Monikas Marons Roman „Stille Zeile 6” von 1991 erscheint neu – und erweist sich sogar als gegenwärtiger und politischer als vor dreißig Jahren
Nach ihrem Wechsel von S. Fischer zu Hoffman und Campe entschied sich der neue Verlag, alle Bücher Monika Marons noch einmal in der neuen literarischen Heimat herauszubringen. Für jüngere Leser und alle, die spät, womöglich erst durch den Konflikt der Autorin mit Fischer auf Maron aufmerksam wurden, bieten die Neuausgaben die Chance, ihre früheren Romane zu entdecken. Wer sich für Monika Marons „Stille Zeile 6“ von 1991 entscheidet, der kann hier ein für die Autorin nicht untypisches Phänomen wahrnehmen (übrigens auch beim Wiederlesen nach 30 Jahren): den langen Hall ihrer Geschichten in die Zeit hinein. „Stille Zeile 6“ wirkt 2021 nicht nur so aktuell wie damals, sondern aus dem Abstand sogar gewichtiger, gegenwärtiger, auch politischer. Unmittelbar nach dem Einschnitt von Mauerfall und Kollaps der Erziehungsdiktatur, der damals tief und endgültig wirkte, schien Marons Mitte der Achtziger in der DDR angesiedelte Geschichte nur noch zu erklären, was war. Heute kann es Lesern durchaus so vorkommen, als würden sie mit diesem Roman nicht nur einen Blick in den tiefen Brunnen der Vergangenheit werfen. Bei Karl Kraus heißt es: „Was vom Stoff lebt, stirbt mit dem Stoff, aber was von der Sprache lebt, lebt mit der Sprache.“ Bei Maron lebt beides, ihr Romanstoff, und ihre Erzählstimme.
„Stille Zeile 6“ spielt in einer Transformationszeit. Mitte der Achtziger verglimmen die letzten Zukunftsbilder, die führenden Kader und Sinnstifter der Staatspartei ein paar Jahrzehnte vorher entworfen hatten, um die Bevölkerung für ihre Gesellschaftsvorstellung zu begeistern. Niemand glaubt mehr an den weltweiten Sieg des Sozialismus, an das Überholen, ohne Einzuholen und den Bau-Auf-Optimismus. Jeder, auch die Kader selbst, wissen, dass Verfall, Verschleiß und Erstarrung das Klima im Land bestimmen. Viele Insassen des Staates reisen aus, oder sie ziehen sich ins Private zurück und warten darauf, dass die greisen Männer an der Spitze endlich verschwinden, ohne genau zu wissen, wer und was dann folgen soll. Und auch die Führungsgreise selbst scheinen nur noch ihre restliche Zeit abzusitzen.
Die Buchheldin und Erzählerin Rosalind Pokowski gehört zu den Aussteigern in diesem stillstehenden und ziellosen Land, in dem ständig von Fortschritt und Zukunft die Rede ist; Herbert Beerenbaum, mit dem sie eine Verbindung eingeht, die man nach heutigen Begriffen toxisch nennen würde, gehört zu den alten mächtigen Männern. Er wohnt noch wie andere Parteikader der zweiten und dritten Garnitur in dem Pankower Städtchen, dem früheren Viertel der Spitzenfunktionäre rund um den Majakowski-Ring, während der innerste Zirkel längst in ihrer eigenen hermetisch abgeriegelten Siedlung außerhalb von Berlin lebt. Rosalind Pokowski läuft zum Beginn durch das Städtchen, auf dem Weg zu Beerenbaums Beerdigung (der Leser erfährt ziemlich früh, wie die Begegnung zwischen ihnen ausgeht), und ihr Blick auf diese Straßenzüge setzen den Ton des Romans:
„Der Ort war öde wie eine Goldgräberstadt, deren Schätze erschöpft waren. Nur klapperte hier nirgends eine Tür oder ein Fensterflügel im Wind. Wie von Geisterhand wurde Ordnung gehalten, als wären die, die fort waren, immer noch da.“
Die Gründe für den Ausstieg der Erzählerin aus ihrem Beruf in einem Institut, in dem sie als Historikerin eine kleine Parzelle der Arbeiterbewegungsgeschichte zu beackern hatte, klingt erst einmal zeitlos und unpolitisch. Sie kommt eines Tages zu dem Schluss, „dass es eine Schande ist, für Geld zu denken.“ Gemeint ist: Sie will nicht mehr an der Sinnschöpfung für die Partei und diesen Staat mitwirken. In einem Café, in dem sie nun viel Zeit verbringt, trifft sie auf den gut doppelt so alten Professor Herbert Beerenbaum, eine ehemals wichtige Figur des DDR-Wissenschaftsbetriebs, der immer noch die Gesten der Macht beherrscht, allerdings, nach einem Schlaganfall, nicht mehr seine rechte Hand. Darunter leidet sein letztes großes Vorhaben, die Abfassung seiner Lebenserinnerungen. Er braucht eine Assistentin, der er seine Memoiren diktieren kann, Rosalind Pokowski braucht zwar nur wenig Geld, aber eben ein Minimum für Lebensmittel und Miete. Es gibt aber noch einen tieferen Grund, warum die beiden sich nicht nur handelseinig werden, sondern auf den nächsten Seiten geradezu ineinander verbeißen. Abgesehen davon, dass Beerenbaum, seit kurzem Witwer, sich wieder weibliche Gesellschaft wünscht, weckt die desillusionierte Frau auch seine Neugierde und seinen „polemischen Charakter“, den sie schon bei ihrer ersten Begegnung an ihm diagnostiziert. Darin ähnelt er Rosalind sogar. Sie, der die Funktionärswelt fremd ist, erkennt in ihm ihre Gegen- und sogar Hassfigur, die sie auf paradoxe Weise in ihr Schwerkraftfeld zieht.
Beerenbaums Lebenserinnerungen, die sie zu
Papier bringen soll, liegen als aufgeladene Atmosphäre zwischen ihnen.
Denn es handelt sich nicht um Memoiren. Beerenbaums Gedächtnis
funktioniert zwar exzellent, aber jemand wie er käme natürlich nicht auf
die Idee, das zu diktieren, woran er sich erinnert, beispielsweise an
das Moskauer Hotel „Lux“, in dem sich die kommunistischen Emigranten aus
Deutschland gegenseitig denunzierten, und in dem Stalins Geheimpolizei
in der Nacht Beerenbaums Genossen abholte. Ein Funktionär wie Herbert
Beerenbaum hält Selbsterforschung und Reflexion auch am Lebensende für
bürgerlichen Schnickschnack. Das Buch, das ihm Rosalind Pokowski in
seinem Haus in der Stillen Zeile tippen soll, dient ausschließlich der
Rechtfertigung – seines Lebens, seiner Partei und seines Staates. Dafür
braucht er auch gar keine eigene Sprache. Er benutzt dafür vorgestanzte,
schon tausende Male benutzte und bewährte Formelsätze. Eigentlich
könnte seine Assistentin das Werk auch ohne ihn fertigstellen, denn sie
kennt diese tote Sprache. „auch den Ton, in dem er sie sprechen sollte.
Alles hatte ich genau so schon gehört“. In der Szene wird sie zu seiner
Stimme: „Es war eine schöne, aber schwere Zeit, sagte ich, weil ich
wusste, dass dieser Satz jetzt gesagt werden musste.
Ja, sagte Beerenbaum, es war eine schwere, aber schöne Zeit. Und wir haben viel erreicht.
Und das werden Sie verteidigen gegen jeden, der…
…der das Rad der Geschichte zurückdrehen will. Jawohl, das werden wir, sagte Beerenbaum. Erst danach sah er mich erstaunt an.
Ich ahnte gar nicht, dass wir uns darin so einig sind.“
Worauf sie antwortet: „ich habe nur meinen Vater zitiert.“
Von ihm, Schuldirektor und Mitglied der neuen herrschenden Kaste, kennt sie all diese Wendungen, und vor allem die völlige Abdichtung des eigenen Gedankengebäudes gegen den „Ffeindt“, wie Beerenbaum das Wort ausspricht. Und Ffeindt, das ist zu diesem Zeitpunkt praktisch alles außerhalb der eigenen Überzeugungskapsel.
Davon erzählt Marons Buch: Wie durchaus intelligente und persönlich nicht bösartige Menschen es schaffen, ein Weltbild zu rechtfertigen, obwohl diese Welt um sie herum längst in Trümmern liegt. Rechtfertigungsmaschinen verfügen über ein Eigenleben. Sie laufen und laufen noch, wenn sonst nichts mehr funktioniert. Und irgendwann dient die Begründungsmaschine nicht mehr dem Funktionär, sondern umgekehrt.
Marons Buch bewegt sich auf zwei Bahnen. Eine verbindet Rosalinds Kindheitserinnerungen und die Begegnungen mit Beerenbaum, dem Wiedergänger ihres Vaters. Wie in einer griechischen Tragödie läuft die Beziehung zwischen den beiden unerbittlich auf das schon vorweggenommene Finale zu. Auf der anderen Spur folgen die Leser ihr ins Milieu der inneren DDR-Emigranten, ihrem Freundeskreis, zu dem ihr früherer Lebensgefährte Bruno gehört (auf gewisse Weise immer noch ihr Gefährte), außerdem ein Sinologe, der aus politischen Gründen in Haft saß, und die Klavierlehrerin Thekla Fleischer, die sich als Selbständige in einem Staat durchschlägt, der eigentlich keinen Platz für solche nicht angestellten Existenzen vorsieht. Westdeutschen und Jüngeren bietet sich hier der Blick auf eine DDR-Gesellschaft, zu der eben zwischen den Funktionären, den Angepassten und der kleinen Opposition auch die Zurückgezogenen gehörten. Bruno und der Sinologe sind gewitzt, hochgebildet und nicht gewillt, ihre Intelligenz diesem Staat zur Verfügung zu stellen. Und der Staat verzichtet seinerseits großzügig auf alle, die nicht sein Glaubensbekenntnis sprechen wollen.
Es gibt auch mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR erstaunlich wenig Literatur, die in diesem Staat spielt, und dabei etwas für die Gegenwart zu erzählen hätte. Und keins nähert sich so wie „Stille Zeile 6“ einem wichtigen mentalen Kern dieses Staates, dem ewigen intellektuellen Unterlegenheitsgefühl seiner herrschenden Funktionäre, die meist aus Handwerker- und Arbeiterfamilien des Kaiserreichs stammten, in den Straßenkämpfen der Weimarer Republik sozialisiert wurden, dann im politischen Untergrund des Nationalsozialismus und in der für sie oft genau so lebensgefährlichen Emigration in der Sowjetunion, und die dann verspätet ihre Erziehungsdiktatur errichteten, die sie eigentlich schon in den dreißiger Jahren verwirklichen wollten. Es fällt nicht schwer, ihre Selbstgerechtigkeit abstoßend zu finden, sich über ihre unbeholfene Funktionärssprache lustig zu machen. Bruno und der Sinologe tun das auch reichlich in ihrer kompensatorischen Verachtung. Rosalind ekelt sich außerdem vor Beerenbaums, wie es heißt, „Lurchgesicht“, vor seinen künstlichen Zähnen und seinen faltigen Händen.
Trotzdem, und darin liegt Marons Erzählkunst, wirkt ihr Buch nirgends denunziatorisch. Ihr Beerenbaum ist kein Pappkamerad zum Scheibenschießen, sondern eine Figur aus eigenem Recht. Die Autorin, Stieftochter des DDR-Innenministers Karl Maron, die 1988 die DDR verließ, nachdem ihr Debütroman „Flugasche“ nur im Westen erscheinen konnte, kennt die Welten gut, von denen sie erzählt. Trotzdem wäre es ein Fehler, die Hauptfigur des Romans einfach für eine literarische Stellvertreterin Monika Marons zu halten. Sie achtet im Gegenteil auf Distanz, auch zu ihrer Heldin.
In dem
raffinierten Aufbau des Romans liegt ein gewisser Verfremdungseffekt. Er
beschreibt die DDR im Jahr 1985 schon in einer End- und Übergangszeit,
also in einer Phase, in der noch der ZEIT-Hochtöner Theo Sommer mit
Einstecktuch und stasibetreut durch die DDR tourte und seinen Lesern
meldete, es ginge überall munter voran, und die DDR-Insassen brächten
Erich Honecker so etwas wie stille Verehrung entgegen. Die intellektuelle
Ausstattung, so etwas zu schreiben, ist das eine. Die Fähigkeit, dann
nach 1990 nicht etwa nur noch mit einer Papiertüte über dem Kopf an der
Alster zu spazieren, sondern sich unverändert als Welterklärer weiter zu
spreizen, das andere.
Rosalind Pokowski neigt bei ihren Besuchen in
der Stillen Zeile zu einer Milde, gegen die sie sich selbst wehrt. Denn
sie erlebt Beerenbaum als kranken Greis, nicht mehr als machtbewussten
Funktionär, der nicht zögert, andere ins Gefängnis zu schicken, die
seiner Meinung nach das Rad der Geschichte in die falsche Richtung
drehen könnten. Eben deshalb, weil Beerenbaum hinfällig ist, überlebt er
diese letzte Begegnung mit seiner Assistentin nicht.
Westdeutsche erfuhren nach 1990 die ehemaligen Herrscher der DDR ausschließlich so: den Diktator a. D. als Krebskranken, der sich mit Fistelstimme vor Gericht verteidigte. Den Geheimdienstchef als ridikülen Senior mit speckigem Lederhütchen.
Die meisten DDR-Erfahrenen lernten den
Staat kennen, den diese Männer im Vollbesitz ihrer Kraft prägten.
Darüber wiederum wollen sich viele Westdeutsche bis heute am liebsten
nichts oder nur Konfektioniertes erzählen lassen. Das Schweizer
Analyseinstitut MediaTenor und das Allensbach-Institut stellten 2021
fest, dass der Tenor der medialen Erzählungen über die DDR schon vor
einigen Jahren ins Positive kippte, besonders deutlich bei den
öffentlich-rechtlichen Anstalten. Das Land eines Herbert Beerenbaum
zeigen sie ihrem Publikum wahlweise als Klamotte oder als Kulisse für
privatistische Erzählungen – nur nicht als Diktatur. Nicht nur der
Bundespräsident scheint mittlerweile das deutsche Kaiserreich negativer
zu bewerten als den Ausläufer des sowjetischen Imperiums, der bis zur
Elbe reichte. Die Formel, man müsse aus der Geschichte lernen, damit sie
sich nicht wiederholt, gilt ausgerechnet für diese noch gar nicht so
entfernte Vergangenheit nicht.
In dieser Verdrängungsatmosphäre scheint es manchmal so, als wären die Figuren von damals auch heute immer noch da.
Wäre
Monika Marons „Stille Zeile 6“ nur ein Buch über die Vergangenheit – es
wäre auch drei Jahrzehnte nach seiner Erstausgabe noch gut und
lesenswert. Aber es ist eben sehr viel mehr: Kein Buch, dem das Etikett
‘DDR-Roman‘ genügen würde, sondern ein sehr gegenwärtiger und eigentlich
zeitloser Text über Begründungsapparate, die wie ein Perpetuum mobile
immer weiter klappern, obwohl ihnen keine Energie mehr zufließt. Ein
Buch über selbstauferlegte Blindheit. Und über das Phänomen, dass
gesprochene Formeln mehr Macht besitzen können als die Wirklichkeit.
Zumindest für einige Zeit. Wendt
Monika Maron „Stille Zeile 6“, Hoffman und Campe, 173 Seiten, 24 Euro (gebundene Ausgabe), E-Book 9,99 Euro
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