Man blicke zu den Ursprüngen entsprechender Denkansätze, um von dort aus das Gelände zu vermessen. Just dies versucht nun Antonio Scurati (Jg. 1969) in bezug auf den Faschismus zu leisten. Gleich Sternhell geht der neapolitanische Schriftsteller und Universitätsdozent ad fontes, aber seine Zugangsweise ist nicht akademisch, sondern belletristisch.
M. Der Sohn des Jahrhunderts erzählt vom Entstehen des Faschismus im März 1919 bis zur Zementierung seiner Macht 1925 entlang der Erlebnisse Benito Mussolinis und weiterer Protagonisten aus seinem Umfeld. Gegner sind ebenso vertreten wie Geliebte, unnachgiebige Feinde wie fanatische Anhänger. Dokumente, Briefe, Parteierklärungen, Polizeiberichte und Geheimdiensteinschätzungen umrahmen die Erzählung, die kolportagehaft, bisweilen tagebuchartig, aufgebaut ist, und sich, je nach Kapitel, mal wie ein politischer Krimi, mal wie ein Abenteuerroman liest.
Vorwissen über die italienische Sondersituation nach dem »verstümmelten Sieg« von 1918 aufzuweisen und das Phänomen Fiume einordnen zu können, ist für die gelöste Lektüre des Romans hilfreich. Ebenso sollte man etwas über die Widersprüche zwischen Großgrundbesitz und Landarbeitern, norditalienischen Industrieballungen und Mezzogiorno, sozialistischer Zerrissenheit und faschistischer Sammlung wissen. Aber auch jene Leser, denen das Italien der frühen 1920er Jahre fremd ist, werden sich einfinden in der Atmosphäre aus enttäuschten Hoffnungen und menschlichen Abgründen, die Scurati virtuos erzeugt.
In dieser Atmosphäre wird Politik als »Arena der Laster, nicht der Tugenden« beschrieben, in der nach dem »hundsföttischen Schneid der Straßenkämpfe« verlangt werde. Diese Kämpfe werden plastisch geschildert; Verena von Koskulls Übersetzung erlaubt einen einwandfreien Nachvollzug der Geschehnisse.
Scurati gelingt es, nicht nur das »Menschelnde«, Banale und Abstoßende einzufangen, sondern auch, ganz im Sinne Sternhells, die Ursprünge des Faschismus in Theorie und Praxis zu umreißen. Mussolinis wechselnde Parteinahmen, ideologische Sprünge und weltanschauliche Häutungsprozesse werden ebenso greifbar wie seine Sehnsucht, gegen alle ins Feld zu ziehen.
Die einzigen, »mit denen die Faschisten einer Meinung sind, sind die Arditi und die Kriegsfreiwilligen«. Sie waren das Grundgerüst der Fasci, der Bünde. Gegen alle zu sein war für sie selbstverständlich; Sozialisten, Demokraten, Konservative, Nationalisten – die Frühfaschisten werden als »Synthese sämtlicher Behauptungen und sämtlicher Gegenteile davon« präsentiert, deren »einzige Doktrin« jene der Tat sei. Die Faust erschien ihnen als die Letztbegründung jeder Theorie.
Als junge dynamische Bewegung verstand der Faschismus unter »Tat« oftmals Gewalt. Scurati gelingt es, die diesbezüglichen Differenzen bildlich darzustellen. Während viele Ras – regionale Fascio-Führer – und ihre Schwarzhemden Gewalt um der Gewalt willen kultivierten, unbekümmert Jagd auf provozierende Linke aller Couleur machten, um sich dann tagelang dem Genuss von »Morlakenblut« (Kirschbrandy) und Frauen hinzugeben, kennzeichnete Mussolini ein instrumentelles Verständnis von Gewalt. Ein anderer Diktator, Mao Zedong, sollte einst formulieren, Gewaltanwendung habe »wohlüberlegt, genau gezielt, unerbittlich« zu erfolgen – just so wollte es Mussolini (»Faschisten sind Krieger, keine Terroristen«), der daher mit den Heißspornen seiner Bewegung oft zusammenprallte.
Zurückweichen, und sei es strategisch bedingt, bewerteten viele Squadristen als Verrat. Mussolini gelang es jedoch, sämtliche Krisen innerfaschistischer Disharmonie zu überwinden und aus ihnen Kapital zu schlagen – durch Geduld und gezielte Schläge gegen den vielgestaltigen Feind. Er schuf den Faschismus, so zeigt es Scurati, »als Schüler und Erbe der sozialistischen Lektion«: Als Renegat der radikalen Linken vermengte er deren Stärken mit imperialer Dynamik. Scurati, dies wird im Verlauf der Handlung deutlich, ist Antifaschist; er will das Faszinosum Mussolini »entlarven«: Der »Duce« erscheint getrieben von Egomanie und sexueller Begierde, als mediokrer »Sohn des Schmieds«, als »Polit-Zigeuner« und »Autodidakt der Macht«. Das geht mitunter fehl.
Denn der Versuch, die heroisch-edle Gegenwehr zersplitterter Linker der machiavellistischen und zynischen Machtpolitik Mussolinis gegenüberzustellen, birgt ein Problem: Wenn die Faschisten durch die Bank dumm, brutal und apolitisch waren, spricht es nicht zwingend für die antifaschistische Fronde, gegen diesen Gegner, der aus dem Nichts der sozialistischen Spaltung kam, innerhalb weniger Jahre beispiellos unterlegen gewesen zu sein. Auch so ist es zu erklären, dass Scurati für diesen Roman – er soll den Auftakt einer Trilogie darstellen – zwar den wichtigsten italienischen Literaturpreis (»Premio Strega«) verliehen bekam, dass er aber auch harsche Kritik einstecken muss.
Linke Rezensenten stören sich weniger an freien Interpretationen, historischen Sachfehlern und der gelegentlich unklaren Quellenlage, sondern vielmehr daran, dass Scurati Mussolini und seine camicie nere nicht hart genug angepackt habe. Angesichts des immensen Publikumserfolges könnte er gleichwohl ein nonchalantes Me ne frego brummen. Benedikt Kaiser
Als junge dynamische Bewegung verstand der Faschismus unter »Tat« oftmals Gewalt. Scurati gelingt es, die diesbezüglichen Differenzen bildlich darzustellen. Während viele Ras – regionale Fascio-Führer – und ihre Schwarzhemden Gewalt um der Gewalt willen kultivierten, unbekümmert Jagd auf provozierende Linke aller Couleur machten, um sich dann tagelang dem Genuss von »Morlakenblut« (Kirschbrandy) und Frauen hinzugeben, kennzeichnete Mussolini ein instrumentelles Verständnis von Gewalt. Ein anderer Diktator, Mao Zedong, sollte einst formulieren, Gewaltanwendung habe »wohlüberlegt, genau gezielt, unerbittlich« zu erfolgen – just so wollte es Mussolini (»Faschisten sind Krieger, keine Terroristen«), der daher mit den Heißspornen seiner Bewegung oft zusammenprallte.
Zurückweichen, und sei es strategisch bedingt, bewerteten viele Squadristen als Verrat. Mussolini gelang es jedoch, sämtliche Krisen innerfaschistischer Disharmonie zu überwinden und aus ihnen Kapital zu schlagen – durch Geduld und gezielte Schläge gegen den vielgestaltigen Feind. Er schuf den Faschismus, so zeigt es Scurati, »als Schüler und Erbe der sozialistischen Lektion«: Als Renegat der radikalen Linken vermengte er deren Stärken mit imperialer Dynamik. Scurati, dies wird im Verlauf der Handlung deutlich, ist Antifaschist; er will das Faszinosum Mussolini »entlarven«: Der »Duce« erscheint getrieben von Egomanie und sexueller Begierde, als mediokrer »Sohn des Schmieds«, als »Polit-Zigeuner« und »Autodidakt der Macht«. Das geht mitunter fehl.
Denn der Versuch, die heroisch-edle Gegenwehr zersplitterter Linker der machiavellistischen und zynischen Machtpolitik Mussolinis gegenüberzustellen, birgt ein Problem: Wenn die Faschisten durch die Bank dumm, brutal und apolitisch waren, spricht es nicht zwingend für die antifaschistische Fronde, gegen diesen Gegner, der aus dem Nichts der sozialistischen Spaltung kam, innerhalb weniger Jahre beispiellos unterlegen gewesen zu sein. Auch so ist es zu erklären, dass Scurati für diesen Roman – er soll den Auftakt einer Trilogie darstellen – zwar den wichtigsten italienischen Literaturpreis (»Premio Strega«) verliehen bekam, dass er aber auch harsche Kritik einstecken muss.
Linke Rezensenten stören sich weniger an freien Interpretationen, historischen Sachfehlern und der gelegentlich unklaren Quellenlage, sondern vielmehr daran, dass Scurati Mussolini und seine camicie nere nicht hart genug angepackt habe. Angesichts des immensen Publikumserfolges könnte er gleichwohl ein nonchalantes Me ne frego brummen. Benedikt Kaiser
M. Der Sohn des Jahrhunderts von Antonio Scurati kann man hier bestellen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.