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Montag, 15. März 2021

Deutsche Geschworene sprechen einen Gepeinigten, der zum Mörder wurde, frei

Vor 100 Jahren, am 15. März 1921 erschoss ein armenischer Attentäter in Berlin den früheren osmanischen Innenminister und Großwesir Talaat Pascha und damit einen Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern. Der folgende Mord-Prozess war legendär, denn er wurde zu einem Tribunal gegen die letzte Führungsriege des Osmanischen Reiches. Auf diese Weise wurde zum ersten Mal in der Geschichte ein Völkermord öffentlich vor Gericht verhandelt.

Der Tathergang war unzweifelhaft, schließlich hat der junge Armenier Solomon Teilirian sein Opfer am 15. März 1921 am hellichten Tage auf einer belebten Straße in Berlin-Charlottenburg erschossen. Eine Tatsache, die der Attentäter auch nicht leugnete. Er bestritt nur den Mordvorwurf, denn der Erschossene hätte den Tod verdient. Wäre der Begriff damals schon geläufig gewesen, ein Teil der Presse hätte ihn bestimmt einen Terroristen genannt.

Dass der Prozess ein Vierteljahr nach der Tat Aufsehen erregen würde, war klar. Doch das sensationelle Urteil hatte niemand erwartet.

Der Erschossene, Talaat Pascha, lebte unter falschem Namen im Berliner Exil. Nachdem der Krieg für das Osmanische Reich verloren war, hatte der Innenminister das Land im November 1918 in einem deutschen U-Boot verlassen. Während der kurzen Zeit einer den Siegermächten zugeneigten Übergangsregierung verurteilte ihn ein osmanisches Militärgericht in Konstantinopel in Abwesenheit zum Tode. Natürlich war der mächtige Mann aus der im Ersten Weltkrieg mit Deutschland verbündeten Türkei ein prominenter Mann. Der Presseauftrieb war also gewaltig, als am 2. Juni 1921 im legendären Großen Saal des Kriminalgerichts Berlin-Moabit der Prozess gegen Teilirian eröffnet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte der junge Armenier die öffentliche Meinung in Berlin noch mehrheitlich gegen sich. Wer auf offener Straße einen Menschen erschießt, kann auch kaum mit allzu großen Sympathien rechnen.

Doch ein Teil der wenigen Deutschen, die Kenntnis von den Massenmorden an den Armeniern hatten, wollten, dass die Öffentlichkeit davon erfährt und setzen sich für den Angeklagten ein. So kommt wahrscheinlich auch der Kontakt zu seinen Verteidigern zustande, denn Teilirians Verteidigung übernehmen renommierte Juristen: Prof. Dr. Kurt Niemeyer, Dr. Johannes Werthauer und Justizrat Dr. Adolf von Gordon. Diese Verteidiger waren bekannt als Koryphäen. Schon vor dem Krieg hatte Adolf von Gordon beispielsweise in einigen skandalträchtigen Prozessen prominente Mandanten vertreten. Jetzt kämpfen sie um das Leben des armenischen Attentäters. Sie wollen ihn vor dem Fallbeil bewahren. Dass ihre Strategie zu einem Freispruch führen könnte, davon wagen sie nicht zu träumen.

Da es unstrittig war, dass Teilirian die Todesschüsse gezielt auf Talaat Pascha abgegeben hatte, waren sie in keiner guten Ausgangsposition. Sie konnten nur versuchen, Verständnis für Tat und Täter zu wecken und hoffen, so die Geschworenen zu überzeugen, dass es sich bei dem Attentat nicht um einen Mord handelte, sondern um die Tötung eines zum Tode verurteilten Verbrechers.

„Nicht ich bin der Mörder“, ruft denn auch der Angeklagte in den Moabiter Gerichtssaal. Und die Verteidigung bietet Zeugen auf, die eindrücklich vom Völkermord an den Armeniern berichten. Das abscheuliche massenhafte Abschlachten der Deportationskolonnen, das Verhungernlassen derer, die die Deportation ins Wüsten-Lager Deir-es-Zor überlebt hatten, die Plünderungen und Vergewaltigungen – all das schildern die Augenzeugen. Publikum wie auch Geschworene sind schockiert, können die gehörten Grausamkeiten gar nicht glauben. Ebenso die Gerichtsreporter. Die Todesschüsse auf Talaat Pascha, die eigentlich zur Verhandlung stehen, wirken fast lächerlich im Vergleich zu all den Abscheulichkeiten, von denen nun im Gerichssaal gesprochen wird. Der Eindruck aller Beteiligten, dass hier ungewollt ein Völkermord vor Gericht verhandelt wird, ist unvermeidlich.

Die gelegentlichen Versuche der Staatsanwaltschaft, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen zu säen, scheitern spätestens an den Sachverständigen. Ursprünglich wollten die Verteidiger deutsche Diplomaten, die zwischen 1915 und 1918 im Osmanischen Reich ihren Dienst taten, vor Gericht zitieren. Die hatten zahlreiche Berichte über die Greueltaten, deren Augenzeugen sie wurden, an das Auswärtige Amt in Berlin geschrieben. Auch über die zynischen Stellungnahmen, die sie von türkischen Offiziellen zu den Deportationen und Massenmorden an den Armeniern bekommen hatten, finden sich ihre Berichte im Geheimen Archiv des Auswärtigen Amts. Einige der deutschen Diplomaten im Osmanischen Reich schrieben auch immer wieder in die deutsche Reichshauptstadt, dass ein energisches deutsches Eintreten die Armenier retten könne, ohne dass die militärische Zusammenarbeit gefährdet wäre. Die Beweiskraft dieser Aussagen und Unterlagen wäre unbestreitbar.

Doch die Aussagen der Diplomaten verhinderte das Auswärtige Amt. Sie erhielten keine Aussageerlaubnis vom Ministerium. Zu groß ist 1921 offenbar die Angst, als Mitwisser der Verbrechen aufzutreten. Es droht die unangenehme Frage, warum Deutschland als Verbündeter der Türkei nichts gegen diese massenhaften Verbrechen getan habe, warum eine christliche Nation das Abschlachten von Christen – neben den Armeniern wurden u.a. auch die Aramäer verfolgt – einfach schweigend hingenommen hat.

Die Sachverständigen, die sich von Gordon und seine Mitstreiter nun holten, machten allerdings bei den Geschworenen vielleicht noch mehr Eindruck.

Da war zuerst Dr. Johannes Lepsius, evangelischer Theologe und Orientalist, der sich schon seit Mitte der 1880er Jahre mit dem Leben und der Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich beschäftigte. Der Mitbegründer der Deutschen Orientmission setzte sich bereits für die Armenier ein, als sie Ende des 19. Jahrhunderts Opfer von Massakern wurden. Auch während des Völkermords ab 1915 weilte Lepsius im Osmanischen Reich, war vielfach Augenzeuge der Verbrechen und versuchte, sowohl bei den osmanischen Behörden etwas für die Armenier zu erreichen als auch deutsche Amtsträger in zahlreichen Schreiben zum Eingreifen zu bewegen.

Was seinen Aussagen fast amtlichen Charakter gab, war vor allem eine von ihm zwei Jahre vor dem Prozess veröffentlichte Dokumentensammlung über das Schicksal des armenischen Volkes während des Krieges. Die hatte er im Auftrag des Auswärtigen Amtes zusammengestellt und deshalb seinerzeit auch Zugang zu den amtlichen deutschen Dokumenten bekommen. Während das Amt vor allem auf Entlastung vom Vorwurf der Mittäterschaft hoffte, ging es Lepsius vor allem darum, die „Faktizität des Völkermords an den Armeniern“ zu beweisen. Diese – umgangssprachlich auch schlicht „Lepsiusdokumente“ genannte Sammlung – war nun ein unerschütterliches Beweisstück im Teilirian-Prozess.

Bei dem zweiten Sachverständigen hätte man die Bestätigung des Völkermords noch viel weniger erwartet: Otto Liman von Sanders. Der deutsche General war während des Krieges als osmanischer Marschall in der Türkei. Er kümmerte sich seit 1913 um die Reorganisation des türkischen Heeres und war maßgeblich verantwortlich für den Sieg der Türken in der Schlacht um Gallipoli (Dardanellen). Wahrscheinlich deshalb hatten ihn die Alliierten nach Kriegsende bis 1919 auf Malta interniert und der Mittäterschaft bei den Massakern an den Armeniern beschuldigt. Nach eigener Aussage, hatte sich Liman von Sanders hingegen den Armenier-Deportationen als Befehlshaber in Smyrna (heute Izmir) erfolgreich entgegen gestellt. Dem Wali (Gouverneur) der Region Smyrna, der aus Konstantinopel den Befehl zur Deportation der Armenier „ins Nichts“ bekommen hatte, hätte er angedroht, deren Vertreibung oder Tötung mit Waffengewalt zu unterbinden und sich damit durchgesetzt. Damit wäre Liman von Sanders ein Beispiel, dass die Deutschen durchaus Möglichkeiten zur Verhinderung des Mordens gehabt hätten.

Vor Gericht nun bestätigt der General die geschilderten Grausamkeiten des Völkermordes, entlastet sich von etwaiger Mitschuld und will auch nicht wissen, von wem genau in Konstantinopel der Befehl zum Genozid kam.

Doch das ist gar nicht mehr so wichtig, denn Talaats entscheidende Rolle als Innenminister im osmanischen Führungsgremium, dem bis Kriegsende herrschenden Jungtürkischen Komitee, ist unstrittig. Nur das Ausmaß der Grausamkeiten, die ein Kriegs-Verbündeter verübte, während auch deutsche Truppen im Lande standen, hatten die Deutschen zunächst nicht glauben wollen. Viele hatten ohnehin schon mit ihrer Rolle als Kriegsverlierer zu kämpfen, da wollten sie nicht auch noch Verbündete von Völkermördern gewesen sein.

Deshalb bemüht sich sowohl die Verteidigung als auch – wie zu erwarten war – der General Liman von Sanders darum, den Gegensatz zwischen den Massenmördern und dem „mutigen anatolischen Soldaten“ herauszustellen.

All das verfängt. Die Geschworenen sind, wie inzwischen ein Großteil der öffentlichen Meinung, erschüttert vom Schicksal der Armenier und auch konkret des Attentäters Soloman Teilirian. Er stellt sich als Einzeltäter dar und genießt als solcher nach all den verhandelten Grausamkeiten großes Verständnis. Wer möchte einem jungen Mann, dessen Familie brutal hingeschlachtet wurde, schon das Recht auf Vergeltung absprechen, zumal dann, wenn sein Opfer von einem Gericht in Konstantinopel zuvor schon zum Tode verurteilt worden ist. Was die Öffentlichkeit damals nicht weiß: Spontaner Einzeltäter ist Teilirian keineswegs. Der Anschlag auf Talaat war die geplante Aktion einer Gruppe. Hätten es die Zeitgenossen gewusst, hätten sie Solomon Teilirian für einen Terroristen gehalten? Ob die Einzeltäterschaft für das Urteil entscheidend war, kann niemand sagen. Das Gewicht des verhandelten Völkermords wäre in diesem Verfahren in jedem Fall erdrückend gewesen.

So sehr der Prozess gegen Solomon Teilirian inhaltlich auch zu einem Tribunal gegen die Verantwortlichen des Völkermords an den Armeniern geworden sein mag – das Urteil war trotzdem eine Sensation und ein Signal. Zwar hatte kaum noch jemand ein Todesurteil erwartet, doch bei allem Verständnis für den Racheakt des jungen Armeniers gingen die meisten Beobachter von einer Verurteilung zu einer moderaten Haftstrafe aus. Vor allem nach den Worten, mit denen der Vorsitzende Richter die Geschworenen in ihre Beratung schickte: „Im übrigen weise ich Sie darauf hin, daß nur auf Mord die Todesstrafe steht, daß aber bei Totschlag bei Annahme mildernder Umstände das Strafminimum sechs Monate Gefängnis ist“.

Doch nach nur einstündiger Beratung lautete die Entscheidung: Nicht schuldig. Teilirian wurde freigesprochen.

Eine deutsche Zeitung schrieb einen Tag nach der Urteilsverkündung: „Im Berliner Schwurgerichtsprozeß gegen Teilirian erwuchs dem deutschen Volk zum erstenmal das deutliche Bild des Großkriegsverbrechens. Hier handelt es sich nicht mehr um die Brutalität eines ob seiner Machtfülle größenwahnsinnig gewordenen Korporals, der schubst, pisakt, ohrfeigt und mit dem Gewehrkolben hantiert – hier stand ein ausgerottetes und niedergemetzeltes Volk aus seinen Gräbern auf, um laute Anklage gegen die Scheusäligkeit des Krieges, gegen die unerhörte Brutalität seines Henkers zu erheben“. Leider hat das deutsche Volk damals nicht verstanden, dass es selbst ebenfalls zu solchen Verbrechen fähig sein könnte.

Für einen später bedeutenden Juristen war das Verfahren in Berlin ebenfalls prägend: Raphael Lemkin, damals polnischer Jura-Student in Lemberg. Für Lemkin hinterließen diese beiden Tage im Kriminalgericht Berlin-Moabit die entscheidende Frage, warum es juristisch möglich war, einen Mann für einen Mord anzuklagen, es aber unmöglich war, einen Mann für den Mord an einem ganzen Volk zu verurteilen.

Seit dem Teilirian-Prozess hatte Lemkin diese Frage beschäftigt. Als prominenter polnischer Jurist schickte er einen Entwurf für eine völkerrechtliche Ahndung des Völkermords an den Völkerbund. Der blieb zunächst ohne Erfolg. Zu Kriegsbeginn 1939 emigriert Lemkin in die USA. Nach Kriegsende kommt Lemkin nach Nürnberg, als Assistent von Robert Jackson, dem amerikanischen Chefankläger beim Kriegsverbrecherprozess. Doch sein größter Erfolg ist es, als 1948 die UN-Generalversammlung einstimmig die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ beschließt. Maßgeblicher Autor: Raphael Lemkin, inspiriert vom Teilirian-Prozess.

Auch Solomon Teilirian landet am Ende seines Lebens in den USA, in Kalifornien. Nach dem Ende des Berliner Prozesses ging er zunächst nach Serbien, bzw. ins damalige Jugoslawien. Dort lebt ein Zweig der Familie. Und die Serben, als fast schon traditioneller Kriegsgegner des Osmanischen Reichs, verehren den Attentäter. Solomon heiratet in Serbien, ist aktiv in der armenischen Gemeinde des Balkanlandes und in Schützvereinen. Dort gilt er als meisterhafter Scharfschütze.

Aber er ist zu bekannt, als dass er diese Fähigkeit zur Mitwirkung an weiteren Attentaten seiner damaligen Gruppe, der Aktion Nemesis, nutzen könnte. Die bleibt dennoch aktiv, der Anschlag auf Talaat war nur der Anfang. Insgesamt starben in diesen Jahren acht frühere hohe Funktionsträger des Osmanischen Reichs durch Anschläge in ihrem jeweiligen Exil – in Berlin, Rom, Tadschikistan, Tiflis und auch in der Heimat, in Konstaninopel.

Einen solchen Prozess aber gab es nicht mehr. Die Attentäter wurden entweder nicht gefasst oder es gab kein Verfahren. Manchem wurden auch spätere, viel friedlichere Aktivitäten zum Verhängnis. Stepan Dzaghigian beispielsweise erschoss im Sommer 1922 Djemal Pascha in Tiflis und konnte entkommen. Doch er blieb in der sich stabilisierenden Sowjetunion und versuchte Hilfe für Armenier in sowjetischen Gefangenenlagern zu organisieren. Dafür kam er selbst ins Lager. Auf den Solowki-Inseln verliert sich seine Spur.

Die Familie Teilirian in Serbien überlebte den Zweiten Weltkrieg, doch im kommunistischen Jugoslawien fühlte sich Solomon nicht mehr wohl und ging 1956 nach Casablanca. Dort hatte er bald das Gefühl, dass ihm der türkische Geheimdienst auf den Fersen sei und reiste weiter in die USA. Die Transskription seines Namens veränderte er hier, Soghomon Tehlirian wird er nun in lateinischen Lettern geschrieben.

1960 starb Solomon in San Francisco und wurde im kalifornischen Fresno beerdigt. Als armenischer Volksheld bekam er ein eigenes Denkmal auf dem Friedhof.

War Solomon nun ein Terrorist oder ein Held? Ein Rächer? Ein Mördermörder?

Er hat es mit seiner Tat geschafft, dass der Völkermord an den Armeniern erstmals vor Gericht verhandelt wurde, dass überhaupt erstmals ein Völkermord vor Gericht kam. Das konnte er nicht geplant haben, aber es ist vielleicht der wichtigste Erfolg seines Anschlags.   Peter Grimm

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