Stationen

Montag, 3. Juni 2024

Zunächst nichts, aber potentiell sehr viel

Was ist zu erwarten von den anstehenden EU-Wahlen?

Nichts“, weil das Parlament kaum ernstzunehmende institutionelle Kompetenzen besitzt bzw. alle wesentlichen Entscheidungen zusammen mit Rat und Kommission zu treffen hat – ein oft als „Demokratiedefizit“ verschrienes institutionelles Chaos, das freilich über Jahre hinweg ein zentrales Ansinnen der Nationalstaaten war, die ungerne zugunsten eines übermächtigen EU-Parlaments auf intergouvernementale Lösungen mitsamt Vetorecht verzichten wollten. Das Parlament, für sich selbst genommen, hat daher nur recht wenig Ellenbogenfreiheit, was dazu geführt hat, dass vor allem euroskeptische Wähler sich oft genug gar nicht erst darauf einlassen, einen Teil ihres Sonntags zu opfern, um an den angeblich ohnehin „nutzlosen“ Wahlen teilzunehmen – seit jeher ein ernstes Mobilisierungsproblem für die EU-kritischen Parteien.

Unglaublich viel“, weil das Parlament aus verschiedenen Gründen ein immer stärkeres „moralisches“ Gewicht besitzt; ein Gewicht, das ihm zwar nicht aufgrund der Institutionen zukommt, das ihm aber interessanterweise zunehmend von außen angetragen wird. Ob es sich um die Massenmedien, die nationalen Regierungen, die Gerichtshöfe, ja selbst die Kommission handelt: Alle müssten es eigentlich besser wissen, berufen sich aber immer wieder enthusiastisch auf das Parlament und seine formal eigentlich weitgehend wertlosen Resolutionen und Empfehlungen und lassen ihm somit implizit einen Einfluss zukommen, der eigentlich in den Verträgen gar nicht vorgesehen ist. Wieso?

Zumindest in den Medien mag Unwissenheit tatsächlich eine gewisse Rolle spielen; die echten Gründe dürften aber anderswo liegen. Zum einen ist das Parlament tatsächlich das einzige demokratisch halbwegs direkt gewählte Gremium der EU und besitzt somit tatsächlich eine formale Legitimität, die nach konkreter Umsetzung förmlich schreit; zum anderen ist das Parlament seit Jahren fest in der Hand linksgrüner euroföderalistischer Lobbys und bietet somit vielen ebenso gesonnenen nationalen Regierungen eine perfekte „höhere“ Instanz zur Selbstlegitimation – und was als praktischer „Trick“ begonnen hat, wird allmählich zum Automatismus, sodass aus der fiktiven bald eine echte Autorität zu werden beginnt.
EVP: Machtverschiebung nach rechts?

Die Wahl zum EU-Parlament darf also nicht auf die leichte Schulter genommen werden; auch und gerade von jenen Parteien, die die EU von Grund auf im Sinne von Tradition und Identität verändern wollen, und die bei den folgenden Überlegungen im Zentrum stehen sollen. Gerade bei diesen Kräften hat es im Laufe der letzten Monate bezeichnenderweise auch die meisten Veränderungen gegeben, sodass die Situation bis zu den Wahlen sehr volatil bleiben könnte – auch aufgrund der völlig unsicheren Wahlbeteiligung, die bei den letzten Wahlen von 2019 unerwartet von ca. 42,6 Prozent auf 50,9 Prozent hochgeschnellt war.

Denn die zentristische Europäische Volkspartei (EVP) wird trotz erneuter leichter Verluste mit wahrscheinlich 180 Sitzen stärkste Fraktion bleiben (gegen 187 im Jahr 2019), während die Sozialdemokraten (S&D) mit 138 Sitzen deutliche, aber nicht desaströse Verluste verzeichnen (gegen 148) (die Zahlen folgen der Umfrage von „Europe Elects“ vom 27.5.2024). Die Grünen (G/EFA) und die Liberalen (RE) zählen mit 56 Sitzen gegen vormals 67 bzw. 86 Sitzen gegen vormals 97 zu den statistischen Hauptverlierern; auch wegen der desaströsen Zustimmungswerte zur Ampel in Deutschland und zu Emmanuel Macron in Frankreich – wozu dann noch der mögliche Ausschluss der niederländischen Liberalen aufgrund ihrer Koalition mit Wilders kommen könnte. Auch die „Linken“ scheinen sich trotz zwischenzeitlich volatilen Ausschlagens der Stimmungsbilder mit 39 Sitzen gegenüber vormals 40 recht gleichmäßig zu halten.

Nur die konservativen EU-Skeptiker wurden in den letzten Monaten oft als die wahren „Gewinner“ der Wahlen betrachtet, und in der Tat lagen sie nach „Der Föderalist“ noch am 26.4.2024 bei respektive 86 und 99 Sitzen – im Vergleich zu den 62 und 76, die sie bei den letzten Wahlen von 2019 erringen konnten, ein mehr als beachtlicher Zugewinn, der auf der einen Seite die wie erwartet schockierten Artikel in den Mainstream-Medien hervorgebracht hatte, auf der anderen Seite erste vorsichtige Kontaktaufnahmen Ursula von der Leyens, die – wie auch 2019 – ohne eine Unterstützung von zumindest Teilen der EKR Probleme haben könnte, als Kommissionspräsidentin bestätigt zu werden.

Diese erhoffte Unterstützung läge umso näher, als die neue Kommission, die 2024 gebildet werden muss, erheblich „rechter“ ausfallen wird als die letzte und entsprechend stärkere Opposition von Seiten der Linken und Grünen erleben dürfte – wobei das Wort „rechts“ bewusst in Anführungszeichen gesetzt wurde. Denn von 27 europäischen Regierungschefs gehören gegenwärtig 11 der EVP an, 5 den Liberalen und 2 der EKR (Italien und Tschechien), während 4 den Sozialdemokraten und insgesamt 5 keiner festen Gruppe zugehören. Dies dürfte (mit nur leichten Varianten etwa in Bezug auf die Niederlande) auch die parteipolitische Zusammensetzung der neuen Kommission präfigurieren und das wachsende Gewicht der EVP dokumentieren, deren inhaltliche Ausrichtung freilich spätestens seit der völligen Entkernung der CDU, die analog zum Fall der anderen Christdemokraten stattfand, kaum noch als wirklich „rechts“ bezeichnet werden kann.

Will sagen: Die EVP mag in Einzelfragen wie der Nominierung von der Leyens weiterhin auf gelegentliche Unterstützung seitens der EKR hoffen; insgesamt wird man sich aber auch im neuen EU-Parlament auf eine Erneuerung der „Brandmauer“ gefasst machen müssen. Denn angesichts des medialen Drucks gerade aus Deutschland wäre eine festere Koalition zwischen einer mehrheitlich von der CDU dominierten EVP und einer von den italienischen „Fratelli“ und der polnischen „PiS“ dominierten EKR völlig undenkbar – umso mehr, als gerade in der EKR die größten Veränderungen zu erwarten sind.

Denn im Vergleich zum oben genannten Höhenflug sind sowohl EKR als auch ID deutlich eingebrochen und liegen mittlerweile noch bei respektive 75 und 68 Sitzen. Zwar bedeutet auch dies im Vergleich zu 2019 immerhin noch einen satten Zugewinn von 13 Sitzen bei der EKR (vor allem dank Melonis „Fratelli“, die von 10 Sitzen auf 22 anwachsen, während PiS von 24 auf 18 einbrechen dürfte), und auch die ID hat de facto stark zugelegt: Denn wenn sie im Vergleich zu 2019 auch 8 Sitze verloren zu haben scheint, hat sie doch in derselben Zeit auch die 16 Sitze der mittlerweile ausgeschlossenen AfD verloren, so dass die verbleibenden Parteien also eigentlich 8 Sitze dazugewonnen haben – größtenteils dank Marine Le Pens Partei „Rassemblement National“, die wohl von 16 auf 30 Sitzen anwachsen dürfte und zusammen mit weiteren anderen Parteien die Verluste der einbrechenden italienischen „Lega“ Salvinis mehr als wettmachen konnte. Der von vielen Medien beschworene „populistische Durchmarsch“ mitsamt baldigem Ende der europäischen Demokratie bleibt allerdings wohl wieder einmal aus.

Es sind in diesem Lager also vor allem Marine Le Pen, Giorgia Meloni und Kaczyńskis schwächelnde, aber immer noch starke PiS, die als wesentliche Zugpferde der EU-Kritiker im neuen Parlament fungieren werden, sekundiert von Orbáns „Fidesz“, wenn diese auch von 12 auf 10 Sitze sinken dürfte und immer noch unklar ist, welcher Parteiengruppe sie sich nach dem Rauswurf aus der EVP anschließen wird. Diese Parteien haben sich in wechselnden Konstellationen in den letzten Jahren gleich mehrfach getroffen und intensiv abgesprochen und hatten bereits im Juli 2021 die „Gemeinsame Erklärung“ unterzeichnet, die von RN, PiS, Fidesz, Lega, Fratelli, Vox, FPÖ, Vlaams Belang und einigen kleineren Parteien getragen wurde – ohne Beteiligung der AfD. Denn diese scheint im Laufe der letzten Jahre zunehmend zu einem Störfaktor bei der Annäherung zwischen ID und EKR geworden zu sein: Die Dexit-Programmatik ist fast allen Partnern ein Dorn im Auge, der ominöse Versuch einer „erinnerungspolitischen Kehrtwende um 180 Grad“ widerspricht Le Pens erfolgreicher Entdämonisierungs-Strategie, das über Gebühr selbst von der Parteiführung der AfD strapazierte Wort von der „Melonisierung“ der Rechten hat bei der italienischen Regierungschefin begreiflicherweise nur wenig Sympathien generiert, die Verstrickungen in russische und chinesische Netzwerke widerspricht dem dezidiert atlantischen Kurs der PiS und der vorsichtigen atlantischen Annäherung Le Pens und Melonis, die Abhängigkeit der ungarischen Industrie von süddeutschen Investoren macht eine Annäherung zwischen Orbán und AfD zu einem Ding der Unmöglichkeit, und es ließen sich noch zahlreiche weitere Gründe anführen – allen voran auch im Bereich der europäischen Wirtschafts-, Schulden- und Finanzpolitik.

Konvergenz der Rechten

Freilich: Eine echte Fusion zwischen EKR und ID dürfte vorläufig ein Ding der Unmöglichkeit sein, da sich in beiden Gruppen jeweils nationale Konkurrenten befinden, die kaum ohne weiteres in einer einzigen Gruppe zusammensitzen wollen (wie etwa NVA und Vlaams Belang; Lega und Fratelli; RN und Reconquête; PiS und Konfederacja). Trotzdem stellt sich die Frage, inwieweit die machtpolitische Anziehungskraft der jeweils „größeren“ Parteien, die Regierungsfähigkeit bewiesen haben bzw. beweisen wie PiS, Fratelli, Fidesz, PVV, FPÖ, ODS, in Grenzen auch NVA und Vox (und schließlich möglicherweise bald auch RN) groß genug sein könnte, um entweder über die Grenzen der Gruppen hinaus feste institutionelle Absprachen zu ermöglichen oder vielleicht sogar eine Liquidierung der jeweils störenden minoritären Partner durch Abschiebung in eine kleinere Hooligan-Gruppe zu bewirken, um somit unter den „Gewinnern“ und entsprechenden willigen Partnern eine neue große Fraktion zu bilden.

Eine solche hypothetische Gruppe oder Koalition würde sich zwar durch die üblichen identitätspolitischen Punkte wie Kritik an Massenmigration, Gender-Theorie, EU-Föderalismus, Multikulturalismus, Medienzensur, Globalismus oder Klimahysterie auszeichnen, gleichzeitig aber eher eine konstruktive als destruktive Haltung gegenüber der dringend nötigen EU- und Euro-Reform einnehmen und auch eine radikal anti-amerikanische Haltung vermeiden. Helfen dürfte das den beteiligten Parteien gegenüber der Brüsseler Medien- und Polit-Elite zwar zunächst nur wenig angesichts der zu erwartenden „Brandmauer“. Es steht aber zu erwarten, dass diese Strategie zumindest in den Augen des Bürgers mittelfristig die erfolgsversprechendste ist. Denn während die Abneigung gegen Woke zunehmend wächst, ist ein Austritt aus EU oder Euro nur für verschwindende Minderheiten noch eine attraktive Option; und auch das amerikanische Bündnis würde wohl nur ein Bruchteil der Europäer zugunsten eines Zusammengangs mit Russland, China und Iran aufgeben wollen, während sich durchaus eine signifikante Unterstützung für den Gedanken einer allmählichen strategischen Augenhöhe mit dem atlantischen Partner finden dürfte.

Und schließlich und endlich sitzt auch heute noch der Vorwurf von „Nationalismus“, „Rechtsextremismus“ und „Anti-Europäismus“ tief: Je mehr patriotische Parteien ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zum gemeinsamen Einsatz für eine zunehmend bedrohte abendländische Zivilisation beweisen, desto erfolgreicher können sie die Haltlosigkeit der entsprechenden Vorwürfe unter Beweis stellen.

Keine Zukunft ohne Deutschland

Nun liegt freilich auf der Hand, dass eine solche formelle oder informelle Konstellation zwar ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer realistischen und ebenso mehrheits- wie regierungsfähigen konservativen Alternative auf EU-Niveau sein dürfte, aber alles andere als eine Endstation ist. Denn so begrüßenswert eine Abstimmung zwischen den oben genannten Parteien in Spanien, Frankreich, Italien, Polen, Ungarn, Belgien, Österreich, Tschechien, den Niederlanden und vielen anderen sein mag – ohne eine solide Verankerung auch in Deutschland wird sie scheitern. Die deutschen und die europäischen Konservativen sind, ob sie es wollen oder nicht, aufeinander angewiesen, denn keiner von beiden wird seine Vorstellungen ohne die Unterstützung der anderen langfristig auch nur ansatzweise durchsetzen können: Zu groß ist auf der einen Seite das demographische und wirtschaftliche Gewicht Deutschlands, zu groß ist aber auch dessen Verflechtung in die gesellschaftlichen Gefüge der Nachbarn.

Wer diese Realitäten übersieht, um jeweils gegen den anderen Politik zu machen, schadet sich schließlich selbst und fördert damit nur die Interessen raumfremder Mächte, ob im Westen oder im Osten. Es hätte daher eine große Chance für alle sein können, wenn die AfD schon an diesem Punkt an der sich abzeichnenden großen Konvergenz hätte mitarbeiten können. Vielleicht bringt aber die gegenwärtige Lage eine gewisse Beschleunigung bei der Herausbildung eines abendländisch-patriotischen Konsenses mit sich, der dann in Zukunft programmatisch so gefestigt ist, dass er seinerseits eine Neuorientierung der inhaltlich und organisatorisch immer noch eher diffusen AfD erleichtern könnte.   David Engels

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