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Mittwoch, 22. Mai 2019

Politik und Moral am Beispiel Liechtensteins im Mai 1945

Die politische Krise in Österreich enthüllt einen erschreckenden Mangel an Anstand, Fairness und Klugheit. Von Liechtenstein könnten wir da einiges lernen.
Vorige Woche war an dieser Stelle von einem absoluten Tiefpunkt der politischen Moral die Rede gewesen, von der Auslieferung von Millionen Flüchtlingen und Kriegsgefangenen durch die Alliierten an die Mordmaschinerien Stalins und Titos im Frühjahr 1945. Mehrere europäische Länder, auch das neutrale, sozialdemokratisch regierte Schweden, beteiligten sich an diesem Verbrechen. Doch das Fürstentum Liechtenstein widersetzte sich und erteilte der Welt eine Lektion in politischer Moral.
Auf der Flucht vor der Roten Armee hatten sich 500 Russen, unter ihnen 30 Frauen und zwei Kinder, von Polen bis Vorarlberg durchgeschlagen. Sie hatten in der Ersten Russischen Armee für die deutsche Wehrmacht gekämpft. In Liechtenstein ließen sie sich widerstandslos von der Polizei entwaffnen und in ein Internierungslager bringen. Fürst Franz-Josef II. gewährte ihnen Asyl. Unter den Russen sprach sich rasch herum, welches Schicksal ihnen im Falle einer Auslieferung drohte. Die Angst, am Ende auch in Liechtenstein nicht sicher zu sein, vielleicht auch Heimweh, verleitete zweihundert von ihnen, sich gegenüber einer nach Vaduz entsandten sowjetischen Repatriierungskommission zur freiwilligen Rückkehr zu verpflichten. Die übrigen blieben, bis sich Argentinien bereitfand, sie aufzunehmen, und sie im Herbst 1947 die Reise nach Buenos Aires antreten konnten.
Zu Kriegsende hatte Liechtenstein wenig mehr als 12 000 Einwohner, der jährliche Staatshaushalt betrug nur zwei Millionen Schweizer Franken. Trotzdem gab das Fürstentum zwei Jahre lang 30.000 Franken monatlich für den Unterhalt der Russen aus. Darüber hinaus finanzierte es ihre Auswanderung nach Argentinien, was fast eine halbe Million Schweizer Franken kostete. Die Liechtensteiner ertrugen die Belastungen in den auch für sie schwierigen Zeiten ohne Murren, weil sie es für ihre selbstverständliche Pflicht hielten, den in Not geratenen Menschen zu helfen. In einer Welt, die aus den Fugen geraten war, bewiesen sie Mut, Anstand und Fairness.
Jedes gesunde Gemeinwesen benötigt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Moral und Politik, eine nicht kodifizierte, stille Verfassung, die das Handeln wirksamer regelt, als das durch Gesetze allein möglich ist. Es muss einen Konsens darüber geben, was noch geht und was nicht mehr geht. In Österreich scheint dieser moralische Kompass abhanden gekommen zu sein.
Es kommt nicht oft vor, dass das politisch-mediale Establishment einen so tiefen Einblick in die eigene Verkommenheit gewährt wie in diesen Tagen. Man weiß gar nicht, was einen mehr anwidert: die im Ibiza-Video dokumentierte Gier, Eitelkeit und Arroganz der in die Falle gelockten Spitzenpolitiker, oder die Leichtfertigkeit, mit der sich deutsche und österreichische Journalisten für eine Intrige einspannen ließen, die aufs Haar denen gleicht, mit denen autoritäre Regierungen in Russland und anderswo gegen Dissidenten vorgehen.
Obwohl heimliche Aufzeichnungen sowie deren Weitergabe verboten sind, wird diese eklatante Gesetzesverletzung fast wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Die journalistische Leistung, die von den daran beteiligten Medien erbracht wurde, beschränkte sich darauf, ein Video zu veröffentlichen, das ihnen irgend jemand zugespielt hatte. Der österreichische Bundespräsident bescheinigte ihnen dennoch, als „vierte Macht“ hätten sie „ihre Verantwortung voll wahrgenommen“.
Wieder einmal heiligt der Zweck die Mittel. Wenn es um den Kampf gegen rechts geht, greifen die, die sich als Hüter der Moral aufspielen, bedenkenlos zu Methoden, die denen ähneln, die sie zu bekämpfen vorgeben. Dabei müsste es eigentlich klar sein, dass die Einmischungen mafioser Banden und Geheimdienste in Wahlkämpfe eine weitaus größere Gefahr für die Demokratie darstellen als die dummdreisten Anmaßungen und Prahlereien besoffener Politiker.   Karl-Peter Schwarz

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