"Wer die Dinge zu illusionslos sieht, stirbt kinderlos – man denke an
Figuren wie Leopardi, Schopenhauer, Nietzsche usw. Wir stammen nicht
von Menschen ab, die nach den ersten Mißerfolgen den Kopf hängen ließen.
Unsere Vorfahren sind eher robuste Frohnaturen, sanguinische Schwindler
oder verbissene Bastler, die immer auf die nächste Chance warteten.
(...) Adam war ein Handlungsreisender, der neunundvierzig Mal vergeblich
klingelte und doch überzeugt blieb, an der nächsten Tür sein Zeug an
den Mann zu bringen. Das ist der Anfang des heiligen Buchs vom
männlichen Mißerfolg. Wir existieren, weil wir Vorfahren hatten, die aus
ihren Erfahrungen nichts lernten. Diese Burschen ließen die Niederlagen
an sich abtropfen wie warmen Regen über der Savanne. Biologen nennen
das: erotische Fitness aufgrund hoher Mißerfolgstoleranz. Im Alltag wird
diese Haltung als Selbstüberschätzung oder als männliche Großspurigkeit
mißinterpretiert. Man will nicht zugeben, daß Männer auf
Ausgelachtwerden, Verhöhnung und Mißerfolg genetisch besser vorbereitet
sind."
Peter Sloterdijk, "Zeilen und Tage"
Die
Situation der Bundestagsparteien vor dem Eintreffen der AfD-Aliens muss
man sich ungefähr vorstellen wie eine "Käfer"-Box auf der Wies’n:
Schlemmend, saufend, schwatzend, stets bereit, sich auf Kommando
unterzuhaken und loszuschunkeln, saßen die Volksvertreter in
selbstgefälliger Eintracht beieinander, die Musi spielte hin und wieder
einen Tusch auf die Chefin, in den alle einstimmten, die Rechnung hatte
der Veranstalter im Voraus bezahlt, und wenn ein naseweiser Vertreter
des Pöbels, den die Security unbegreiflicherweise hatte passieren
lassen, sich erkundigte, ob noch ein Platz frei sei, wurde er mit einem
unwilligen Grunzen des Raumes verwiesen. Schließlich hatte man die Box
exklusiv und auf Jahre gebucht.
Das ist nun vorbei. Das wirkliche
Problem, welches die System- oder Kartellparteien mit dem neuen
politischen Mitbewerber haben, ist gar kein primär politisches,
zumindest sind politische Begriffe für dessen Beschreibung wenig
hilfreich, sondern man sollte vielmehr die Ethologie bemühen. Das Revier
ist bedroht. Es sind "Feinde im Lager!" (so ein erschrockener Hurone im
DEFA-Film "Chingachgook, die große Schlange"). Man ist nicht mehr unter
sich. Die so gerne andere kontrollieren, werden plötzlich selber
kontrolliert.
Und sie hatten es sich so gemütlich eingerichtet im
großen Demokratiesimulationstheater Bundestag, mit eigenem Fahrdienst,
Bedienten mit weißen Handschuhen, Vorkriegspreisen in der
Parlamentarischen Gesellschaft, eigenen Restaurants, eigenem Reisebüro
und jenem rund um die Uhr bewachten, mit Tunneln und Brücken verbundenen
Büro- und Sitzungssaal-Kosmos um den Reichstag. Mit eigenen Regeln,
eigenen Tagesordnungen, eigenen Floskeln, eigenen
Problemverleugnungsmechanismen und sich wechselseitig die eigene
Bedeutung versichernd.
So gehört es beispielsweise zu den
Gepflogenheiten, Plenardebatten und Ausschuss-Sitzungen zur gleichen
Zeit stattfinden zu lassen. Laut Geschäftsordnung des Bundestages
braucht das Parlament zur Beschlussfähigkeit die Anwesenheit von
mindestens 50 Prozent der Abgeordneten. Gottlob wird aber nur
nachgezählt, wenn man es aus dem Saal heraus verlangt, sonst gäbe es zum
Beispiel kein Netzwerksdurchsetzungsgesetz. In jedem anderen Falle wird
– wider besseres Wissen – von der Beschlussfähigkeit ausgegangen. Das
haben die rechtspopulistischen Spielverderber als erstes der
Öffentlichkeit vorgeführt.
Während im meistens gähnend leeren
Parlament – "Bei seinem Anblick gähnte der Abgrund wirklich" (Johannes
Gross) – immerhin noch Redner so taten, als debattiere das Hohe Haus
über seine Gesetzesentwürfe und Beschlüsse, fanden sich die meisten
Ausschüsse nur noch zum Abnicken und Durchwinken zusammen. Der
"Ausschuss für Angelegenheiten der EU" etwa, in dem seit kurzem auch ein
AfD-Mann sitzt, soll eigentlich eine ziemlich wichtige Funktion
erfüllen, nämlich die Kontrolle der supranationalen Brüsseler
Entscheidungen durch das deutsche Parlament. Der Ausschuss ist überdies
ermächtigt, die Rechte des Bundestages gemäß Art 23 GG gegenüber der
Bundesregierung wahrzunehmen.
Soweit die demokratische Theorie. In
der korrumpierten Realität stehen die Dinge anders. Diskussionen,
Kritik an einzelnen Punkten, Vorschläge, Fragen – all das findet nicht
statt. Als das neue Ausschussmitglied sich erkundigte, warum nicht,
reagierten die "schon länger" (Merkel) dort Herumsitzenden gereizt. Das sei eben
so. Man kann es ja verstehen. Die Unterlagen umfassen oft hunderte
Seiten und behandeln hochkomplexe, aber auch hochlangweilige
Zusammenhänge. Änderungswünsche an Tagesordnungspunkten können bis
Donnerstag der Vorwoche eingereicht werden, praktischerweise trifft die
Tagesordnung auch oft erst am Donnerstag bei den Ausschussmitgliedern
ein. Die letzte enthielt 79 Datensätze mit je 80 Seiten Text. Wer soll
das alles lesen? Außerdem: Die EU, die EU, die hat im–mer Recht! Nun
werden jahrelange eingespielte Routinen der Demokratie-Vortäuschung
durch die dämlichen Rechtspopulisten gestört. Die AfD habe "die
Verlängerung der Sitzung bis über 17.00 hinaus" vorgeschlagen, steht im
Protokoll. Und der Fahrdienst wartet, der Tisch ist reserviert...
Vertrauensvolles
Durchwinken ersetzt nervende Sacharbeit. Wer nach Details fragt und
Prozedere anzweifelt, macht sich unbeliebt. Ähnliches hört man aus dem
Bildungsausschuss. Merkellob berichten die Medien nichts darüber. MK am 27. April 2018
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