegel, beide fuhren Westwagen, er einen Karmann Ghia, sie ein Opel Coupé – das deutliche Symbol sozialer Privilegierung." Kant war der Staatsschriftsteller schlechthin, eine Art Günter Grass der DDR; Frau Oelschlegel, die später ihren Ehemann verließ, um das Politbüromitglied Konny Naumann zu ehelichen, entspräche in diesem Bild ungefähr einer Ostberliner Veronica Ferres.
Ende des name dropping.Nachdem das Neue Deutschland die Verleihung des Heinrich-Mann-Preise an Vater Noll gemeldet hatte, "änderte sich das Verhalten von Nachbarn, Bekannten, Handwerkern, Angestellten der Wohnungsverwaltung spürbar", ohne dass jemand dazu aufgefordert worden wäre, "sie verstanden von selbst, dass der Geehrte von nun an anders zu behandeln war". Gleichsam über Nacht war die Familie in den Kreis des sozialistischen Adels aufgestiegen. Zu den neuen Besitztümern gehörte beispielsweise eine rote Klappkarte, die der Vater aus dem Seitenfenster seines Wolgas dem Volkspolizisten hinhielt, der ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten hatte, woraufhin der Mann salutierte und dem Genossen Großschriftsteller eine gute Weiterfahrt wünschte. Als Jugendlicher wurde Noll junior einmal von der Polizei verhaftet, weil er betrunken Fahrrad gefahren war, auf dem Revier behandelte man ihn durchaus rabiat, bis sich herausstellte, wessen Sohn er war...
Natürlich hatte die Privilegierung ihren Preis. "Erfolg war damals in der DDR eine von der Partei verwaltete Angelegenheit, und die Partei erwartete Gegenleistungen." Es herrschte ein Kodex wie bei der Mafia: Wir bevorzugen dich, wir versorgen dich, wir schützen dich, aber du gehörst uns, und der Tag wird kommen, an dem wir dich brauchen. Auch und gerade in diesen Kreisen hatte man, bei allen geduldeten Allüren und Marotten, "auf Linie" zu sein und im Bedarfsfall ein Bekenntnis zu liefern. "Nicht mitmachen hieß, dass man nicht dafür war. Nicht dafür sein hieß, dass man dagegen war. Wogegen? Gegen den Fortschritt, den Sozialismus, den Fortschritt in der Welt. Wer wollte gegen den Fortschritt sein? .... Das unverzeihlichste Delikt war die Verweigerung weiteren Mitmachens."
Ein zentrales Ereignis für das DDR-Kulturmilieu war die Ausbürgerung von Wolf Biermann anno 1976 samt der anschließenden Proteste dagegen – ein Lehrstück, das uns zugleich mitten in die Gegenwart führt. Bekannte Künstler wie der Bildhauer Fritz Cremer und die Schriftsteller Stefan Hermlin und Christa Wolf hatten eine Petition für Biermann unterschrieben. Noll schildert, wie sein Schwiegervater ihn während eines Spaziergangs unvermittelt darauf anspricht und sich erkundigt, ob er etwa auch unterschreiben wolle, er möge es ja nicht tun, viele der Unterzeichner glaubten, wenn sie ihren Namen unter jenen von Prominenten wie Wolf und Hermlin setzten, werde ihnen nichts passieren, aber es sei doch klar, wie das enden werde, Hermlin** werde seine Unterschrift zurückziehen, Wolf Selbstkritik üben, aber die anderen, die Kleinen, die werde man grillen, denen werde man an die Jobs und Studienplätze gehen. Genau so kam es. Und genau so läuft es heute und wahrscheinlich immerdar.
Noll senior zog seine eigenen Schlüsse aus dem Vorgang (ob er es aus freien Stücken tat oder jemand nachhalf, weiß auch sein Sohn nicht). Er schrieb im Mai 1979 einen Brief an Honecker, in dem er die Schriftsteller Stefan Heym, Joachim Seyppel und Rolf Schneider als "kaputte Typen" denunzierte, die sich aus Geltungssucht dem Klassenfeind andienten. Wenig überraschend ließ der Genosse Erich anfragen, ob der Brief im Neuen Deutschland veröffentlicht werden dürfe. Das Schreiben soll zum Ausschluss von neun Autoren aus dem DDR-Schriftstellerverband beigetragen haben.
Für den Sohn, dessen Verhältnis zum ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden längst ein gestörtes war, markierte das väterliche Bekenntnis den definitiven Bruch. "Wir sahen bald, dass Indifferenz hier nicht funktionierte. Wenn irgendetwas unser Weggehen aus der DDR beschleunigt hat, war es dieser Brief. Er führte zu unserer gesellschaftlichen Isolation."
Das war in der DDR ein bisschen anders als in der Merkel-BRD: Dort konnten allzu eifrige Bekenntnisse zur Regierung im privaten Umfeld zum Ersterben der Gespräche führen, während heute ein freundliches Wort über die Opposition oder Donald Trump die Kündigung von Bekanntschaften zur Folge haben kann.
Noll entzog sich dem Wehrdienst bei der NVA, indem er eine psychosomatische Erkrankung simulierte und durch exzessives Fasten ein Viertel seines Körpergewichts verlor. Während er in der Geschlossenen Abteilung der Psychiatrie saß, begannen die Zersetzungsmaßnahmen gegen seine Familie: nächtliche Anrufe, Drohungen, Unbekannte warfen die Scheiben der Wohnung ein (man erlebt das heute wieder, und es stecken womöglich dieselben Leute dahinter). Über einen ausländischen Diplomaten schmuggelte er seine Tagebücher und andere Texte in den Westen. Später stellte Noll einen Ausreiseantrag für sich und seine Familie. Damit war er vom Protegé zum Feind des Staates geworden, aber er konnte zum letzten Male von seiner Privilegierung zehren. Ingrid Berg, die Nichte des Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph, hatte im Februar 1984 mit Mann, Kindern und Schwiegermutter in der Deutschen Botschaft zu Prag um Asyl gebeten, ein peinlicher Vorfall für die SED-Führung. Nolls Familie war mit Frau Berg flüchtig bekannt, die Stasi vermutete indes eine engere Bekanntschaft. Der oberste DDR-Kulturfunktionär Kurt Hager schrieb an Stasi-Chef Erich Mielke: "Das Beispiel der Familie Berg, mit der sie bekannt sind, scheint sie uneinsichtg gemacht zu haben." Die Ausreise wurde genehmigt.
"In unseren letzten Jahren in Ost-Berlin", erinnert sich der Autor, "sind wir so einsam gewesen wie nie zuvor und nie danach, auch heute nicht, da wir in der Wüste leben."
***
Noch interessanter als die Einblicke in die DDR-Kulturschickeria ist eine andere Ebene des Buches. Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten der sozialistischen Welt, dass Juden dort offiziell nicht existierten. Die ermordeten russischen und ukrainischen Juden beispielsweise galten offiziell als ermordete Sowjetmenschen. Gemäß der kommunistischen Gleichheitsdoktrin waren solche Unterschiede, wie alle anderen ethnisch-kulturellen Differenzen*** auch, "überwunden". Als Religionsgemeinschaft existierte das Judentum in der DDR offiziell nicht, es gab keine als solche erkennbare Synagoge im Land, nur improvisierte Räumlichkeiten hinter nichtssagenden Fassaden, wo man sich mehr oder weniger informell traf. Ich erinnere mich noch, wie wir im Deutschunterricht der vielleicht vierten oder fünften Klasse über die Judenverfolgung sprachen und eine Mitschülerin – sie trug den schönen Namen Ondra – auf die von meiner Klassenlehrerin gestellte Frage, ob denn jemand wisse, warum die "Hitlerfaschisten" die Juden verfolgten, erklärte: "weil sie eine andere Religion hatten". Ich schwöre bei Gott: Ich hörte damals zum ersten Mal in meinem Leben die Worte "Juden" und "Religion". In meinem Elternhaus hing das Konterfei von Fidel Castro an der Wand, und im "Raumteiler" – ein Bücherregal gab es nicht – standen Marx, Engels und Lenin. Ich hatte auch später keine Ahnung davon, dass Dieter Noll und einige andere Künstler und Funktionäre Juden waren – oder besser: jüdischer Abstammung, die Genossen empfanden sich ja nicht als Juden.
Chaim Nolls Großeltern wurden im Dritten Reich aus rassischen Gründen zur Scheidung genötigt; als der Großvater dennoch weiter mit seiner jüdischen Frau zusammenlebte, zwang man sie, die Kinder in "arische" Hände zu geben. Die Großmutter gehörte später zu den wenigen Überlebenden des Lagers Theresienstadt. Dieter Noll wurde in der Schule als "Halbjude" schikaniert und verprügelt. Der Großvater seiner Banknachbarin Nina Hagen war von den Nazis ermordet worden, "doch sonderbar: Wir verloren darüber kein Wort. Judesein war 'kein Thema'."
Bekanntlich machten sich seit 1917 zahlreiche Juden der Mitwirkung am Kommunismus schuldig, oft aus verstehbaren Gründen, doch die Integration in die kommunistische Weltbewegung hat sie so wenig vor der Verfolgung bewahrt wie jene ins deutsche Volk. Der bekannte Ausspruch von Trotzkis Vater Dawid Bronstein, dass die Trotzkis die Revolution machen und die Bronsteins dafür bezahlen müssen, stimmte nicht ganz, auch die Trotzkis mussten bezahlen. Die Kommunisten entledigten sich der Juden fast mit ähnlicher Konsequenz wie ihre feindlichen braunen Brüder. Väterchen Stalin erklärte die jüdischen Kommunisten zu Zionisten – der Begriff "Zionist" stand synonym für "Agent des Weltkapitalismus" – und verdächtigte sie der Verbindung zur USA, so dass viele Juden während der "Säuberungen" umgebracht wurden. In den Ostblockstaaten richtet sich diese Paranoia gegen diejenigen jüdischen Emigranten, die vor den Nazis Richtung Westen emigriert waren und nach Kriegsende zurückkehrten. Erst nach Stalins Tod endeten die Verfolgungen, doch Judesein blieb ein Makel, eine Art falsches Bewusstsein.
Der junge Noll erfährt von alldem erst durch seine erste jüdische Freundin Nicoletta, genauer: durch deren Mutter Agnes, genannt Agi, verwitwet, sechs Kinder, "eine ungarische Jüdin, deren Eltern kommunistische Funktionäre waren, in der Nazizeit nach Moskau flüchteten und in Stalins 'Säuberungen' ums Leben kamen. Sie war sechzehn, als ihre Eltern eines Nachts von NKWD-Leuten verhaftet wurden. Wie viele Kinder kommunistischer Emigranten besuchte sie die Karl-Liebknecht-Schule in Moskau. 'Jeden Morgen kam irgendein Kind weinend zur Schule', erzählte sie mir, 'weil man in der Nacht die Eltern abgeholt hatte.'" Doch in der Schule habe den Kindern "eine womöglich noch qualvollere Prozedur" bevorgestanden: "Man drängte sie dazu, sich von ihren Eltern loszusagen". Sie mussten vor allen anderen aufstehen und ein formelhaftes Bekenntnis sprechen: dass sie überzeugt von der Schuld ihrer Eltern seien, ihre Taten bedauerten und ihre Bestrafung begrüßten.
"Diese Sätze", schreibt Noll, "hatten Tausende gesprochen. Aber nicht Agi. Sie war in der Versammlung wie gefordert aufgestanden, doch ohne ein Wort zu sagen." Zur Strafe habe man sie aus dem Komsomol**** ausgeschlossen und 1941 vor die Alternative GULag oder Partisanenkampf hinter der Front gestellt; sie entschied sich für Variante zwei. (An der Moskauer Schule war sie übrigens Mitschülerin von Markus Wolf und Wolfgang Leonhard.)
Durch Agi, die an der Komischen Oper arbeitete und deren Haus "von jungen Leute wimmelte", kam Noll in Kontakt zu anderen Juden und damit zu seinen eigenen Wurzeln. Schwerlich habe man irgendwoanders in Ost-Berlin so viele junge Juden in einem Raum treffen können wie in Agis Küche. Es waren "fast allesamt Kinder höherer Funktionäre, Stasi- und KGB-Offiziere", dennoch habe dort eine Atmosphäre der Offenheit und des Dagegenseins geherrscht. Man schaute zum Beispiel bei der Fußball-WM 1974 das Spiel der beiden deutschen Nationalmannschaften, und der Sieg der DDR wurde allgemein bedauert.
Trotz alle Anpassungsversuche in seiner Jugend sei er in keiner deutschen Gruppe heimisch geworden, schreibt Noll an einer Stelle.* "Was als 'allgemein anerkannt' galt, hat früh meinen Widerspruch erregt: gesellschaftliche Konventionen, Moden, gruppenweise Absprachen. Ich habe mich immer zu Menschen und Dingen hingezogen gefühlt, die als 'umstritten' galten."
1995 ging Noll mit seiner Frau, der Malerin Sabine Kahane (Binah Kahana), nach Israel. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft.
***
PS: "Die DDR-Grenzbeamten durchwühlten meinen Koffer und fanden einen Roman von Heinrich Böll, 'Ansichten eines Clowns', in der Ausgabe des Deutschen Taschenbuch-Verlags, worauf sie mich auf den Gang führten und mir mitteilten, dass der Besitz dieses Buches strafbar sei." (Noll, ebenda)
Eines muss man den DDR-Grenzern lassen: Von Literatur verstanden sie was (frei nach H. Gremliza).
PPS: "Kein Lobpreis, sei es aus dem Osten oder Westen, konnte mir die Prosa der Christa Wolf schmackhaft machen, ihre sprach-immanente Selbstunterdrückung, ihr furchtsames Vermeiden eines klaren Wortes, die abschwächenden Attribute und matten Metaphern." (nochmals Noll)
PPPS: Festgehalten sei noch, dass Nolls Schwäher Werner Klemke Biermann nicht sonderlich leiden mochte – die Pfauen haben es schwer bei den Kultivierten – und ihn mit den Worten beschrieb, er sei "penetrant, laut und stets darauf aus, seine Lieder vorzusingen", seine Klampfe trage er "wie eine Drohung" bei sich.
PPPPS: Und zuletzt das: In der Geschlossenen Abteilung des Instituts für Psychotherapie Leipzig erhielt Noll einen Einblick in die Welt derer, die der Realsozialismus geistig und seelisch zerstört hatte. Er beschreibt die Symptome einiger Patienten. Etwa: "Ein Dekan der Leipziger Universität, Professor für Politische Ökonomie, saß manchmal stumm auf seinem Bettrand und weinte."
* Daher also stammte Muttis "Wir gehen mal eben ums Karree"!
** Hermlin als Seehofer
*** Das ist eine besonders penetrante Parallele zu heute: ausgerechnet im Namen weltoffener Diversity wird heute jede kulturelle Eigenheit, die den Unterschied macht, geleugnet, verdrängt und eingeebnet bzw. "überwunden".
**** Den der verlogene Helmut Böttiger gleich auf der ersten Seite von "Kein Mann, kein Schuss, kein Tor" verklärt, weil ich ihm sagte, Andrei Volkonsky habe mir erzählt, die Russen versammelten sich aus Tradition zu Tausenden auf öffentlichen Plätzen, um ihren Dichtern zu lauschen. Dass der Komsomol diese Tradition versuchte zu instrumentalisieren, steht auf einem anderen Blatt.
***** Mir ging's im Westen genauso.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.