Arthur M. Schlesingers „Die Spaltung Amerikas“ erschien mit über 20 Jahren Verspätung auf Deutsch. Wer die Wurzeln der Identitätspolitik verstehen will, die mittlerweile den gesamten Westen ergriffen hat, der kommt um dieses hoch luzide Buch nicht herum
Auch jahrelange Feldzüge, in denen die Frontlinien manchmal im Schlachtnebel verschwinden, beginnen mit einer ersten Salve auf ein begrenztes Ziel. Im Fall des amerikanischen Bürgerkriegs war das bekanntlich die Kanonade auf Fort Sumter am 12. April 1861. Brigadegeneral Pierre G.T. Beauregard, der damals das Feuer eröffnen ließ, hätte möglicherweise seine Hand zurückgezogen, wenn er gewusst hätte, welche Gemetzel in den kommenden vier Jahren folgen würden. Major Robert Anderson, Kommandeur von Sumter, wäre vielleicht schon vor dem ersten Schuss kapitulationsbereit gewesen und nicht erst einen Tag später, wenn er für einen Moment in die Zukunft geschaut hätte. Oder auch nicht, denn er hätte dann auch gewusst, dass seine Seite ganz am Ende gewinnen sollte.
Arthur M. Schlesingers „Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft“ handelt von einem Kriegsausbruch, der mit begrenzten Angriffen begonnen hatte, seit mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten anhält und mittlerweile die gesamte westliche Welt im Griff hält. Den Kulturkrieg leugnen mittlerweile nur noch wenige. Überall, wo jemand seine Existenz bestreitet, erinnern sich zumindest Ältere an Leonard Cohens Songzeilen: „There is a war between the ones who say there is a war / And the ones who say there isn’t.“
Im Sommer 2021 erreichte er seinen vorläufigen Höhepunkt, als nach dem Tod von George Floyd in den USA Denkmale niedergerissen oder abtransportiert wurden, selbst der Name Abraham Lincoln für manche Schulen nicht mehr als akzeptabel galt, als die Statue von Queen Victoria im britischen Leeds von Leuten beschmiert wurde, die sie, eine überzeugte Gegnerin der Sklaverei, als Vertreterin der Sklavenhalterkaste denunzierten, als weltweit gut 30 Menschen durch Ausschreitungen von Mobs starben, als geachtete liberale Professoren wegen eines als rassistisch oder auch nur als traumatisierend ausgelegten Satzes von ihren Lehrstühlen flogen und als klassische Musik an der Universität Oxford als kulturelles Erbe der Sklavenzeit verdammt wurde, in Kanada Bücher, die der neuen Orthodoxie nicht genügten, in Flammen aufgingen, und sich mehrere Kommissionen in Berlin an die Arbeit machten, um wenn schon nicht die Straßen, dann wenigsten die Straßennamen zu säubern.
In diesem Kulturkrieg gibt es ein teils verborgenes, mitunter aber auch offen ausgesprochenes Ziel: Das gesamte westliche Erbe einschließlich der Aufklärung soll zu einem einzigen weißen Schuld- und Schamkomplex schrumpfen. Die Bürgergesellschaft hat zu verschwinden zugunsten einer neuen tribalistischen, an Rasse, Herkunft und Religion und Geschlecht ausgerichteten Ordnung, in der es keine Individuen mehr gibt, sondern nur noch Angehörige von Identitätskollektiven.
Von den ersten Salven dieses Krieges erzählt Arthur M. Schlesingers Buch „Die Spaltung Amerikas“. Wer es liest, gibt dem Impuls nach, immer wieder ganz nach vorn zu blättern, um sich zu vergewissern, dass es im Original tatsächlich schon 1998 erschien. Nur wenige Autoren besaßen je die analytische Intelligenz und Prognosekraft des 1917 geborenen Historikers, der im äußerlich tiefsten Frieden der späten Clinton-Jahre schon alle Zutaten des kommenden identitätspolitischen Gemetzels erkannte. Auf Deutsch liegt Schlesingers Buch erst seit 2020 vor. Erst durch die lange Perspektive, durch den Rückblick des Autors bis in die Sechziger und weiter in die Vergangenheit und die Position des Lesers in der Gegenwart treten die Konturen dieser Auseinandersetzung in aller Deutlichkeit hervor.
Seine eigene Position versteckt Arthur M. Schlesinger Jr. In diesem Buch so wenig wie in seinen anderen Werken. Der 2007 gestorbene Historiker arbeitete als Redenschreiber für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Adlai Stevenson in den Fünfzigern, 1961 zog er als Sonderberater – gewissermaßen als Präsidentschaftschronist – mit John F. Kennedy ins Weiße Haus. Für seine Kennedy-Biografie erhielt er den Pulitzer-Preis. Der lebenslange Demokrat gehörte immer zu den entschiedenen Verfechtern der amerikanischen Idee in pluribus unum: niemand sollte seine biografischen Wurzeln leugnen oder beschneiden müssen, und trotzdem als amerikanische Bürger in seinen Rechten den anderen gleich sein. Mit der Emanzipation der Schwarzen zu gleichberechtigten Bürgern, wie sie Martin Luther King vorschwebte, wäre aus Schlesingers Sicht das amerikanische Versprechen erfüllt.
Sein Buch handelt davon, wie die Entwicklung, zunächst langsam und kaum bemerkt, nicht den Weg Kings nahm, sondern einen anderen: der Segregation, der Betonung ethnischer Unterschiede, der Identitätspolitik. Und die speiste sich erst einmal aus ganz verschiedenen Quellen. Schlesinger zitiert den weißen Philosophen Michael Novak, Autor von „The Rise of Unmeltable Ethnics“, der schon in den Siebzigern eine „neue ethnische Politik“ forderte, in der „Gruppen die Regeln, Ziele und verfahren der amerikanischen Politik“ steuern sollten, und nicht mehr Bürger. Der Autor erinnert auch daran, dass das „Ethnic Heritage Studies Program Act“, ein „Gesetz zur Untersuchung des ethnisches Erbes“ schon 1974 vom Kongress verabschiedet wurde. „Das Gesetz“, so Schlesinger, „ignorierte völlig jene Millionen von Amerikanern – sicherlich eine Mehrheit – , die es ablehnten, sich als einer bestimmten Gruppe zugehörig zu identifizieren.“ Von da aus brauchte es nur noch einen weiteren Schritt zu der Behauptung einer neuen Gelehrtenkaste, das gesamte an den Schulen und Universitäten gelehrte Wissen sei „weiß“, „eurozentrisch“ und setze damit die rassistische Unterdrückung aller Nichtweißen auch nach deren formalrechtlicher Emanzipation fort, so, wie es der amerikanische Afrozentrist Molefi Kete Asante in dem schon damals üblichen schrillen Anklageton formulierte: „In gewisser Hinsicht tötet das eurozentrische Curriculum unsere Kinder, es löscht ihr Bewusstsein aus.“
Dem Aufstieg akademischer Scharlatane wie Asante, Asa G. Hilliard, Amos Wilson und anderen, die behaupteten, Schwarze seien eigentlich den Weißen mental und genetisch bedingt überlegen (Wilson schrieb das der Melanin-Produktion zu), Afrika sei eigentlich die kulturelle Wiege der Menschheit (zu der wurde kurzerhand das alte Ägypten erklärt, das allerdings nie zu Schwarzafrika gehörte), und die alle Schwarzen in den USA kulturell zu „Afrikanern“ erklärten, dem Gespinst also, das am Anfang der heutigen Identitätsideologe stand, widmet Schlesinger einen mit präzisen Strichen gezeichneten Abriss mit teils umfangreichen Zitaten.
Die neuen Rassenideologen mit anderem Vorzeichen konzentrierten sich von Anfang an erfolgreich auf zwei Gebiete, die heute die Hauptschlachtfelder der Identitätspolitik bilden: Die Geschichtsschreibung – und die Schul- und Universitätsbildung. Ihren Einfluss konnten sie auch deshalb schnell ausweiten, weil sehr viele liberale Akademiker die historische Sklaverei in den USA mit guten Gründen für den großen entstellenden Fleck auf der amerikanischen Idee hielten (so auch Schlesinger), und die deshalb anders als Schlesinger glaubten, mit der Umschreibung von Lehrplänen und Geschichtsbüchern ließe sich früheres Unrecht wieder gutmachen. Geschichtsschreibung, stellt der Historiker Schlesinger fest, sei von mehr und mehr seiner Kollegen vor allem als Mittel zur Therapie ethnischer Minderheiten gesehen worden. „Werden schwarze Kinder wirklich besser in der Schule, wenn ihnen beigebracht wird, dass alles, was die Welt an Gutem hervorgebracht hat, letztlich aus Afrika stammt?“, fragt Schlesinger. Zu den Pointen der neuen kompensatorischen Rassenlehre gehört es, dass sowohl Ostasien als auch die ostasiatischen Einwanderer aus dem Bild geschnitten werden müssen: Erstens darf der Weltteil kulturell nichts zur Menschheitsgeschichte beigetragen haben, wenn alle wesentlichen Erfindungen aus Afrika stammen sollen. Und zweitens stört der unübersehbare akademische und wirtschaftliche Erfolg der Amerikaner mit ostasiatischen Wurzeln die These von der weißen Unterdrückung aller Nichtweißen erheblich. Auch die innerafrikanische (und muslimische) Sklaverei muss natürlich aus dem neuen Weltgeschichtsentwurf verschwinden. „Geschichtsschreibung als Therapie zu verwenden bedeute, die Geschichtsschreibung als solche zu korrumpieren“, urteilt Schlesinger. Der „Ethnizitätswahn“, so der Autor, sei eben keine Heilung, er verschärfe die Probleme noch, indem er behauptet, reale soziale Fragen mit scholastischer Quacksalberei, Geschichtsfälschung und Rassentheorie lösen zu können.
Schlesinger beschreibt, wie die neue Ideologie trotz ihrer intellektuellen Dürftigkeit schon in den Neunzigern die Universitäten erobert, die Schullehrpläne okkupiert – vor allem in stark demokratisch dominierten Städten wie New York oder Portland – und wie sie von dort aus in die Gesellschaft vordringt. Und wie diese Lehre ziemlich schnell ihre Mutationen hervorbrachte – etwa den „Ableismus“, also die angebliche Unterdrückung von Behinderten durch die zu starke Dominanz Nichtbehinderter, oder den „Heterosexismus“, der alle Nichtheterosexuellen zu strukturell Unterdrückten erklärt und künstlich ethnifizierte.
Auch das entsprechende Denunziationsklima in der akademischen Welt gegen alle, die sich der neuen Lehre nicht unterwerfen wollten, Kritik anmeldeten, oder, noch viel schlimmer, darüber spotteten, war in den Neunzigern schon weit ausgebildet. Diese Praxis, schreibt Schlesinger, erinnere ihn „an jene rechtsgerichteten Studenten, die in den Tagen Joe McCarthys bei liberalen Harvard-Professoren (wie mir) die Unterrichtsräume heimzusuchen pflegten in der Hoffnung, ein Büchlein von Marxismus vom Katheder herab erschnuppern zu können.“ Der Begriff „Hassrede“ zur argumentfreien Denunziation aller missliebigen Äußerungen war ebenfalls schon etabliert, als Schlesinger „Die Spaltung Amerikas“ verfasste. Darin besteht die gar nicht zu unterschätzende Lehre dieses Buchs, das mit über zwanzig Jahren Verspätung auf Deutsch vorliegt: Kein Begriff und keine Argumentationskette der Identitätspolitik ist neu. Ihre Wurzeln liegen in den siebziger Jahren, voll ausgebildet fand der Autor die Ideologie samt ihren Ablegern schon Ende der Neunziger vor. Schon gar nicht stellen Identitätspolitik und seine Speerspitze Black Lives Matter eine Reaktion auf Donald Trump oder ein Einzelereignis wie den Tod von George Floyd dar. Speziell für deutsche Leser – den meisten amerikanischen dürfte es geläufig sein – muss hier noch eingeschoben werden: kein US-Präsident wurde in absoluten Zahlen so stark von Schwarzen und Latinos gewählt wie Trump. Und in beiden Gruppen legte er 2020 noch einmal zu. Die Identitätspolitik findet ihre stärksten Unterstützer nicht etwa in den Gruppen, denen sie angeblich zugutekommen soll. Es handelt sich, wie der von Schlesinger zitierte Gunnar Myrdal schon bemerkenswert früh erkannte, bei der „Begierde nach ‚geschichtlicher Identität“ um einen „intellektuellen Oberklassen-Romantizismus“.
An einer Stelle zitiert Schlesinger auch Theodore Roosevelt: „Der einzige absolut sichere Weg, diese Nation zu ruinieren, bestünde darin, es zuzulassen, dass sie zu einem unentwirrbaren Knäuel sich zankender Nationalitäten wird“ – um hinzuzufügen: „was für Roosevelt ein Alptraum war, (ist) heute der Traum der multikulturellen Ideologen“.
Anders als bei dem amerikanischen Bürgerkrieg zeichnet sich nicht nur kein Ende ab. Es stellt sich auch die Frage, wer eigentlich in den USA und den anderen Ländern, in denen der Kulturkrieg geführt wird, irgendwann siegen soll, und was ein Sieger, wer auch immer es ist, dann mit der gründlich verbrannten Erde anfängt.
Das Buch gibt auf seinen gut 180 Seiten auch indirekt eine Antwort darauf, wie eine quasireligiöse Erlösungslehre von den Universitäten über die Schulen, in die Medien und schließlich in die Demokratische Partei überspringen konnte, und warum sich dieser Prozess bis ins Detail nur leicht zeitversetzt in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und eigentlich überall im Westen mit der gleichen Durchschlagskraft wiederholen konnte: Weil ihn zu viele am Beginn nicht ernst genug nahmen, und sich dann, als er seine destruktive Kraft entfaltete, sich nicht mehr trauten, ihm etwas entgegenzusetzen. Schlesinger traute sich. Aber auch er unterschätzte die Wucht dieser Ideologie – und das Phänomen, dass seine Ideologen sich in ihrem Missionseifer durch den wachsenden Widerstand nie gebremst, sondern bis heute immer nur bestätigt und immer neu gerechtfertigt fühlen.
„Die Situation an unseren Universitäten“, glaubte Schlesinger 1998, „wird sich bald von selbst berichtigen, sobald die große schweigende Mehrheit der Professoren ‚Genug‘ ruft und all das anficht, von dem sie weiß, dass es ein zeitgeistiges Geschwätz ist.“
Auch Ende 2021 tut das nur eine winzige Minderheit unter den Akademikern – während eine deutlich größere Gruppe schweigt, und eine Avantgarde ‘noch mehr‘ ruft. Wendt (etwas nach unten scrollen)
Arthur M. Schlesinger „Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft“. Deutsch von Paul Nellen, mit einem Vorwort von Sandra Kostner, ibidem, 180 Seiten, 22 Euro (Paperback), E-Book 9,99 Euro
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