Stationen

Montag, 6. Dezember 2021

Der verleugnete Widerstand

"Wenn die Gegenwart über die Vergangenheit zu Gericht sitzen will, wird die Zukunft verlieren". W. Churchill
 
Die existenzielle Frage nach „dem Einen, was nottut“, ist die in jeder geschichtlichen Lage entscheidende politische Frage. Sie weist allen anderen Fragen und Problemen ihren relativen Stellenwert zu, erst in ihrem Licht erhalten sie Bedeutung und Kontur. Die Antwort auf sie bestimmt das politische Fundamentalverhältnis überhaupt, die Unterscheidung von Freund und Feind – sie ist der Spiegel der Frage nach dem Feind, angesichts dessen es sonst nur Freunde, Gegner oder Gleichgültige gibt. In der Erkenntnis „des Einen, was nottut“, erweist sich die historische Wahrheit einer politischen Position, oft erst Jahrzehnte nach ihrem Untergang.
Gottfried-Karl Kindermanns Buch: „Österreich gegen Hitler. Europas erste Abwehrfront 1933 – 1938“ beschreibt eine Zeit der Extreme, in der es in Österreich ums Ganze ging: um die Existenz des Staates selber. In ganz Mitteleuropa war es eine Zeit des Elends und der Not, der Ängste, Verbitterungen und Visionen, und den Wenigsten war klar, wo der Feind stand. In Österreich war es eine Zeit klerikaler Diktatur und unterdrückter sozialistischer Träume. In Deutschland war es die erste Phase der nationalsozialistischen Herrschaft, der Unterminierung Österreichs und der Vorbereitung des Krieges.
 
Heute ist alle Welt sich einig, dass der Nationalsozialismus das absolut Böse war, durch seinen mörderischen Rassismus buchstäblich der Feind des Menschengeschlechts selber, in Praxis und Programm, das von Anbeginn vor aller Augen lag, und dass „das Eine, was nottat“, seine Abwehr und Vernichtung war. Gegen Hitler koalierte die freie Welt schließlich sogar mit Stalin – aber erst lange nachdem das Reich expansiv geworden war und das staatliche Machtgefüge Europas bedrohte, nicht aus humanitären oder moralischen Gründen. Erst der Überfall auf Polen veranlasste den „Westen“ zum Handeln, bis dahin versuchte man es mit Beschwichtigung, die Annexion Österreichs, in seiner republikanischen Kleinform eigenes Produkt der Siegermächte von 1918, hatte man ebenso hingenommen wie den inneren Terror und die Rassengesetze, ja die Berliner Olympiade, zu deren Boykott Österreich aufgerufen hatte, wurde ein Jahr nach den Nürnberger Gesetzen ein internationaler Propagandaerfolg des Regimes. Man hat das Eine, was nottat, lange nicht erkannt. Das Münchener Abkommen, das durch Kniefälligkeit und territoriale Opfer, die andere zu bringen hatten, „peace in our time“ bringen sollte, war höchster Ausdruck und letzte Konsequenz dieser moralisch und kognitiv erbärmlichen Haltung. Heute gilt es als Sinnbild verfehlter Appeasementpolitik und wird oft genug umgekehrt zur Legitimation eines abenteuernden Interventionismus missbraucht. 
 
In schroffem Gegensatz zu den westlichen Demokratien hatte die autoritäre Regierung Österreichs von Anfang an und bis zu ihrem gewaltförmigen Ende eine konsequente und militante Abwehrfront gegen die nazistische Bedrohung gehalten – allein und ohne Verbündete, militärisch und wirtschaftlich schwach, auf nationalpolitisch schwankendem Boden. Bei all ihren innenpolitischen Verfehlungen, die daran gemessen zweiten Ranges sind und ihrerseits Produkt einer Bürgerkriegsstimmung waren, handelte sie unter dem Diktat „des Einen, was nottat“: Sie war die erste Regierung Europas, welche die Nazipartei gesetzlich verbot und die Aktivitäten der „Illegalen“ energisch bekämpfte, Dollfuß, der sie als Kanzler eine „Verbrecherbande“ nannte, war der erste und blieb der einzige von den Nazis ermordete Regierungschef, aber der Putschversuch vom Juli 1934 wurde abgewehrt, der von Berlin gesteuerte Terror ertragen, das Heer blieb loyal bei den Kämpfen in den Ländern. So wurde Hitler die erste Niederlage beigebracht; es sollte die einzige bleiben bis Stalingrad. 
Die Stoßrichtung der in die „Vaterländische Front“ integrierten „Heimwehr“ Starhembergs, eines patriotischen Condottiere, der sich selbst als „Austrofaschist“ nach italienischem Muster verstand, war nach dem Verbot der staatspolitisch, also in der Nationalitäts- und Souveränitätsfrage, durchaus unverlässlichen Sozialdemokratie eindeutig und scharf gegen nazistische Insurgenten und gegen die deutsche Bedrohung gerichtet. Und diese harte Abwehrpolitik war durchaus erfolgreich in einer Zeit, als Großbritannien mit dem Reich ein Flottenabkommen schloss und Frankreich die deutsche Aufrüstung und die Remilitarisierung des Rheinlandes widerspruchslos hinnahm. Erst als mit Bildung der Achse infolge des äthiopischen Abenteuers Mussolinis auch noch die Schutzmacht Italien wegfiel, wurde die österreichische Sache zunehmend aussichtslos und der isolierte Staat stand auf verlorenem Posten – aber nicht gegen die „fünfte Kolonne“ im Inneren, sondern gegen die militärische Bedrohung von Außen. 
Gerade weil eine quasi-legale Machtergreifung der Nazis von innen, die Hitler angestrebt hatte, durch die katholisch harte Haltung der Regierung, die Loyalität der Behörden und die Ablehnung des „Anschlusses“ durch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, welche die in äußerster Bedrängnis von Schuschnigg für den 13. März 1938 angesetzte Volksabstimmung bestätigt hätte, unmöglich war (trotz demokratisch-großdeutscher Sehnsüchte der illegalisierten Linken), marschierte die Wehrmacht in den Morgenstunden des 12. März in Österreich ein und die Regierung wich buchstäblich, mit Schuschniggs Worten, „der Gewalt“. 
Nach fünf Jahren erfolgreichen Abwehrkampfes war mit Österreich die erste Bastion gegen das Nazireich gefallen. Schon am 1. April rollte der erste Großtransport politischer Häftlinge nach Dachau. Eineinhalb Jahre später brach, wie vorauszusehen war, der Zweite Weltkrieg aus.
Am Scheitelpunkt des Krieges, am 18. Februar 1942, anerkannte Winston Churchill anlässlich einer Ansprache vor seinem Amtssitz in Downing Street 10 in Gegenwart des letzten österreichischen Gesandten in London die Tatsache der gewaltsamen Annexion mit den Worten: „We can never forget in this island that Austria was the first victim of nazi aggression.“ Er traf damit als britischer Kriegspremier eine Feststellung, welche über ihre Bestätigung in der Moskauer Deklaration die staatspolitische Vorraussetzung zur Errichtung der Zweiten Republik werden sollte.
 
Inzwischen wurde die Geschichte umgeschrieben. Denn als Bundeskanzler Schüssel am 9. November 2000 in einem Interview mit der „Jerusalem Post“ trocken und korrekt erklärte: „The souvereign state of Austria was literally the first victim of the nazi regime...They took Austria by force“, da musste er sich nicht nur von der israelischen, sondern auch von Teilen der österreichischen Presse und von der parlamentarischen Opposition Geschichtsfälschung vorwerfen lassen. Die verquere Weltsicht, aus der heraus dieser Vorwurf erhoben wurde, ist das Produkt einer interessensgesteuerten „Aufarbeitungs“-Debatte, die spätestens seit der Verleumdungskampagne gegen Waldheim die intellektuelle und politische Atmosphäre des Landes vergiftet. Sie hat sich inzwischen in einem Ausmaß verschlechtert, dass die Lagerbildungen der Ersten Republik sich in karikaturhafter Weise zu wiederholen drohen. Tatsächlich ist es nicht nur ein Mangel an Redlichkeit, sondern ein schwerer moralischer Defekt neohistoristischer „Aufarbeitung“, die bezeichnenderweise nicht mehr akademisch, sondern kommissarisch betrieben wird und mit der manche Nazikinder ihre persönlichen Familiengeschichten bereinigen, dass jener Widerstand gegen die Nazibarbarei, der über fünf von zwölf Jahren des Dritten Reiches, als ganz Europa Hitler noch diplomatisch hofierte, mit äußerster Energie erfolgreich geführt wurde, aus parteipolitischen Gründen in Österreich bislang nicht die ihm gebührende Würdigung fand: Der ideologische, kulturelle und auch militärische Widerstand des katholischen Ständestaates von 1933/34 bis 1938.
 
Die letztendliche Kapitulation in aussichtsloser Lage und der Anschlussjubel des durchaus minoritären nazistischen Mobs, der nach seiner jahrelangen Fesselung in Österreich natürlich besonders aggressiv war, prägen mit zunehmendem zeitlichen Abstand das Geschichtsbild auch der vorausliegenden Jahre und lassen den heroischen Abwehrkampf zur Rettung des Staates, den die konservative Diktatur geführt hatte, in Vergessenheit geraten. Ja, mehr als das: Sie wird heute von einem ethisch verwahrlosten Moralismus als Vorläufer eben jenes massenmörderischen Terrorregimes denunziert, gegen das sie sich verzweifelt richtete – weil sie das „Eine“ erkannt hatte, „was nottat“. Ihre Gegner taten es nicht. Renner und Bauer begrüßten den Anschluss, aus nationalpolitischen Gründen: Sie wollten Österreich nicht. Was historisch in die Katastrophe führte: die Dominanz von Parteiräson über Staatsräson, ist, wie jüngst erst die Querelen um die „Maßnahmen“ der EU-14 zeigte, in Österreich noch immer virulent und bestimmt auch die Geschichtsschreibung der Ersten Republik. Dabei muss man mit dem damaligen Regime durchaus nicht sympathisieren, um ihm in dieser staatspolitisch entscheidenden Frage zumindest nachträglich Anerkennung zuteil werden zu lassen. 
Genau das, nicht mehr und nicht weniger, ist das Bemühen des großen Buches von Kindermann. Ist es „revisionistisch“? Sicher, denn es ist gegen den Schick des politisch – korrekten Mainstream geschrieben und revidiert die Verfälschungen der Projektschulen eines „kritischen Opportunismus“. Es stellt vor allem die Proportionen klar und die Ereignisse von damals in ein zeitgemäßes Licht. Es ist zu hoffen, dass es manchem Spätideologen eines aufsteckt. Denn heute, da der Wille zur Eigenstaatlichkeit, der damals im Abwehrkampf entwickelt wurde, von allen politischen Lagern geteilt wird; da der politische Katholizismus nur mehr eine rousseausche Zivilreligion ist; da selbst die Legitimisten Republikaner geworden sind, kein ÖVPler mehr einen Ständestaat will und schon gar kein SPler den Sozialismus, sollte es möglich sein, auch dem einstigen Gegner Respekt zu zollen – für seine Erkenntnis „des Einen, was nottat“. Die Schießerei zwischen „Hahnenschwanzlern“ und Schutzbund, deren Pulverdampf noch immer die Köpfe vernebelt, war schließlich wirklich nicht die Tragödie des Jahrhunderts. Die brach erst vier Jahre später herein – aus Deutschland.    Rudolf Burger

Rudolf Burger starb im April dieses Jahres.

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