Die politische Krise in Österreich enthüllt einen erschreckenden
Mangel an Anstand, Fairness und Klugheit. Von Liechtenstein könnten wir
da einiges lernen.
Vorige Woche war an dieser Stelle von einem absoluten Tiefpunkt der politischen Moral die Rede gewesen, von der
Auslieferung von Millionen Flüchtlingen und Kriegsgefangenen durch die
Alliierten an die Mordmaschinerien Stalins und Titos im Frühjahr 1945.
Mehrere europäische Länder, auch das neutrale, sozialdemokratisch
regierte Schweden, beteiligten sich an diesem Verbrechen. Doch das
Fürstentum Liechtenstein widersetzte sich und erteilte der Welt eine
Lektion in politischer Moral.
Auf der Flucht vor der Roten Armee
hatten sich 500 Russen, unter ihnen 30 Frauen und zwei Kinder, von Polen
bis Vorarlberg durchgeschlagen. Sie hatten in der Ersten Russischen
Armee für die deutsche Wehrmacht gekämpft. In Liechtenstein ließen sie
sich widerstandslos von der Polizei entwaffnen und in ein
Internierungslager bringen. Fürst Franz-Josef II. gewährte ihnen Asyl.
Unter den Russen sprach sich rasch herum, welches Schicksal ihnen im
Falle einer Auslieferung drohte. Die Angst, am Ende auch in
Liechtenstein nicht sicher zu sein, vielleicht auch Heimweh, verleitete
zweihundert von ihnen, sich gegenüber einer nach Vaduz entsandten
sowjetischen Repatriierungskommission zur freiwilligen Rückkehr zu
verpflichten. Die übrigen blieben, bis sich Argentinien bereitfand, sie
aufzunehmen, und sie im Herbst 1947 die Reise nach Buenos Aires antreten
konnten.
Zu Kriegsende hatte Liechtenstein wenig mehr als 12 000
Einwohner, der jährliche Staatshaushalt betrug nur zwei Millionen
Schweizer Franken. Trotzdem gab das Fürstentum zwei Jahre lang 30.000
Franken monatlich für den Unterhalt der Russen aus. Darüber hinaus
finanzierte es ihre Auswanderung nach Argentinien, was fast eine halbe
Million Schweizer Franken kostete. Die Liechtensteiner ertrugen die
Belastungen in den auch für sie schwierigen Zeiten ohne Murren, weil sie
es für ihre selbstverständliche Pflicht hielten, den in Not geratenen
Menschen zu helfen. In einer Welt, die aus den Fugen geraten war,
bewiesen sie Mut, Anstand und Fairness.
Jedes gesunde Gemeinwesen
benötigt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Moral und Politik, eine
nicht kodifizierte, stille Verfassung, die das Handeln wirksamer regelt,
als das durch Gesetze allein möglich ist. Es muss einen Konsens darüber
geben, was noch geht und was nicht mehr geht. In Österreich scheint
dieser moralische Kompass abhanden gekommen zu sein.
Es kommt nicht
oft vor, dass das politisch-mediale Establishment einen so tiefen
Einblick in die eigene Verkommenheit gewährt wie in diesen Tagen. Man
weiß gar nicht, was einen mehr anwidert: die im Ibiza-Video
dokumentierte Gier, Eitelkeit und Arroganz der in die Falle gelockten
Spitzenpolitiker, oder die Leichtfertigkeit, mit der sich deutsche und
österreichische Journalisten für eine Intrige einspannen ließen, die
aufs Haar denen gleicht, mit denen autoritäre Regierungen in Russland
und anderswo gegen Dissidenten vorgehen.
Obwohl heimliche
Aufzeichnungen sowie deren Weitergabe verboten sind, wird diese
eklatante Gesetzesverletzung fast wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Die
journalistische Leistung, die von den daran beteiligten Medien erbracht
wurde, beschränkte sich darauf, ein Video zu veröffentlichen, das ihnen
irgend jemand zugespielt hatte. Der österreichische Bundespräsident
bescheinigte ihnen dennoch, als „vierte Macht“ hätten sie „ihre
Verantwortung voll wahrgenommen“.
Wieder einmal heiligt der Zweck
die Mittel. Wenn es um den Kampf gegen rechts geht, greifen die, die
sich als Hüter der Moral aufspielen, bedenkenlos zu Methoden, die denen
ähneln, die sie zu bekämpfen vorgeben. Dabei müsste es eigentlich klar
sein, dass die Einmischungen mafioser Banden und Geheimdienste in
Wahlkämpfe eine weitaus größere Gefahr für die Demokratie darstellen als
die dummdreisten Anmaßungen und Prahlereien besoffener Politiker. Karl-Peter Schwarz
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