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Dienstag, 19. März 2019

Alles für die Katz



Diverse EU-Staaten mit schnell wachsenden muslimischen Minderheiten sehen sich mit einem importierten, oft gewalttätigen Antisemitismus konfrontiert. In den deutschen Medien wird zwar immer noch mit Hinweis auf die Polizeistatistik der Eindruck vermittelt, dass der Grossteil der antisemitischen Taten auf das Konto von Rechtsextremen gehe. Doch die registrierten Anzeigen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mobbing und Gewalt gegenüber Juden zunehmend von muslimischen Einwanderern ausgeht. So hat sich in Berlin, der Stadt mit der grössten jüdischen Gemeinde, die Anzahl der antisemitischen Taten seit 2013 verdoppelt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich der deutsche Rechtsstaat, ähnlich wie in Frankreich oder Schweden, wo das Phänomen bereits länger in Erscheinung getreten ist, weitgehend ratlos.
Dennoch mutet der gleiche Antisemitismus im «Land der Täter» anders als in genannten Staaten an. In keinem anderen Land ist die Geschichte des eigenen Verbrechens so schonungslos aufgearbeitet worden wie in Deutschland. In der Rigorosität ihrer Selbstbezichtigung, in der ideologisch-moralischen Ablehnung einer positiven nationalen Identität war die Bundesrepublik unter den Nationen ohne Beispiel. Das deutsche Selbstverständnis speist sich aus einem präzedenzlosen moralischen Zivilisationsbruch, dem Holocaust, und dessen erfolgreichen Überwindung.

Deshalb markiert das Aufkommen des gewalttätigen Antisemitismus in Deutschland eine Zäsur. Er lässt die Aufarbeitung der Geschichte und vor allem deren in Stein gemeisselte Lehren als eine vorübergehende Phase erscheinen, die mit dem Generationenwechsel, besonders aber mit einem zunehmenden Anteil von Heranwachsenden aus anderen Kulturkreisen ihre zivilisierende und identitätsstiftende Wirkung einzubüssen droht. Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 wird die Kluft zwischen der institutionalisierten Reproduktion der Erinnerungskultur und der in schnellem Wandel begriffenen Realität immer offensichtlicher.

Dank dieser Kluft wird eine bisher kaum wahrgenommene Kehrseite der «historischen Verantwortung» sichtbar: die negative, aus Schuldbewusstsein gespeiste Identität der Deutschen, die Reduktion der wachsenden weltpolitischen Komplexität auf ein binares Täter-Opfer-Schema und die inflationäre Übertragung eines singulären Zivilisationsbruchs auf andere, oft selbstverschuldete Konflikte und Greueltaten.
Vor kurzem sorgte die Aussage des verstorbenen Modemachers Karl Lagerfeld für Empörung, der im freien Geleit für muslimische Flüchtlinge einen Verrat an der historischen Verpflichtung der Deutschen sah: «Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen liegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde holen.» Der Gedanke mag überzogen erscheinen, aber er hat einen wahren Kern. Ausgerechnet der verinnerlichte Schuld-und-Sühne-Reflex, der die Projektion der aus dem Holocaust abgeleiteten kollektiven Schuld auf die «schlimmsten Feinde» der Juden erleichtert zu haben scheint, beförderte in der Flüchtlingskrise die Allmachtsphantasien der deutschen Öffentlichkeit und die Hybris als moralische Grossmacht. Die «Lehren aus der Geschichte» und die «besondere Verantwortung» der Deutschen haben dazu beigetragen, dass sie sich in verändertem Kontext zu «wiederholen» droht.

In Anbetracht des neuen, importierten Antisemitismus der «Opfer» erscheint nicht unwesentlich, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit ihre Blüte in einer Zeit hatte, als in der Bundesrepublik nur eine geringe Zahl von Juden lebte, die abgesehen von wenigen prominenten Ausnahmen kaum sichtbar waren. Die meisten Deutschen kamen mit ihnen nicht in Berührung. Umso unproblematischer liess sich ein «Philosemitismus ohne Juden» entfalten und tradierte Vorurteile bekämpfen.
Um Bekanntschaft mit dem neuen Antisemitismus zu machen und die neue Bedrohung kennenzulernen, mussten Juden überhaupt erst wieder in Deutschland präsent und sichtbar sein. Das geschah nach der Wende. Den ersten Schritt unternahm 1990 die damalige, letzte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière, die beschloss, Juden aus der Sowjetunion Asyl anzubieten. Nach der Meinung der Migrationsforscherin Ljudmila Belkin lagen der Aufnahmeentscheidung die Bemühungen der Regierung de Maizière zugrunde, «das Bestehen eines separaten, souveränen ostdeutschen Staates zu legitimieren – eine Legitimierung, die dem Selbstverständnis der DDR als antifaschistischer Staat, als Staat der Verfolgten und der Opfer des Nationalsozialismus, entsprach». Die historische Motivation der Asylgewährung habe den jüdischen Einwanderern einen besonderen Status verliehen, der sie von «normalen» Asylbewerbern abgehoben habe und «grösserenteils nicht gerechtfertigt» gewesen sei.
Die Einreise der jüdischen Flüchtlinge nach Deutschland begann nicht wie üblich mit Asylgesuchen, sondern mit einem Asylangebot: Das Aufnahmeland verpflichtete sich selbst und ergriff die Initiative.* Dadurch stellte die Übertragung der historischen Verantwortung auf die Asylpraxis den rechtlichen Begriff des Asyls infrage, was bei der späteren Konstruktion des «jüdischen Kontingentflüchtlings» deutlich geworden sei: Als zentrales Aufnahmekriterium galt für die jüdischen Kontingentflüchtlinge nicht die Verfolgung, sondern die Zugehörigkeit zu der ehemals verfolgten Ethnie.
Forscher wie der Historiker Michal Bodemann, auf den Belkin hinweist, enthüllten das Verantwortungsparadigma sowie die Sonderstellung der jüdischen Migranten als «Symbol-Politik»*, die das Ziel verfolgte, die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft nach dem Holocaust zu demonstrieren und zu legitimieren. Im «Hype des Verantwortungsdenkens» träumte die deutsche Gesellschaft ihren Traum von der Revitalisierung des jüdischen Geistes- und Kulturlebens in Deutschland – im Sinne der reparativen Gerechtigkeit des neuen deutschen Staates. Juden seien ein** «Geschenk» gewesen.
Inzwischen leben in der Bundesrepublik Deutschland an die 250 000 Juden, grösstenteils aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Weniger als die Hälfte von ihnen sind in den Gemeinden organisiert. Der neue Antisemitismus richtet sich also überwiegend gegen die Gruppe, die als «Geschenk» und Symbol des «Verantwortungsdenkens» nach Deutschland eingeladen wurde, dazu noch gegen den Willen der israelischen Regierung.

Die Bundesrepublik bekam die Juden nicht «plötzlich geschenkt». Man hat sie extra eingeladen, um zuerst die Erneuerung der DDR und dann den Lehren aus dem Holocaust im wiedervereinigten Deutschland eine praktische Dimension zu verleihen. Endlich dürften Juden ohne Angst vor Verfolgung im Rechtsstaat frei leben. Dass nun das neue «Geschenk» der «Willkommenskultur» das alte jagt, könnte man als jüdischen Witz abtun, wenn der Bankrott der «historischen Verantwortung» und einer daraus abgeleiteten «humanitären» Politik nicht so offensichtlich wäre. Aus jüdischer Sicht ist es nicht entscheidend, ob man stellvertretend für israelische Politik oder wegen des Judenhasses Gefahr läuft, Mobbing und Gewalt ausgesetzt zu werden.
Der neue Antisemitismus in Deutschland zieht den Schlussstrich unter die bisherige Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte. Das geschieht nicht dank subversiver Aktivitäten der AfD oder den «linksrechten Intellektuellen», die der Schriftsteller Maxim Biller sich als Relativierer des Holocaust und Totengräber der Demokratie vorgeknöpft hat. Der Schlussstrich wird gezogen nicht von einer Verschwörung dunkler Mächte, auch musste niemand die Singularität des Holocaust bestreiten oder die NS-Herrschaft relativieren.

Der Schlussstrich manifestiert sich in der von niemandem beabsichtigten, aber nun unbestreitbaren Tatsache, dass Juden, die nach der Wende eine privilegierte Aufnahme genossen, zunehmend antisemitischen Angriffen ausgesetzt sind und an Auswanderung denken. In dieser Hinsicht ist Deutschland im Begriff, ein «normales Land» zu werden.   Sonja Margolina



 * Israel protestierte damals, nachdem 10000 Juden nach Deutschland gekommen waren (statt nach Israel), Schuldgefühle seien kein ausreichender Grund, um Asyl zu gewähren. Die FAZ unterschlug in ihrer bräsigen Kaltschnäuzigkeit bei der Berichterstattung über diese israelische Note, dass die Juden aus der Sowjetunion nicht aus eigener Initiative kamen, sondern von Deutschland durch De Maizieres Anwerbung herbeigerufen wurden (genau wie Merkel später via Selfie deutsche Hilfsbereitschaft ins Schaufenster stellte; dieses Land ist reif für die Klapsmühle). Das Fernsehen produzierte Dokumentationen, in denen Deutsche, die in den Aufnahmestrukturen und der Erinnerungsindustrie tätig waren, wichtigtuerisch über die große Verantwortung sprachen, die durch den Vertrauensvorschuss der Juden entstehe, die sich für Deutschland entschieden hätten. Auch hier kein Sterbenswörtchen über De Maizieres Initiative.
Der Gipfel dieser elendigen Veranstaltung wird aber erst erreicht, als die Berichterstattung von FAZ und Fernsehen, die beide über das "Denkmal der Schande" in Berlin (das Maxim Biller so treffend als Triumphbogen des Genocids bezeichnet hat) rauf und runter berichtet hatten, dem Friedensmal in Bernsheim versagt wurde, "weil es nur regionale Bedeutung" habe. Das masochistische Schandmal des Denkens in Berlin, das eigentlich ein Triumphbogen des Grauens ist, ist laut FAZ also von nationaler, wenn nicht galaktischer Bedeutung, das Friedensmal in Bensheim dagegen soll nur regionale Bedeutung haben. Pfui Deibel.

**herbeigelocktes

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