Stationen

Donnerstag, 30. Mai 2019

Deutschlands geistige Hauptstadt

Zwei Dresdner auf kleinstem Raum: Am Montagabend nach dem Europawahl-Sonntag zwängten sich der Autor Uwe Tellkamp, 50, („Der Turm”) und der Vize-Unionsfraktionschef Arnold Vaatz, 63, hinter ihre Mikrofone im Veranstaltungsraum des Buchhauses Loschwitz am Blauen Wunder. Sie mussten sich deshalb mit so wenig Platz begnügen, weil die Inhaberin des Buchhauses Susanne Dagen die Stuhlreihen schon so dicht wie möglich gestellt hatte, um möglichst viele Besucher unterzubringen. Die Veranstaltung war seit Wochen ausverkauft.
Seit seiner Diskussion im Dresdner Kulturpalast mit dem Dichter Durs Grünbein, also seit März 2018 trat Uwe Tellkamp kaum noch öffentlich auf. Er hatte sich selbst den Rückzug verordnet, nachdem er damals für seine Kritik an der herrschenden Migrationspolitik massiv angegriffen worden war – und auch für seine Feststellung, der „Meinungskorridor“ in Deutschland sei enger geworden. Der Suhrkamp-Verlag, bei dem Tellkamps erfolgreiche Bücher erschienen waren, distanzierte sich damals von seinem Autor, und bestätigte damit Tellkamps Diagnose.
Jetzt also fand sich Tellkamp zum öffentlichen Zwiegespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unions-Bundestagsfraktion Arnold Vaatz ein. Etwas Außenseiterisches haftet allen an, die den Diskussionsabend in Loschwitz möglich machten. Tellkamp gilt, jedenfalls weithin im bundesdeutschen Feuilleton, als ein mit großer Distanz zu behandelnder rechter Autor. Vaatz, der zu DDR-Zeiten wegen seiner Weigerung, NVA-Reservistendienst zu leisten, im Gefängnis saß, gehört zwar zur Führung der Unionsfraktion, aber dort auch zu den völlig isolierten Kritikern des Parteikurses. Und über die Buchhaus-Leiterin, die mehrfach vom Börsenverein ausgezeichnete Susanne Dagen, meinte kürzlich ein Dresdner Kulturaktivist, sie würde am „rechten Rand“ zündeln. Dazu noch das Thema des Abends, „70 Jahre DDR“ –  in dieser Konstellation lag eine Spannung, vor allem von außen betrachtet. In Dresden selbst gehören Veranstaltungen dieser Art mittlerweile zum intellektuellen Stadtklima.
„Siebzig Jahre DDR“, stellte Arnold Vaatz fest, „das ist erst einmal rechnerisch richtig.“ Aus seiner Sicht aber eben nicht nur rechnerisch. Wenn er gefragt werde, wann es wieder Bundestagswahlen gebe, meinte der Politiker, dann antworte er mittlerweile: „Vielleicht dauert die Legislaturperiode demnächst acht Jahre.“ Falls führende Politiker feststellten, das sei eben zum Kampf  für das Gute gegen das Böse und zum Zweck der Weltrettung nötig, dann würde ihn das auch nicht mehr wundern. Natürlich deutet Vaatz die Bundesrepublik des Jahres 2019 nicht als runderneuerte DDR. Aber er hält den Berliner Politikbetrieb wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk für einen mittlerweile „sich aus sich selbst generierenden Apparat“, dessen Vertreter beim Thema Energiewende wie in der Klima- und Migrationsdebatte kaum noch abweichende Meinungen ertrügen. Deshalb, so Vaatz, gehe er schon seit längerem in keine Talkshow mehr: Dort säßen regelmäßig einem Vertreter dieser abweichenden Ansichten fünf Gäste mit nahezu identischen Meinungen des Guten und Richtigen gegenüber. „Und es geht den ganzen Abend nur um die eine Frage an den einen: Warum ketzern Sie?“
Damit war das Thema des Abends gesetzt: das Debattenklima in Deutschland. Vaatz wie Tellkamp halten es für bedrückend, wie fast jedes größere Thema in ein schlichtes Gut-Böse-Schema gedrückt werde. Das blieb auch Rhythmus der Veranstaltung über zwei Stunden lang. Tellkamp fragte eher, seine Redepassagen fielen kürzer aus, zielten aber in eine ähnliche Richtung. Es sei eine „steile Behauptung“, sagte der Autor, ständig von außen zu unterstellen, Sachsen sei isoliert mit seinem Wahlergebnis, vor allem der starken AfD, wenn man sich anschaue, „wie der Rest Europas gewählt hat“. Er diagnostizierte eine Kampfrhetorik der meisten Medien gegen die AfD. Statt zu fragen‚ ‘wo hat die AfD recht?’, und dann ihre Argumente für plausibel zu halten oder ihnen zu widersprechen, sei der Ton in den etablierten Medien von vorn herein hysterisch. Warum, wollte Tellkamp von Vaatz wissen, grenze sich dessen CDU von der AfD so kategorisch ab? Die CDU sei nun einmal seine Partei, er habe die Hoffnung, dass sich die Diskussionslage dort auch wieder ändere, antwortete Vaatz. In den letzten 15 Jahren sei er zwar mit keinem seiner Themen durchgedrungen, weder mit seiner Kritik an der Energiewende, der Euro-Rettungspolitik noch der Migrationspraxis. Aber: „Trotzdem verrate ich meine Familie nicht.“
Mit Pegida verbinde ihn, den Dresdner, nichts, etliche Parolen dort seien ihm fremd. Aber er sehe auch, dass viele Dresdner und Sachsen die schlecht integrierten Einwanderer und die sozialen Spannungen in vielen westdeutschen Großstädten wahrnehmen würden. „Wenn sie sagen: ‚ich will diese Verhältnisse hier nicht, dann halte ich das nicht für ein kritikwürdiges Verhalten.“
Im Gespräch der beiden zeigten sich Differenzen zwischen dem Berufspolitiker und dem parteilosen Autor, aber keine Kontroverse. Darauf war der Abend in Loschwitz auch nicht angelegt. Erstens kennen und schätzen beide einander. Auch Vaatz und Tellkamps Vater, der sich in der Dresdner CDU engagiert, sind gute Bekannte. Eher tasteten sie sich beide an dem Thema „70 Jahre DDR” entlang, um für sich die Frage zu beantworten, wie es kommt, dass sich 30 Jahre nach dem Mauerfall Journalisten wieder für ihre „Haltung“ loben, wie vom politisch-medialen Hauptstrom abweichende Meinungen skandalisiert würden und, die DDR heute von vielen wieder so weich gezeichnet werde, wie es viele westdeutsche Journalisten schon vor 1989 getan hätten. Vaatz erinnerte an die berühmte Reise des ZEIT-Chefredakteurs Theo Sommer 1986 in den SED-Staat.
Der Hamburger fand damals, in der Endzeit des Staates: „Vor allem wirkt das Land bunter, seine Menschen sind fröhlicher geworden“, lobte die wirtschaftliche Dynamik („der Wohnungsbau ist Erich Honeckers ureigenstes Anliegen“). Und fand überhaupt, dass Erich Honecker von den DDR-Insassen „fast so etwas wie stille Verehrung“ entgegengebracht würde. Die westliche Linke, so Vaatz, sei damals in einem „riesigen kollektiven Irrtum“ befangen gewesen, der Zusammenbruch der DDR sei die größte Niederlage der Linken inklusive vieler Medien gewesen. Sie seien damals, „gedemütigt von der Realität“, zwar tief erschüttert gewesen, hätten aber nicht gelernt: „Sie sind heute wieder zu gleichen Fehlurteilen in der Lage.“ In diesem Rückblick auf die gar nicht so entfernte Geschichte spricht sich Vaatz dann doch ziemlich eindeutig für einen anderen Umgang mit der AfD aus. Deren „ständige Verteufelung“ sei absurd, sie habe anders als di SED keine Verbrechen behangen, „die hat keine Menschen eingesperrt, wie es die SED damals getan hat unter dem Beifall der westlichen Linken“.
Vaatz will zur Bundestagswahl 2021 nicht wieder kandidieren. Uwe Tellkamp schreibt gerade an der Fortsetzung seines „Turm“. Am 1. September wählen die Sachsen ein neues Parlament, möglicherweise führt das Ergebnis zur Erschütterung der politischen Landschaft. Trotz der politischen Spannung leistet sich gerade Dresden eine Gelassenheit in der Debatte, die im Westen – dort, wo sich das Juste Milieu gern für Vielfalt lobt – kaum oder viel schwächer existiert. Vor Kurzem diskutierte die Buchhändlerin Susanne Dagen im Lingerschloss in Dresden mit eben jenem Kulturaktivisten, der ihr vorgeworfen hatte, sie würde „am rechten Rand zündeln“. Der Abend verlief kontrovers, aber zivilisiert. In diese Stadtatmosphäre passen auch Vaatz und Tellkamp. Hier an der Elbe gehören sie nicht zu den Außenseitern.
„Einen Aufbruch wie 1989“, sagte Uwe Tellkamp zum Schluss, „können wir gern noch einmal erleben.“
Es liegt tatsächlich ein bisschen von dem Geist wie vor 30 Jahren über der dem Elbtal: Bürger kritisieren, polemisieren, denken vor Publikum nach.
Und immer weniger Leute halten das für einen Skandal.   Dirk Schwarzenberg

Vaaz: Die Kernkraft sei noch lange nicht perdu, im Gegenteil, die Methoden der Wieder- und Weiterverwertung zwischengelagerter Brennstäbe würden immer avancierter, das Atommüllproblem sei technisch bald schon beherrschbar, wovon die Deutschen indirekt profitierten, da ja die Nachbarn, wenn die deutschen Meiler post 2022 endlich abgeschaltet sind, der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, uns ihren Atomstrom zu ihren Konditionen verkaufen könnten.
Seine zweite Bemerkung galt den Minderbrüdern und Barfußschwestern vom Orden des darbenden Weltklimas. Der CDU-Mann versicherte, ja verlangte, eine mit so weitreichenden Eingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft operierende Politik wie jene der Energiewende sowie der Kampf gegen das teuflische Kohlendioxid müsse normalerweise unter enormen wissenschaftlichen Falsifikationsdruck gestellt werden, denn sei der Weg erst einmal eingeschlagen und entpuppe sich als ein von falschen Prämissen ausgehender Irrweg, werde der Schaden gen Unermesslich abschwirren.
Bekanntlich passiert das Gegenteil, das Geld fließt fast ausschließlich in die Taschen derjenigen Wissenschaftler und Institute, die dem grünen Zeitgeist nach dem Mund reden, und Forscher, die zu anderen Erkenntnissen gelangt sind, werden von der Inquisition 2.0 als Leugner, Ketzer und Satansbraten bepöbelt und stracks exkludiert.
 Wer eine Brücke baue, die auf zehn Tonnen Last auslegt sei, führte Vaatz aus, der lasse einen Fünfzehntonner probehalber darüber fahren, um ihr mehr aufzubürden, als sie je tragen müsse, denn: Sicher ist sicher. Unsere, um im Bilde zu bleiben, Notbrücke über die Klüfte des CO2-Ausstoßes in die Zukunft des geretteten Klimas wird zwar unter großem Brimborium und endlosen Notwendigkeitsbekundungen errichtet, aber niemand prüft ernstlich, ob sie wirklich trägt.

Dass dies so sei, bemerkte Vaatz, demonstriere nach seiner Ansicht vor allem die enorme Unsicherheit der Retter über die Stichhaltigkeit ihrer eigenen Doktrin. (Freilich: Es glaubt auch kein Protestantenfunktionär mehr an jenen Gott, dem zu dienen er fingiert, und der Herr nährt sie alle via Kirchensteuer doch.)
Wieder einmal spielt die deutsche Führung va banque. Aber dieses Motiv, geneigter Leser, kennen Sie längst zur Genüge.
Und eine weitere Feststellung des achtbaren Herrn Vaatz sei hier ebenfalls in der Auslage platziert. Die westdeutschen Linken, so der DDR-Bürgerrechtler, hätten 1989 mit der deutschen Wiedervereinigung, die in ihren Heilsplänen nicht vorgesehen war, eine schwere narzisstische Kränkung erlebt, die Geschichte hatte eine Volte geschlagen, die für sie unvorstellbar war und von Kräften bewerkstelligt wurde, die für einen strammen Linken mausetot zu sein hatten. Die Linken standen damals auf der falschen Seite – und jetzt lägen sie mit ihren Plänen neuerlich falsch, ob bei der Weltklimapanik, der Migrationsbeschleunigung oder der Idee, aus den europäischen Nationen die Vereinigten Staaten von Europa zu modellieren. Die nächste schwere narzisstische Kränkung droht, einstweilen noch durch ein Gebet an oder mit Greta therapierbar. Aber diese Droge wird sich erschöpfen. Und was dann kommt, kennen wir ja: Wut, Hass und Hetze.

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