Stationen

Dienstag, 22. März 2022

Die NZZ interviewte Baberowski im August 2021

Herr Baberowski, steht Deutschland vor einem heißen Herbst?

Historiker geben keine Prognosen ab. Denn sie wissen, dass es immer anders kommt, als man denkt.

Der Eindruck einer gereizten Gesellschaft lässt sich nicht von der Hand weisen.

Niemand weiß, was Menschen wirklich denken. Aber man spürt, dass sich die Atmosphäre im Land mit Aggressionen aufgeladen hat.

Worauf deuten die jüngsten Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum, etwa zur Frage nach der Zulässigkeit und Angemessenheit der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen?

Die Exekutive maßt sich Befugnisse an, die ihr nicht zustehen sollten, und die Freiheit der Bürger wird eingeschränkt. Dagegen regt sich Widerspruch, das sollte niemanden überraschen. Die Akzeptanz staatlicher Bevormundung hängt auch davon ab, ob Bürger sich über die Verhältnismäßigkeit von Verordnungen austauschen können, ohne von den Kritisierten zu Staatsfeinden erklärt zu werden. Manchen erscheint es beispielsweise nicht verhältnismäßig zu sein, anlässlich des Christopher Street Day in Berlin eine Parade zu erlauben und kurz darauf eine Demonstration zu verbieten, deren Teilnehmer gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die Gesundheitspolitik der Regierung protestieren.

Die Demonstration am 1. August wurde aber deshalb verboten, weil deren Teilnehmer es schon vorab darauf angelegt haben sollen, die derzeit geltenden Hygiene- und Abstandsregeln zu missachten, während diese Übertretung sich auf dem CSD gewissermassen spontan ergab.

Dann hätte die Polizei eingreifen und die Parade auflösen müssen. Das ist nicht geschehen. Insofern verfestigt sich der Eindruck, hier werde mit zweierlei Maß gemessen.

Nach der bewussten Berliner Demonstration aus dem «Querdenken»-Umfeld hagelte es von zwei Seiten Kritik: Entweder hieß es, die Polizei habe sich von den Teilnehmern einer verbotenen Demonstration auf der Nase herumtanzen lassen – oder aber, die Polizei sei mit unverhältnismäßiger Härte gegen die Demonstranten vorgegangen.

Die Demonstration war verboten. Daran gibt es keinen Zweifel. Solche Verbote hat es auch früher schon gegeben. Und in all diesen Fällen hatte die Polizei das Recht, Platzverweise zu erteilen und Demonstrationen aufzulösen. In diesem Fall aber wurden 900 von 5000 Demonstranten festgenommen. Die Polizei ging auch mit unnötiger Härte gegen sie vor. Ich kann darin keinen Akt der Verhältnismäßigkeit erkennen. Denn hier marschierten weder Skinheads noch Mitglieder des Schwarzen Blocks auf, die Demonstranten waren nicht einmal bewaffnet.

Um welche Art von Bürgern handelte es sich denn?

Die Demonstranten kamen aus unterschiedlichen sozialen und politischen Milieus: Pietisten und Esoteriker aus der schwäbischen Provinz, radikale Impfverweigerer, Wähler der Grünen, Umweltschützer, möglicherweise auch Rechtsradikale, aber auch Bürger, die an nichts anderem interessiert waren, als ihr Recht auf Versammlungsfreiheit einzufordern. Mein Eindruck: überwiegend Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, wie man so schön sagt. Die Polizei trat in dunklen Uniformen und Helmen auf, die ihre Gesichter verdeckten. Sie sahen aus, als hätte man sie in Rüstungen gesteckt und als wolle man den Bürgern mit dieser Inszenierung zeigen, wer der Herr der Straße ist. Solche Inszenierungen spielen die Polizei des Staates gegen den Bürger aus, machen ihn zum Feind des Staates. Das ist fatal – zumal dann, wenn bei den gewalttätigen Aufmärschen und Übergriffen, die in Berlin sonst zu beobachten sind, gar nichts passiert und die Polizei angewiesen wird, sich in Zurückhaltung zu üben.

Die Polizei berichtet von über 60 Verletzten in den eigenen Reihen. Es waren also nicht nur Unschuldslämmer unter den Demonstranten.

Diese Übergriffe bestreitet niemand. Leider häufen sie sich in letzter Zeit. Für mich sind solche Übergriffe Anzeichen der Verrohung und Respektlosigkeit, aber auch des Ansehensverlustes des Rechtsstaates. Aus dieser Erkenntnis leitet sich aber keine Rechtfertigung ab, die Anliegen von Bürgern mit zweierlei Maß zu messen.

Sie meinen, der rot-rot-grüne Berliner Senat erteilt der Polizei Order, die Linksextremen zu schonen und gegen die «Querdenker» die Muskeln spielen zu lassen?

Das weiß ich nicht. Was in der Rigaer Straße oder im Görlitzer Park in Berlin geschieht, scheint jedenfalls nicht Anlass genug zu sein, gegen Gewalttaten kompromisslos einzuschreiten. Die Polizei müsste stattdessen wieder in die Möglichkeit versetzt werden, ohne Ansehen der Person und ihrer Überzeugungen Rechte zu schützen und Rechtsverstöße zu ahnden.

Als Historiker und Gewaltforscher wissen Sie, auf welchen Wegen autoritäre Gesellschaften entstehen. Wäre eine entfesselte Polizei auf Dauer kompatibel mit dem Rechtsstaat?

Eine offene Gesellschaft und eine militarisierte Polizei passen nicht zusammen. Polizisten, die anonym in Erscheinung treten, deren Gesichter man nicht sieht und die nur noch an den Nummern auf ihrem Rücken identifiziert werden können, werden von den Bürgern nicht mehr als Individuen, schon gar nicht mehr als Freunde und Helfer erkannt. Die Polizisten selbst nehmen sich untereinander als verschworene Gemeinschaft wahr, fühlen sich wie Soldaten im Gefecht. Der Korpsgeist aber erhöht den inneren Druck auf die Polizisten, sich auch so zu verhalten, wie man es von einer Kampfeinheit erwartet. Natürlich müssen sich Polizisten vor Angriffen schützen. Aber wenn sie den Bürgern als eine vermummte und anonyme Mauer von Uniformen entgegentreten, sind sie nicht mehr ansprechbar. Der Verlauf von Konflikten hängt aber wesentlich von Gesten und Ansprachen ab, davon, dass die Kontrahenten einander als Individuen begegnen, die etwas mitteilen wollen und können. Die Militarisierung der Polizei, die sich in allen europäischen Ländern vollzieht, liegt deshalb nicht einmal im Interesse der Polizei selbst.

Sie meinen, der Polizist, der Augenkontakt zu seiner Umgebung hat, hält sich eher zurück?

Ich wurde am 1. August Zeuge eines gewalttätigen Übergriffs durch eine Gruppe vermummter und gepanzerter Polizisten, die die Kontrolle über sich selbst verloren hatten. In der Nähe standen Polizisten in gewöhnlichen Uniformen, mit offenen Gesichtern, die sich den Bürgern als Individuen zu erkennen gaben, ansprechbar waren und sich auch anders verhielten. Die Polizeistrategen sollten darüber nachdenken, ob es nicht auch im Interesse der Polizei wäre, wenn ihre Beamten den Bürgern mit offenem Visier entgegenträten. Denn die meisten Bürger in unserem Land sehen sich nicht als Gegner der Polizei. Und deshalb sollte die Polizei auch nicht auf eine Weise in Erscheinung treten, die den Eindruck erweckt, der Bürger sei der Feind des Staates und müsse bekämpft werden.

Ist eine solche kampfstarke Truppe, wie Sie sie schildern, aber in Großstädten wie Berlin kein probates Mittel, um etwa gegen die organisierte und die Clan-Kriminalität vorzugehen?

Wer die Clan-Kriminalität eindämmen möchte, sollte dafür sorgen, dass kriminelle Geschäfte unterbunden und ihre Hintermänner dingfest gemacht werden. Dafür ist eine bis an die Zähne bewaffnete Polizei ein denkbar ungeeignetes Mittel. Was kann denn ein Sondereinsatzkommando gegen kriminelle Vereinigungen ausrichten, die nicht auf der Straße, sondern im Verborgenen zu Hause sind?

Hat Berlin ein Polizeiproblem? Unlängst haben linke Gruppen Polizisten mit dem Schlachtruf «Ganz Berlin hasst die Polizei» von einem Spielplatz vertrieben.

In diesem Fall ist die Polizei nicht als Aggressor aufgetreten, sondern hat sich von gewalttätigen Linksextremisten vertreiben lassen müssen, ohne dass auch nur ein einziger Angreifer verhaftet worden wäre. Manche Linksextremisten nehmen inzwischen keine Rücksicht mehr auf Leib und Leben von Polizisten. Aber Berlin wird nicht nur von Linksextremisten bewohnt. Die Polizei wird von der Mehrheit der Bevölkerung weder verachtet noch gehasst. Gerade deshalb sollte sie sich nicht in den Dienst der Politik stellen lassen, um das Vertrauen, das ihr von den meisten Bürgern immer noch entgegengebracht wird, nicht aufs Spiel zu setzen. Es sind nicht die Polizisten, die solche Missstimmung zu verantworten haben, sondern Politiker, die glauben, sie könnten die Polizei für ihre politischen Zwecke dienstbar machen, und die nicht wahrnehmen, dass sie damit das Vertrauen zum Rechtsstaat aufs Spiel setzen.

Handelt es sich bei den Teilnehmern an den «Querdenken»-Demonstrationen wirklich um ganz normale Bürger? Sind es nicht auch Rechtsextreme, Antisemiten, Verschwörungstheoretiker?

Diese Bewegung hat kein klar erkennbares Profil, wir wissen nicht einmal, wie viele Menschen sich dieser diffusen Strömung verbunden fühlen. So wie der Bewegung der Gelbwesten in Frankreich gehören auch der «Querdenker»-Bewegung Menschen aus unterschiedlichen Milieus an: Sozialisten, Liberale, Umweltschützer, radikale Impfgegner, Bürgerrechtler, evangelikale Christen und Esoteriker, schließlich auch Rechtsradikale, die auf den Protestzug aufspringen wollen. So steht es um alle Bewegungen, die kein klar definiertes politisches Ziel haben.

Gilt das für alle Seiten des politischen Spektrums?

Wer gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit demonstriert, kann Sozialist oder Liberaler sein, muss aber in Kauf nehmen, dass gewaltbereite Autonome oder geistig verwirrte Trotzkisten sich ihren Demonstrationen anschließen. Niemand käme auf die Idee, in diesem Fall alle Demonstranten zu Linksextremisten zu erklären und der Polizei die Anweisung zu erteilen, auf sie einzuprügeln. Das Demonstrationsrecht ist ein teures und bewahrenswertes Gut, das keinerlei politischer Gesinnungsprüfung unterliegen sollte. Es geht stets nur darum, ob Bürger gegen Recht und Gesetz verstoßen oder nicht, und nicht darum, welche Auffassungen vom Leben sie teilen.

Wie ließe sich die offenbar chronisch gewordene Gereiztheit der Gesellschaft überwinden?

Die offene Gesellschaft und der liberale Rechtsstaat leben von der Voraussetzung, dass der Frieden jederzeit erzwingbar ist, weil nur so die Verschiedenen miteinander koexistieren können, unabhängig davon, wer sie sind und was sie glauben. Aber diese Voraussetzung wird erschüttert, wenn Recht und Ordnung in den Dienst von politischen Programmen und Zielen gestellt werden, wenn Parteien ihre partikularen Interessen zu Anliegen des Staates erklären. Es wäre das Ende der Polizei, so wie wir sie kennen und schätzen, wenn sie als verlängerter Arm politischer Strategen wahrgenommen werden würde. Sie muss Recht und Ordnung ohne Ansehen der Personen und ihrer Weltanschauungen schützen.

Was folgt daraus für die Gesamtgesellschaft?

Wir müssen endlich damit aufhören, Menschen, die unseren Auffassungen nicht folgen mögen, als innere Feinde zu stigmatisieren. Wir müssen wieder lernen, dass die Verschiedenen ein Recht darauf haben, als Verschiedene in der Welt zu sein, damit sich am Ende der geistige nicht in einen wirklichen Bürgerkrieg verwandelt.   NZZ

 

 Sehr bedauerlich ist, dass die NNZ nicht gefragt hat, wer die politische Verantwortung für den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz zu verantworten hat.

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