Der totgesagte
Sozialismus ist so lebendig wie schon lange nicht mehr – jedenfalls
unter jungen Leuten, die sein historisches Scheitern nicht miterlebt
haben. Denn Sozialismus meint ja Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität,
und wer wollte schon etwas dagegen einzuwenden haben? Laut einer
Umfrage des Gallup-Institutes haben 51 Prozent der jungen Amerikaner
eine positive Sicht des Begriffs Sozialismus, aber nur 45 Prozent sehen
den Kapitalismus in günstigem Licht. Nicht nur Bernie Sanders, auch
andere demokratische Bewerber für das Präsidentschaftsamt bekennen sich
zur sozialistischen Gesellschaftsordnung, zu dieser Idee eines
planwirtschaftlichen Kollektivismus, die aus dem 19. Jahrhundert stammt.
Auch
in europäischen Ländern erlebt der Sozialismus eine für manche
überraschende Renaissance. Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn
bezeichnet sich selbst stolz als Sozialisten. In Deutschland wurde im
vergangenen Jahr der 200. Geburtstag von Karl Marx enthusiastisch
gefeiert, in seiner Geburtsstadt Trier wurde ein überlebensgrosses
Monument des kommunistischen Vordenkers aufgestellt. In Berlin wird
derzeit ein Volksbegehren initiiert, das auf eine Enteignung privater
Immobiliengesellschaften zielt, die mehr als 3000 Wohnungen besitzen,
und der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation, Kevin Kühnert, fragte
bereits herausfordernd, wer einem Menschen das Recht gebe, mehr als 20
Wohnungen zu besitzen.
Vor
einigen Monaten hatte ich eine Debatte mit der in Deutschland bekannten
Kapitalismuskritikerin Ulrike Herrmann. Das Publikum in Tübingen war
erwartungsgemäss überwiegend grün-bildungsbürgerlich. Mein Hinweis
darauf, dass alle Alternativen zum Kapitalismus in den vergangenen 100
Jahren ausnahmslos gescheitert seien, stiess auf verständnisloses
Kopfschütteln.
Kapitalismuskritiker
verstehen nicht, wie jemand auf die historischen Erfahrungen mit
sozialistischen Experimenten verweisen kann, denn, so betonen sie:
Niemand wolle ein System etablieren, wie es in der Sowjetunion und der
DDR geherrscht habe. Alle bisherigen sozialistischen Experimente seien
in Wahrheit gar kein Sozialismus gewesen. Daher dürfe deren Scheitern
nicht als Argument ins Feld geführt werden.
Der
Ökonom Kristian Niemietz vom Institut of Economic Affairs in London
fragt in seinem soeben erschienenen bemerkenswerten Buch «Socialism. The
failed idea that never dies», warum der Sozialismus so attraktiv
bleibe, auch wenn mehr als zwei Dutzend Experimente gescheitert sind.
«Dies liegt daran», so der Autor, «dass es den Sozialisten gelungen ist,
sich von diesen Beispielen zu distanzieren.»
In
seiner historischen Analyse zeigt Niemietz, dass bisher jedes
sozialistische Experiment drei Phasen durchlief: In einer ersten Phase
sind Intellektuelle weltweit begeistert und preisen das System in
höchsten Tönen. Das galt selbst für Massenmörder wie Stalin oder Mao.
Als Stalin 1953 starb, schrieb Bertolt Brecht: «Den Unterdrückten von
fünf Erdteilen, denen, die sich schon befreit haben, und allen, die für
den Weltfrieden kämpfen, muss der Herzschlag gestockt haben, als sie
hörten, Stalin ist tot. Er war die Verkörperung ihrer Hoffnung. Aber die
geistigen und materiellen Waffen, die er herstellte, sind da, und da
ist die Lehre, neue herzustellen.»
Brecht
war kein Aussenseiter unter den Intellektuellen. Führende
Schriftsteller und Denker priesen inbrünstig den sowjetischen Diktator.
Ähnliches galt für Mao Zedong und andere kommunistische Herrscher. Der
amerikanische Soziologe Paul Hollander hat zwei Bücher gefüllt, die
Hunderte Seiten mit Belegen enthalten.
Auf
die Phase des Enthusiasmus, so zeigt Niemietz, folgt stets eine zweite
Phase der Ernüchterung: Das System und seine «Errungenschaften» werden
zwar noch verteidigt, aber nicht mehr unkritisch unterstützt. Mängel
werden zugegeben, aber gerne dem Wirken von kapitalistischen Saboteuren,
ausländischen Kräften oder als Ergebnis des Boykotts durch den
«US-Imperialismus» dargestellt.
Schliesslich
folgt die dritte Phase, in der bestritten wird, dass es sich überhaupt
um eine Form des Sozialismus gehandelt habe. Nun heisst es, das
betreffende Land – beispielsweise die Sowjetunion, China oder Venezuela –
sei in Wahrheit niemals sozialistisch gewesen. Diese Argumentation wird
jedoch selten in der ersten Phase nach Beginn eines neuen
sozialistischen Experimentes vorgetragen, sondern erst nach dem
Scheitern des sozialistischen Experimentes zur herrschenden Sicht.
Zuletzt
waren diese drei Phasen in Venezuela zu beobachten. In der ersten
Phase, nachdem Hugo Chávez 1999 als Präsident gewählt worden war, war
die Begeisterung weltweit gross. Führende Intellektuelle und linke
Politiker priesen Venezuela als Beispiel für den «Sozialismus im
21. Jahrhundert», was schon deshalb verführerisch klang, weil man sich
damit vom traurigen Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert
distanzieren konnte.
Nachdem
der Sozialismus in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten
zusammengebrochen war und sich die Chinesen auf den Weg vom Sozialismus
zum Kapitalismus begeben hatten, fehlte der Linken das Utopia, von dem
sie träumen konnten. Nordkorea und Kuba als einzig verbliebene
kommunistische Staaten eigneten sich dafür nicht so gut. Hugo Chávez
füllte diese Lücke.
Der
europapolitische Sprecher der Linkspartei im Deutschen Bundestag
schwärmte: «Was Chávez macht, ist auch der Weg, in Deutschland die
ökonomischen Probleme zu lösen».
Die Fraktionsvorsitzende der Linken,
Sahra Wagenknecht, pries ihn als «grossen Präsidenten», der mit seinem
ganzen Leben für den «Kampf um Gerechtigkeit und Würde» stand. Chávez
habe bewiesen, dass «ein anderes Wirtschaftsmodell möglich sei».
Noch im August 2015
schrieb Jeremy Corbyn: «In Venezuela ist die bolivarische Revolution in
vollem Gange und liefert Inspiration für einen ganzen Kontinent . . .
Venezuela ist dabei, ernsthaft die Armut zu besiegen, indem es
nachdrücklich die neoliberale Politik der internationalen
Finanzinstitutionen zurückweist. Der Erfolg einer radikalen Politik in
Venezuela wird durch die Unterstützung für die Ärmsten, die Freilegung
von Ressourcen, aber vor allem durch die Bildung und Beteiligung der
Bevölkerung erreicht.»
Auch
in den USA hatte Chávez unter den Linksintellektuellen viele
Bewunderer. Einer ihrer prominentesten Köpfe, der 2016 verstorbene Tom
Hayden, erklärte: «Ich sage voraus, dass der Name von Hugo Chávez von
Millionen verehrt werden wird, je mehr Zeit vergeht.» Ein anderer
tonangebender Linksintellektueller, der Princeton-Professor Cornell
West, bekannte: «Ich liebe es, dass Hugo Chávez die Armut zur obersten
Priorität gemacht hat. Ich wünschte mir, Amerika würde die Armut zur
Priorität machen.»
Und
heute? Nach dem Scheitern des Experiments in Venezuela schwieg man
zunächst betreten. Dann hiess es, schuld daran sei der Boykott der USA,
oder es wurde erklärt, dass Maduro den richtigen Weg von Chávez leider
verlassen habe. Im Übrigen, so lautet auch jetzt wieder das zentrale
Argument, sei Venezuela gar kein sozialistisches Land gewesen und daher
könne das Scheitern nicht als Argument gegen den Sozialismus ins Feld
geführt werden.
Die
Fiktion bleibt, der Sozialismus sei eine gute Idee, die bis jetzt nur
schlecht ausgeführt worden sei. Dies sagte die Mehrheit der Deutschen
übrigens in den 1950er Jahren sogar über den Nationalsozialismus. Der
Trick besteht darin, dass der real existierende Kapitalismus nicht mit
den realen historischen Erfahrungen sozialistischer Experimente
verglichen wird, sondern mit der vagen Utopie einer gerechten,
antikapitalistischen Gesellschaft.
Das
ist genauso fair, wie wenn man seine Ehe nicht mit anderen Ehen
vergleichen würde, sondern mit romantischen Schilderungen in
Groschenromanen aus der Bahnhofsbuchhandlung. Im Vergleich mit
idealisierten Phantasien einer perfekten Welt muss selbst ein so
erfolgreiches System wie der Kapitalismus schlecht abschneiden, das in
den vergangenen Jahrzehnten – vor allem in Asien – über eine Milliarde
Menschen aus bitterer Armut befreit hat. Rainer Zitelmann
Die Politik muss den Mittelstand stärken, um den Kapitalismus zu retten. Saving Capitalism from Capitalists.
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